Führt man sich die Berichterstattung über den Truppenrückzug von USA und EU-Staaten aus Afghanistan zu Gemüte, könnte man den Eindruck gewinnen, dass da eine Menschentrechtsmission etwas überhastet zu Ende gegangen wäre. Nichts könnte weiter von der Realität entfernt sein.

Ein völkerrechtswidriger Krieg

Am 7. Oktober 2001 starteten die USA Angriffe gegen Afghanistan. Die US-Machthaber legitimierten diesen Krieg mit dem „Selbstverteidigungsrecht“ anlässlich der Terroranschläge am 11. September 2001 in New York und Washington. Die EU beeilte sich sofort, „den amerikanischen Vergeltungsschlag auf Grundlage von Resolution 1368 des Sicherheitsrates als rechtmäßig (zu) betrachten.“ (1). Aber war dieser Angriff auf Afghanistan tatsächlich ein Akt der „Selbstverteidigung“? Keineswegs. Die UN-Resolution 1368 verurteilte die Terroranschläge vom 9/11 und rief zur Zusammenarbeit auf, um die Verantwortlichen für die Anschläge und deren Unterstützer zur Verantwortung zu ziehen sowie „verstärkte Anstrengungen zu unternehmen, um terroristische Handlungen zu verhüten und zu bekämpfen“. Aus dieser Resolution ein Mandat zum Krieg gegen Afghanistan herauszulesen, war schlicht nicht möglich.

Mit einer UN-Resolution, die den USA die Legitimation zum Einmarsch in Afghanistan hätte geben sollen, war Außenminister Powell aus gutem Grund gescheitert. Denn, so Francis Boyle, Professor für Völkerrecht an der University of Illinois: „Es gab keinen Beweis dafür, dass die Regierung in Afghanistan die Anschläge in New York autorisierte oder billigte.“ Boyle weiter: „Außenminister Powell versprach ein so genanntes ‚White Paper‘, in dem er die Beweise darlegen würde. Bush untersagte ihm das. Aber in einem Interview mit der ‚New York Times‘ sagte Powell, dass es gegen Bin Laden nicht einmal Indizien gebe. Das ist ein Rechtsfall, der nicht einmal vor einem normalen Strafgericht standhalten würde.“ Auch in der Sitzung des NATO-Rates „legte nach Aussagen eines westlichen Diplomaten der US-Sondergesandte Taylor keinerlei Beweise vor, dass Bin Laden die Anschläge anordnete oder die Taliban davon wussten. Beweise waren auch nicht wichtig, weil sich Bush ohnehin schon für den Krieg entschieden hatte.“ (2)

Zumindest eine Viertelmillion Tote, sieben Millionen Flüchtlinge

Die US-Elitehochschule Brown University kommt in ihrem „Costs of War Project“ zum Schluss, dass in den 20 Jahren des Krieges 241.000 Menschen getötet worden sind, darunter zumindest 71.000 ZivilistInnen. Das sind nur die unmittelbaren Kriegstoten, nicht mitgezählt sind die unzähligen Opfer, die durch die Folgen des Krieges zu Tode gekommen sind: durch Krankheiten, durch Wassermangel, Vernichtung von Ernten, Zerstörung von Unterkünften und humanitären Infrastrukturen, Ausbreitung der Drogensucht etc. Die Schätzungen der Brown-Universität sind als sehr konservativ einzuschätzen. Die tatsächlichen Opferzahlen, insbesondere der ZivilistInnen, könnten sehr viel höher liegen. So kam bereits 2014 eine Studie von IPPNW (Ärzte zur Verhütung des Atomkriegs) auf Grund der Auswertung verschiedener Quellen, die von Universitätsinstituten, UN-Organisationen bis hin zu Statistiken des US-Militärgeheimdienstes und verschiedener Regierungen reichen, zu folgenden Zahlen für den Zeitraum 2001 bis 2013: 184.000 bis 248.000 Tote in Afghanistan und in Pakistan (2004 bis 2013) zwischen 265.000 bis 330.000 Toten, der überwiegende Teil ZivilistInnen (3).

