„Wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht“, sagte die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am 24. Februar. Gut, das tun wir in einem gewissen Sinne immer. Was genau gemeint war, präzisierte der deutsche Kanzler Olaf Scholz am 27. Februar, in dem er von einer „Zeitenwende“ sprach. Der Angriff Russlands markiere eine historische Zäsur. Nach einer Epoche des Friedens habe Putin eine Epoche des Kriegs eingeläutet. Fast alle führenden westlichen Politiker*innen und der Großteil der Kommentator*innen pflichten im Chor bei. Bei nüchterner Betrachtung stellt sich jedoch die Frage: Auf welchem fernen Stern haben diese Leute die letzten Jahrzehnte verbracht?

 

1. Die Epoche des permanenten Kriegs

Ja, Kriege habe es schon vor dem 24. Februar 2022 auch gegeben, aber nicht in Europa und nicht so wie Putin das macht; wie im 19. Jahrhundert: ein Staat habe Interessen, die Politik dient ihrer Durchsetzung. Krieg sei bloß „die Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln“, so der vielzitierte Sager des preußischen Kriegstheoretikers Clausewitz aus dieser Zeit. Freilich habe auch der Westen Kriege geführt. Gerade dieser Tage wird im deutschen Bundestag eine Untersuchungskommission gebildet, die die Beteiligung am Krieg in Afghanistan bilanzieren soll. Freilich habe man auch als Europäer Interessen und so man die militärische Macht hat, sie durchzusetzen, werden sie auch militärisch durchgesetzt. Aber bitte im Rahmen einer Erzählung, einer Erzählung, in der es um Demokratie und Menschenrechte geht. Sehen wir jedoch davon ab, ob ein Krieg gerade gut gemeint oder böse intendiert war, so müssen wir feststellen: Seit mindestens 20 Jahren leben wir in einer Periode des permanenten Kriegs. So besehen hat Putin am 24. Februar keine Zeitenwende eingeleitet, sondern mit der Invasion in der Ukraine in der Epoche des permanenten Kriegs einfach ein weiteres Kapitel aufgeschlagen.

2. Ein Ende der „Nachkriegsordnung“?

Die in ihren Grundzügen fortexistierende „Nachkriegsordnung“ beruht auf den Ergebnissen des II. Weltkriegs. Der Begriff Nachkriegsordnung muss deshalb unter Anführungszeichen gesetzt werden, weil sie zu keiner Zeit eine Epoche des Friedens war. Die europäischen Kolonialmächte haben nach 1945 ihren globalen Zugriff auf Menschen und Ressourcen in den meisten Fällen nicht gewaltfrei aufgegeben. Die USA als stärkste militärische Macht des Westens sind zum Protektor dieser imperialistischen Ansprüche geworden und haben selbst derartige Ansprüche entwickelt und auch militärisch geltend gemacht. Die Gesamtkonstellation war aber insofern prekär, als jeglicher offene militärische Konflikt zwischen imperialistischen Mächten unmittelbar unter der Drohung des Zusammenbruchs des Gesamtsystems stand. Die vielbesungene längste europäische Friedensperiode ist nicht Ausfluss des „größten Friedensprojekts in der Geschichte der Menschheit“, der Europäischen Union, sondern diesem Umstand geschuldet.

Auch wenn diese 77jährige Nachkriegsordnung keine Epoche des Friedens umfasst, so markiert ihr Ausgangspunkt dennoch eine fortschrittliche Zäsur in der Geschichte der Menschheit. Erstmals wurde ein zwischenstaatliches Gewaltverbot etabliert und insbesondere die ständigen Mitglieder des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen wurden dazu berufen, es durchzusetzen. Auf den Trümmern der mit den faschistischen Regimes verbundenen Vorstellungen von der naturgegebenen Gewalt und Ungleichheit zwischen den Menschen sollte eine Ordnung etabliert werden, in der der friedliche Wettstreit um das Wohl der Menschen auch die zwischenstaatliche Politik bestimmt.

