Die in dieser Hinsicht bestimmt nicht zimperliche Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) urteilte bereits im Jahr 2003 über das westliche Besatzungsregime in Bosnien-Herzegowina: „Zwischen dem Amtsverständnis der internationalen Verwaltung in Bosnien-Herzegowina und jenem der Beamten der britischen East India Company im frühen 19. Jahrhundert bestehen verblüffende Ähnlichkeiten.“ (FAZ, 25.7.2003). Dieser „Hohe Repräsentant“ der westlichen Staatengemeinschaft, der von der EU bestimmt wird, hat volle Exekutivrechte: Er kann Parteien auflösen, Wahlergebnisse annullieren, gewählte Präsidenten, Regierungschefs, und Bürgermeister abberufen, Richter entlassen, Gesetze oktroyieren und neue Behörden schaffen. Auch die Zentralstellen der Wirtschaftspolitik sind fest in der Hand der Besatzer: Der Präsident der bosnischen Zentralbank wird von Internationalen Währungsfond bestimmt und darf weder ein Bürger Bosnien-Herzegowinas noch eines der Nachbarstaaten sein. So schaut „Demokratieexport“ a’ la EU aus.
Neoliberale Zurichtung
Nach Wolfgang Petritsch (1999-2002) bekleidet seit 2009 mit Valentin Inzko zum zweiten Mal ein Österreicher die Position dieses obersten Kolonialverwalters. Das militärische Rückgrat dieser Kolonialverwaltung stellt die seit 2004 von der EU geleitete Militärmission „Althea“ dar. Auch hier sind Österreicher im Kommen. Seit 2009 wird die Kolonialtruppe durchgängig von österreichischen Offizieren kommandiert, das österreichische Bundesheer stellt mit rd. 200 Mann/Frau das größte Kontingent der EUFOR-Truppe.
Was sind die Ziele, des von Valentin Inzko präsidierten „Protektorats“ in Bosnien? Auskunft darüber gibt zum Beispiel ein Blick in das Assoziierungs- und Stabilisierungsabkommen, das die EU 2008 mit Bosnien „abgeschlossen“ hat. Dort verpflichtet sich Bosnien unter anderem zu:
- „freiem Waren-, Kapital- und Dienstleistungsverkehr“
- „Beschleunigung des Privatisierungsprozesses"
- „Abbau starrer Strukturen, die den Arbeitsmarkt beeinträchtigen, insbesondere in den Bereichen Arbeitsbesteuerung, Höhe der Sozialtransfers und Lohngestaltungsmechanismen.“
(Assoziiizerungs- und Stabilisierungsabkommen der EU mit Bosnien-Herzegowina, 16.06.2008)
58% Jugendarbeitslosigkeit
Es geht letztlich um eine neoliberale Zurichtung für die Konzerne der EU-Zentrumsländer. Der Bankenbereich ist bereits zu 90% privatisiert und wird nicht zuletzt von österreichischen Banken kontrolliert. Die EU-oktroyierte Freihandelspolitik hat zu einem enormen Leistungsbilanzdefizit geführt, das fast 10% des BIP ausmacht. Die Transfers und Kredite der „westlichen Staatengemeinschaft“ landen damit umgehend wieder auf den Konten westlicher, vor allem deutscher Konzerne. Über 44% der Menschen sind arbeitslos (Quelle: Deutsches Außenamt), die Jugendarbeitslosigkeit beträgt horrende 58% (Quelle: Österr. Entwicklungszusammenarbeit), ein Fünftel lebt in eklatanter Armut, viele müssen hungern. Die EU-Kolonialverwaltung betreibt eine mafiotische Privatisierungspolitik, die wenige reich gemacht und viele Industriebetriebe in den Ruin getrieben hat. In Tuzla, einst Zentrum der Chemieindustrie, stehen 80.000 Beschäftigten bereits 100.000 Arbeitslose gegenüber. Salih Foco, Philosophieprofessor in Sarajevo: „Das war keine Privatisierung (der Staatsbetriebe), sondern ein Diebstahl von Eigentum des Staates, der Gesellschaft und der Arbeiter. In den letzten 20 Jahren haben sich Wut und Aufruhr sowie eine große soziale Unzufriedenheit angehäuft“. Der Dekan der Fakultät für Politische Wissenschaften, Sacir Filandra unterstreicht das: „Die Existenz der Bevölkerungsmehrheit ist so bedroht, dass die Menschen um ihr biologisches Überleben kämpfen“ (zit. nach Huffington Post, 11.2.2014). Das ist der Nährboden für den sozialen Unmut, der nun hochkocht.Unselige Kontinuitäten