Viele Menschen in Afghanistan sind den illegalen Drohnenangriffen des US-Militärs zum Opfer gefallen. Brandon Bryant, ein ehemaliger Drohnen-Pilot des U.S. Air Force Predator Programms, gestand in einem NBC-Interview ein, dass er für das Töten von 1.626 Menschen per Mausklick von der US-Army ausgezeichnet worden war. Sein öffentliches Schuldbekenntnis ging um die Welt: „I am sorry for killing over 1600 people“ (4). Wenn ein einziger Pilot den Abzugshahn für die Ermordung so vieler Menschen gezogen hat, wie viele Zehntausende sind dann insgesamt dieser anonymen Mordmaschinerie zum Opfer gefallen? Die Menschenrechtsgruppe Reprieve wies darauf hin, dass bei diesen Drohnenangriffen auf eine Zielperson 27 zivile „Kollateraltote“ kamen (5). Diese Art des Krieges trieb viele Menschen wieder in die Arme der Taliban.

Dieser Krieg hat auch fürchterliches Flüchtlingsleid ausgelöst. Die Brown-University schätzt, dass infolge des Krieges fast sieben Millionen Menschen geflüchtet sind, davon 2,7 Millionen ins Ausland, die Mehrzahl sind also Binnenflüchtlinge im eigenen Land.

Neoliberales Exerzierfeld und Verarmung des Landes

Die Brown-University kommt auch zu erschütternden Zahlen bezüglich der sozialen Lage in Afghanistan: Die Armutsrate ist in der Zeit der westlichen Intervention deutlich gewachsen - von 33,7 Prozent im Jahr 2007 auf 54,5 Prozent im Jahr 2016. Laut Welthungerindex sind 30 Prozent der Bevölkerung unterernährt. Im Jahr 2019 berichtete UNICEF, dass 3,7 Millionen afghanische Kinder im Schulalter die Schule nicht besuchten. Zahlreiche Schulen sind - wie unzählige andere Gebäude, zuweilen etwa auch Krankenhäuser - teilweise oder ganz zerstört worden.

Die Wirtschaftspolitik, die Afghanistan von den westlichen Mächten aufgezwungen wurde, diente nicht der Bevölkerung, sondern den Konzernen der Besatzerarmeen. Gestützt auf die NATO-Militärmacht verwandelten IWF, Weltbank, EU und US-Finanzministerium Afghanistan in ein neoliberales Exerzierfeld. Die EU war von Anfang an eng in den Prozess des neoliberalen Umbaus der afghanischen Wirtschaft eingebunden. So lobt der Internationale Währungsfonds im Jahr 2003, dass u.a. von der EU „die vom IWF für Afghanistan maßgeschneiderten Aktionspläne sukzessive implementiert werden.“ (6). 2007 resümierte das deutsche Bundesamt für Außenwirtschaft: „Die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Wirtschaft und der Schutz von Investoren wurden in die afghanische Verfassung aufgenommen. Afghanistan kann als eine der offensten Volkswirtschaften überhaupt, auf jeden Fall aber als die offenste Volkswirtschaft der Region bezeichnet werden. Handelsbeschränkungen und Subventionen sind praktisch nicht existent, und die afghanische Regierung zeigt sich sehr aufgeschlossen für Investitionen im Land.“ (7) Für wen Afghanistan „offen“ ist, zeigt das afghanische Investitionsregister: Siemens, Coca Cola, British Petroleum, Alcatel, e.on etc. ist der 100-prozentige Transfer von Gewinnen und Kapital aus dem Land heraus ebenso garantiert wie die Steuerfreiheit für die ersten vier bis acht Jahre. Die Zölle wurden dramatisch gesenkt, staatliche Betriebe reihenweise privatisiert oder liquidiert. „Freie Marktwirtschaft bedeutet, dass Afghanistan keine eigene Industrie aufbaut, sondern zum Konsumenten importierter Produkte schlechtester Qualität wird.“, kritisiert die afghanische Solidaritätspartei, eine basispolitische Gruppierung, die sowohl gegen die Taliban als auch gegen die westliche Besatzung mobilisiert (8).