Man war gezwungen, das Wesen der realen Kriege zu verhüllen: Jetzt ginge es nicht mehr bloß um Interessen, den Zugriff auf Territorium und Menschen, sondern um die Sicherung der internationalen Ordnung und höhere Ziele wie Demokratie und Menschenrechte. Im mit der Konfrontation der Supermächte verbundenen Kalten Krieg wurde wohl kriegerische Eskalation diszipliniert, dennoch gab es permanent kriegerische Auseinandersetzungen. Vielfach an den Rändern der Blöcke, wobei der Begriff Ränder irreführend und in gewissem Sinne rassistisch ist, umfasst er doch den Großteil der Länder und der Menschen der Erde.

3. Das Ende des Kalten Kriegs: die neue Qualität heißer Kriege.

Die Auflösung der Sowjetunion hat das internationale System, die „Nachkriegsordnung“, scheinbar nicht erschüttert. Das Gewaltverbot als Grundlage dieses Systems, die Vereinten Nationen mit dem Sicherheitsrat als Wächter über das Gewaltverbot blieben intakt. Die Auflösung der Sowjetunion und des Warschauer Vertrages gingen weitgehend ohne militärische Eskalation von statten. Ja mehr noch: ihr waren einseitige Abrüstungs- und Entspannungsmaßnahmen vorausgegangen. Die USA als einzig verbliebene Supermacht erklärten sich dazu berufen, selbst über die Aufrechterhaltung des internationalen Systems zu wachen. Ja mehr noch: Erst die neue Konstellation würde es zu seiner vollen Entfaltung führen. Der Golfkrieg 1991 gegen den Irak unter Führung der USA war die Probe aufs Exempel.

Fünfhunderttausend amerikanische Soldaten wurden über den Ozean transloziert. Immer offener wurde jedoch der offene Zugang zu Märkten und Rohstoffen in das Reglement eingewoben. Besonders auch die EU fühlte sich dazu berufen, offene Märkte und Zugriff auf Rohstoffe ihrer „Gemeinsame(n) Außen- und Sicherheitspolitik“ voranzustellen. Es sei nur eine Reihe von „Schurkenstaaten“ übriggeblieben, die gegebenenfalls zur Räson zu bringen seien.

Eine erste wirkliche Zäsur im internationalen System bildete der Angriff der Nato auf die Bundesrepublik Jugoslawien 1999. Die Nato hatte für diesen Angriff kein Mandat des UN-Sicherheitsrats. Sie hat es nicht nur einfach nicht bekommen. Sie wollte keines. Der Welt sollte demonstriert werden, dass man allein zur Aufrechterhaltung oder Außerkraftsetzung des Gewaltverbots berufen und legitimiert sei. Der War on Terror der USA wurde dann endgültig zum permanenten Krieg. Völker- und menschenrechtliche Normen wurden willkürlich außer- und in Kraft gesetzt. Das von Israel entwickelte „targeted killing“ wurde zu einer Standardmethode der Kriegsführung. Unter Außerkraftsetzung aller modernen rechtlichen Normen wurde der gezielten – in vielen Fällen auch nicht so gezielten – Tötung von Menschen Legitimität im Kampf gegen den Terror zugesprochen. Auf dem exterritorialen Militärstützpunkt Guantanamo wurde ein Internierungslager errichtet, damit die dort internierten Menschen sich weder auf völkerrechtliche noch US-amerikanischen Normen berufen können. Die Vereinten Nationen und damit das Gewaltverbot wurden systematisch an den Rand gedrängt. Die USA und Westeuropa inszenierten sich als – einzig verbliebene – globale Ordnungsmacht, wurden aber mit ihrer Politik in vielen Fällen selbst zum Katalysator militärischer Eskalation.