Valentin Inzko hat in den letzten Tagen offen mit dem Einsatz von EU-Truppen gegen die sozialen Aufstände in Bosnien-Herzegowina gedroht. Dass 100 Jahre nach Ausbruch des 1. Weltkriegs ein österreichischer Kolonialverwalter von EU-Gnaden den Einsatz von Militär gegen Arbeitslosen- und Hungeraufstände am Balkan in den Raum stellt, zeigt wieder einmal zweierlei:
- Die EU ist kein „Friedensprojekt“, vielmehr löst gerade ihre neoliberale und neokoloniale Politik immer wieder Krieg und Gewalt aus bzw. setzt sie diese Politik mit Krieg und Gewalt durch. Zur Erinnerung: Mit folgenden Staaten an der „europäischen Peripherie“ konnte man in Bezug auf Freihandel, also die unbeschränkte Öffnung der Märkte für westliche Konzerne, nicht „freiwillig“ handelseins werden: BR Jugoslawien, Libyen, Syrien und Ukraine. Eine Blutspur direkter bzw. indirekter westlicher Interventionen zieht sich durch diese Länder. In letzterem bedient man sich derzeit faschistischer Schlägertrupps, um das neoliberale Assoziierungsabkommen mit der EU doch noch zu erzwingen. Dort wo diese Freihandelspolitik ungehindert durchgesetzt worden ist – wie etwa am Balkan – breiten sich Zonen sozialen Elends aus.
- Österreich marschiert im Rahmen der EU in die unseligsten Kapitel seiner Vergangenheit zurück. Die österreichische Außenpolitik hat in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts - im Schlepptau Berlins - maßgeblich zur Zerstörung Jugoslawiens beigetragen. Ziehen nun – punktgenau zum historischen Jubiläum 1914–2014 - österreichische EUFOR-Soldaten wieder den Abzugshahn, um für Friedhofsruhe im südosteuropäischen „Hinterhof“ am Balkan zu sorgen? Wenn es um die Entsendung österreichischer Truppen nach Bosnien und Kosovo geht, kennt das österreichische Parlament keine Parteien mehr, sondern nur mehr „Europäer“. Jedes Jahr aufs Neue stimmen rot und schwarz, grün und blau einmütig für die Verlängerung der Teilnahme Österreichs an den Besatzungsmission in Bosnien-Herzegowina und Kosovo.
Auf Augenhöhe
Gerald Oberansmayr, Aktivist der Solidarwerktatt, wiederholt angesichts der derzeitigen sozialen Unruhen in Bosnien-Herzegowina die langjährige Position der Solidarwerkstatt: „Wir fordern den Rückzug der österreichischen Soldaten und Soldatinnen von den EU-/NATO-Kolonialmissionen am Balkan. Die Länder und Völker dieses Raumes werden erst dann wieder eine Chance auf wirtschaftliche Entwicklung und politische Selbstbestimmung haben, wenn sie sich aus der kolonialen Bevormundung durch die EU und vom ethnischen Hader befreien können. Beides ist untrennbar miteinander verbunden. Umgekehrt gilt auch für Österreich: Erst der Ausstieg aus der EU-Militärpolitik und die Abkoppelung von der Berliner Außenpolitik kann wieder Spielraum für eine weltoffene Außenpolitik eröffnen, die den Nachbarn im Südosten auf Augenhöhe und nicht als Kolonialherren begegnet.“
(12.2.2014)