Der Boulevard hat Schaum vor dem Mund, Politanalysten bekommen Schnappatmung, Partei“freunde“ sind außer sich. Was ist geschehen? Andreas Babler, Aspirant für den SPÖ-Parteivorsitz, hat vor geraumer Zeit einige kluge und richtige Aussagen über die EU getätigt, die niemand sagen darf, der/die politisch etwas werden will. Da Babler nun etwas werden will und deshalb vor lauter Distanzieren von seiner Vergangenheit seine damaligen Aussagen nicht mehr verteidigen mag, wollen wir dem früheren Babler zur Seite stehen.


Welche unerhörten Worte hat Babler in einem Interview im Jahr 2020 gesagt? Er fände „diese EU überhaupt nicht leiwand“ und bezeichnete die EU als „das aggressivste außenpolitische militärische Bündnis, das es je gegeben hat, mit Beistandsverpflichtungen … also schlimmer als was die Nato vorgegeben hat sozusagen in der Doktrin. … Wenn wir uns das anschauen, was da alles passiert ist, mit den Maastricht-Kriterien, und was dann das Dogma war, das Neoliberale in der EU. In der Sozialdemokratie …, da warst ja ein böser Mensch, wenn du nicht für die EU warst, weil die bringt Frieden – ein Scheißargument.“

Das sind sicherlich kantige Worte, doch jederzeit durch Fakten belegbar. Einige Stichworte dazu:

„Schlimmer als was die NATO vorgegeben hat“

Die Verfassung der EU ist tatsächlich militaristischer und aggressiver als der Nato-Vertrag:

  • So findet sich im EU-Vertrag eine permanente Aufrüstungsverpflichtung für alle Mitgliedsstaaten (EU-Vertrag, Art. 42, Abs. 3), die seit 2018 durch die „Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ (EU-SSZ/Pesco) zusätzlich mit Zähnen versehen wurde. Eine Aufrüstungspolitik gibt es in vielen Staaten, aber weltweit einzigartig dürfte sein, dass die EU die Pflicht zur militärischen Aufrüstung in den Beton der Verfassung gegossen hat.
  • Im EU-Primärrecht findet sich auch die Selbstermächtigung des EU-Rats zu weltweiten Kriegseinsätzen – auch ohne Mandat des UNO-Sicherheitsrates (EU-Vertrag, Art. 43). Also die Bereitschaft zur Selbstmandatierung zu völkerrechtlichen Kriegen.
  • Die Beistandsverpflichtung (EU-Vertrag, Art. 42, Abs. 7) ist ebenfalls härter als die des NATO-Vertrages, weil sie bedingungslos militärischen Beistand einfordert. Über die sog. „Irische Klausel“ kann sie für einzelne Mitgliedsstaaten, z.B. Neutrale, bestenfalls auf die Härte der NATO-Beistandsverpflichtung gesenkt werden (è Link), keinesfalls aber darunter.
  • Ebenfalls härter als im NATO-Vertrag ist die sog. „EU-Solidaritätsklausel, die zum militärischem Beistand auch bei sog. „Katastrophen menschlichen Ursprungs“ verpflichtet (AEUV, Art. 222). Damit sind laut EU-Rat auch „schwerwiegende Auswirkungen auf Vermögenswerte“ (Beschluss EU-Rat, 24.6.2014) gemeint: die Ausrufung einer militärische Bestandsverpflichtung zur Niederschlagung großflächiger Streiks bzw. sozialer Proteste ist damit keineswegs ausgeschlossen. Diese autoritäre Rute stellte übrigens der damalige EU-Kommissionspräsident Barroso 2010 den südeuropäischen EU-Staaten bereits unmissverständlich ins Fenster: So berichtete der frühere Chef des britischen Gewerkschaftsdachverbandes und Vorsitzender des Europäischen Gewerkschaftsbundes John Monks über ein Gespräch mit Barroso im Jahr 2010: “Ich hatte eine Diskussion mit Barroso letzten Freitag darüber, was für Griechenland, Spanien und Portugal und den Rest getan werden könnte. Seine Botschaft war unverblümt: ‚Schaut, wenn sie nicht diese Sparpakete ausführen, könnten diese Ländern tatsächlich in der Art, wie wir sie als Demokratien kennen, verschwinden. Sie haben keine Wahl, so ist es‘.“ (Daily Mail, 15.6.2010).