Der Abzug der US-geführten westlichen Militärallianz aus Afghanistan im August 2021 markiert das desaströse Scheitern der westlichen Kriegspolitik der letzten dreißig Jahre. Die Ursachen für dieses Scheitern sind noch weitgehend unerforscht. Wie ist vor diesem Hintergrund der Überfall Russlands auf die Ukraine zu bewerten?

„Bomben schaffen keinen Frieden: Mitplärren beim Ruf nach Aufrüstung, Blockbildung und Kriegsfähigkeit wird uns nicht weiterbringen. Die immerwährende Neutralität Österreichs ist eine Basis, auf die sich aufbauen lässt. Das muss aber mit Leben erfüllt werden. Ob uns das gelingt, bleibt offen.“

4. Das Entschwinden der Friedensbewegung

Das 20. Jahrhundert war nicht nur das kurze Jahrhundert der Kriege und humanitären Katastrophen, sondern auch das Jahrhundert einzigartiger Anstrengungen zur Durchsetzung des Friedens zwischen den Staaten. Die Arbeiterbewegung war die erste gesellschaftliche Bewegung, die die Abschaffung des Krieges als Mittel der Politik auf die Tagesordnung gesetzt hat. Im roten Oktober 1917 in Russland stand erstmals die Durchsetzung eines bedingungslosen Friedens im Mittelpunkt einer Revolution. Auch in bürgerlichen Schichten entwickelte sich eine entschiedene Opposition gegen die Kräfte des Militarismus und Imperialismus. Erst mit diesen Entwicklungen wurde die Etablierung der Vereinten Nationen realisierbar. Die Zurückdrängung von Gewalt in den gesellschaftlichen Beziehungen wurde insgesamt zu einem zentralen Feld der politischen Auseinandersetzung. Auch der Kalte Krieg lässt sich nur vor dem Hintergrund dieses Prozesses in seiner Widersprüchlichkeit begreifen. Die Friedensbewegung spielte in all ihren divergenten Formen eine wesentliche Rolle in diesen Jahrzehnten.

In manchen Kommentaren hören wir heute, mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine wären manch europäische – und insbesondere die deutschen – Pazifist*innen auf dem harten Boden der Realität gelandet. Das ist nicht nur zynisch, sondern völlig fern der Wirklichkeit der Kriege des Westens der letzten 30 Jahre, an denen die EU und Deutschland regelmäßig beteiligt waren. Mit der Auflösung der Sowjetunion begann auch die Friedensbewegung zu entschwinden. In der Periode des permanenten Kriegs wurde sie zunehmend marginalisiert. Dennoch wäre es falsch, darin eine Rückkehr des historischen Militarismus zu erkennen. Nicht nur die Ächtung des Kriegs als legitimes Instrument der Politik des Staates hatte sich im Gefolge der Kriege des 20. Jahrhunderts unwiderruflich im Denken etabliert, dass Gewalt insgesamt kein probates Mittel zur Gestaltung gesellschaftlicher Beziehungen ist, gehört zu den hoffnungsstiftenden Ergebnissen der gesellschaftlichen Entwicklungen im 20. Jahrhundert. Was viele im Westen mit dem Angriff Russlands auf die Ukraine völlig überrascht hat, ist der Umstand, dass das Führen von Angriffskriegen offenkundig auf Dauer nicht das Privileg des Westens bleiben wird. Im Westen hat man es sich schlichtweg abgewöhnt, sich mit der Realität der Kriege an der Peripherie aktiv und bewusst auseinanderzusetzen. Übrig blieb gelegentlich ein ahistorischer naiver Pazifismus, der jederzeit gegen naive ahistorische Vorstellungen über die Wirkmächtigkeit der Anwendung militärischer Gewalt getauscht werden konnte. Etwas was im Angesicht des Krieges in der Ukraine auch virulent wurde. Der Höhepunkt dieser pandemischen Bewusstlosigkeit waren mitunter die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union und den US-Präsidenten Barack Obama.

Die gesellschaftlichen Wirkkräfte für diese Bewusstlosigkeit sind ebenso unerforscht, wie die Wirklichkeit der Kriege des 21. Jahrhunderts. Dem hier nach zugehen würde den Rahmen sprengen. Hingewiesen sei lediglich auf das weitgehende Fehlen jeglicher Vorstellung über eine Alternative zur herrschenden Konkurrenzordnung. Aktuell scheint der Kampf der Bewahrer der gegebenen Ordnung gegen die Angriffe von rechtsextremer Seite im globalen Maßstab das Feld zu beherrschen. Nur gelegentlich gestört von linker Folklore.

5. Die Hoffnung auf eine multipolare Weltordnung

Die Praxis der permanenten westlichen Kriege war Ausdruck einer enormen Asymmetrie in den Machtverhältnissen. Eine solche Asymmetrie ist selten in der Geschichte der Menschheit und – so können wir im Rückblick feststellen – meist von kurzer Dauer. Die Rückkehr Russlands als – auch militärisch – potenter Akteur auf der internationalen Bühne war nicht nur logisch, viele verknüpften damit die Hoffnung auf Stabilität und Frieden. Aber Russland ist nicht die Sowjetunion, Putin nicht Gorbatschow. Wobei die Frage auftaucht, ob nicht das System Putin noch deutlicher sozialreaktionärere Strömungen in der russischen Politik und Gesellschaft hintanhält – ähnlich wie es das System Milosevic in Serbien in den 1990er Jahren in Serbien getan hat. Zu Recht wird eingewendet, dass der Westen längst nicht mehr, wie es euphemistisch heißt, die internationale Staatengemeinschaft repräsentiert. In wenigen Jahren wird die VR China die USA als stärkste Wirtschaftsmacht überholt haben. Der Anteil Europas am Weltbruttoinlandsprodukt ist innerhalb von 10 Jahren von 25 auf 20% gesunken. Aus der Perspektive von Frieden und Emanzipation entpuppt sich die Hoffnung auf eine multipolare Weltordnung dennoch als trügerische Hoffnung. Der Ginikoeffizient – ein Maß für die Verteilungsungerechtigkeit – liegt heute in der VR China mit 0,46 deutlich über jenem in den USA mit 0,42. Sollen wir tatsächlich mit einer Koalition von Benjamin Netanjahu, Jair Bolsonaro, Narendra Modi, Cyrill Ramaphosa, Recep Erdogan und Xi Jinping mit Putin Hoffnungen auf Frieden und Emanzipation verbinden?

Die Kriegspolitik Russlands wird ebenso scheitern, wie die westliche Kriegspolitik gescheitert ist. Doch die erfolgreiche Verteidigung der ukrainischen Souveränität mithilfe westlicher Militär- und Wirtschaftshilfe wird umgekehrt auch keinen Sieg des Westens bedeuten. Die Erzählung von seiner neuen Geschlossenheit aufgrund des Kriegs in der Ukraine können wir getrost als dem Tag geschuldetes schickliches Gerede bei Seite schieben.

„Friedenspolitik als Sicherheitspolitik wird dann realistisch, wenn wir über die Grenzen der herrschenden Konkurrenzordnung hinausdenken.“

6. Frieden – Klimagerechtigkeit – solidarische Gesellschaft

Es ist nicht schwer, ein Programm zu formulieren, das jene Maßnahmen umfasst, die wir für unser Überleben brauchen. Beinahe unmöglich erscheint jedoch, die Benennung jener Bedingungen, die es für seine Um- und Durchsetzung braucht. Klar erscheint: Mitplärren beim Ruf nach Aufrüstung, Blockbildung und Kriegsfähigkeit wird uns nicht weiterbringen. Die immerwährende Neutralität Österreichs ist eine Basis, auf die sich aufbauen lässt. Das muss aber mit Leben erfüllt werden. Ob uns das gelingt, bleibt offen.

Boris Lechthaler