Damit soll die brutale militaristische Praxis der NATO keineswegs relativiert werden. Die EU zieht ohnehin zumeist gemeinsam mit der NATO in – oftmals völkerrechtswidrige – Kriege, siehe Jugoslawien, Afghanistan, Libyen. Es soll aber aufgezeigt werden: Bablers Ansage, die EU sei „in der Doktrin schlimmer als was die NATO vorgegeben hat“, ist schlicht und einfach richtig. Wer die NATO nicht mit der Neutralität vereinbar hält (und das ist sie keineswegs), für den darf der EU-Austritt schon gar kein Tabu sein. Andreas Babler hatte vor geraumer Zeit tatsächlich die Konsequenz und den Mut, das offen auszusprechen (siehe hier). Die scheibchenweise Entsorgung der Neutralität, die seit dem EU-Beitritt stattgefunden hat und stattfindet, bestätigt Bablers frühere Analysen vollinhaltlich.

EU-Militarisierung gewinnt immer mehr an Rasanz

Die EU-Militarisierung hat seit der Zeit, aus der Bablers Aussagen stammen, immer weiter an Rasanz gewonnen. Aktuell ist die EU einer der Militärblöcke, der am heftigsten aufrüstet. Laut SIPRI sind die EU-Militärausgaben im Vorjahr real um 14 Prozent gestiegen – mehr als in den meisten Ländern der Welt. Die Ambitionen sind mit dem sog. „strategischen Kompass“ für die nahe Zukunft noch viel weiter gesteckt. Die EU werde in den nächsten Jahren einen „Quantensprung“ bei der militärischen Aufrüstung vollziehen, so die Ansage in diesem EU-Strategiedokument, über das die Solidarwerkstatt Österreich wiederholt berichtet hat und im Tagebuch EU-Militarisierung Anfang 2023 dokumentiert. Das erklärte Ziel ist die militärische Interventionsfähigkeit von EU-Streitkräften in einem geostrategischen Raum, der vom Nordpol bis Zentralafrika, vom Nahen Osten bis in das südchinesische Meer reicht.

Neoliberalismus als Pflicht

Ebenso richtig lag Babler mit seiner Kritik am EU-Neoliberalismus. Die Verpflichtung zu einer neoliberalen Wirtschaftspolitik ist – auch hier wohl weltweit einzigartig – per EU-Primärrecht festgezurrt („Offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“), sodass bei politischen Wahlen im Grunde keine Alternative mehr z.B. zwischen einer sozialdemokratischen oder konservativen Wirtschaftspolitik besteht, denn letztere ist Pflicht. Als Griechenland von der EU in das neoliberale Tal der Tränen geschickt wurde – mit Massenarbeitslosigkeit und Massenverarmung – kommentierte die Frankfurter Allgemeiner Zeitung zynisch: „Das griechische Volk kann wählen, was es will – wirklich ändern kann es nichts“ (FAZ, 30.6.2011). Die darauffolgende Entwicklung bestätigte das in jeder Hinsicht.

„Ein Scheißargument“

Der Wiener Bürgermeister Ludwig rückte umgehend zur Disziplinierung Bablers aus, beweihräucherte die EU als „Friedensprojekt“ und verordnete, dass der SPÖ-Chef „proeuropäische“ zu sein habe (sh. Standard, 1.6.2023). Das bringt das suizidale Dilemma der SPÖ auf den Punkt, über das in der Partei offensichtlich ein Denk- und Diskussionsverbot besteht: Denn wenn „proeuropäisch“ als Pro-EU (d.h. im Sinn ihrer Verträge, was sonst hätte Sinn?) verstanden wird, wird damit sozialdemokratische Politik geradezu torpediert, die doch eigentlich für eine solidarische Wirtschaftspolitik und eine aktive Friedens- und Neutralitätspolitik eintreten müsste – und nicht für Neoliberalismus und Aufrüstung. Mit diesem von den Parteiführungen seit Vranitzky vorgegebenen Pro-EU-Kurs sägt die SPÖ an dem Ast, auf dem sie sitzt. Sie verordnet sich selbst eine anti-sozialdemokratische Politik, die ihre WählerInnen und Mitglieder hinters Licht führt. Diese erkennen das: Seit dem EU-Beitritt hat die SPÖ die Hälfte ihrer WählerInnen und zwei Drittel ihrer Mitglieder verloren. Der frühere Babler hätte daher dem Wiener Bürgermeister – völlig zu Recht - eine klare Antwort gegeben: „Ein Scheißargument.“