Die groß angekündigte Entwicklungshilfe des Westens für das notleidende Land macht weniger als ein Zehntel der Kriegskosten aus und versickert zum großen Teil in den korrupten Strukturen der mafiösen afghanischen Behörden. Zudem – so schätzt das “Center for Strategic and International Studies“ - wird sie zu 90% als „gebundene Hilfe“ gewährt, d.h. die Gelder müssen an Firmen der Geberländer zurückfließen.

Aufstieg von Warlords und Drogenbaronen

Die NATO-Erzählung, dass man mit dem Krieg Menschenrechte und Demokratie in Afghanistan durchsetzen wollte, ist ein Hohn. Die USA und ihre Verbündeten stützten sich von Anfang an beim Kampf gegen die Taliban auf Warlords, die hinsichtlich Fundamentalismus und Grausamkeit den Taliban nichts nachstanden. Die bekannte afghanische Frauenrechtlerin Malalai Joya: „Dieselben Warlords, die vor den Taliban mit Zerstörung regierten, bildeten nun die neue von den USA unterstützte Regierung. Sie haben dieselben Ideen wie die Taliban – sie sind gegen Frauenrechte und Demokratie.“ (9). Unter den vom Westen wieder an die Macht gehieften Warlords befanden sich Leute wie der für fürchterliche Kriegsverbrechen berüchtigte General Abdul Rashid Dostum. Wie eine ARD-Dokumentation berichtet, ließ Dostum nach dem NATO-Einmarsch tausende gefangene Taliban in der nordafghanischen Wüste in Container stecken und ersticken – unter den Augen von US-Einheiten (10).

Die NATO verschaffte dieser Kriegerkaste nicht nur politische Macht, sondern auch eine mächtige wirtschaftliche Basis: den Opiumhandel. Die Taliban hatten am Ende ihrer Herrschaft (1996 – 2001) den Opiumanbau massiv bekämpft, sodass dieser im Jahr 2001 um 94 Prozent einbrach. Das änderte sich schlagartig mit dem Einmarsch der Amerikaner und ihrer Verbündeten. Denn als Bodentruppen heuerte die USA eine Vielzahl von Warlords an, die in Rivalität mit den Taliban standen. Das Kämpfen auf Seiten der NATO hatte aber einen Preis: Die Warlords verschafften sich die Kontrolle über den ertragreichen Opiumhandel und konnten als Drogenbarone enorme Profite einstreichen, die als Schmiermittel zur Fortsetzung des Krieges dienten. Auch die Taliban konnten den Nachschub an Waffen und Gotteskriegern zum Großteil aus dem Geschäft mit der Sucht finanzieren.

Die Folgen: Afghanistans Opiumproduktion schwoll von etwa 180 Tonnen im Jahr 2001 auf über 3000 Tonnen bereits ein Jahr nach der Invasion und bis 2007 sogar auf über 7000 Tonnen an. Den bisherigen Höhepunkt erreichte die Opiumproduktion mit 9000 Tonnen im Jahr 2017 – das 50-fache gegenüber dem letzten Jahr der Talibanherrschaft (11). Es wird geschätzt, dass illegale Drogen phasenweise über 60 Prozent des afghanischen Bruttoinlandsprodukts ausmachten. Rund 85 Prozent der weltweiten Opiumproduktion stammt aus dem zentralasiatischen Land. Etwa 3 Millionen AfghanInnen sind drogenabhängig, rund ein Zehntel der Bevölkerung (12).

Ungebrochene Fortsetzung der Frauenunterdrückung

Auch die westlichen Versprechungen, die NATO-Intervention würde der Frauenbefreiung dienen, haben mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben. Die afghanische Solidaritätspartei fällt auch in dieser Hinsicht ein vernichtendes Urteil über die letzten beiden Jahrzehnte: „Jahrelang haben die Vereinigten Staaten und der Westen ihr Volk getäuscht, indem sie behaupteten, sie würden ‚afghanische Frauen befreien‘. In Wirklichkeit sind die Barbarei und Unterdrückung der afghanischen Frauen heute schrecklicher und weiter verbreiteter als selbst während der mittelalterlichen Herrschaft der Taliban. Während der Taliban-Ära schockierte die Schießerei auf Zarmina im Ghazi-Stadion die Welt, aber jetzt sind Steinigungen, Säureangriffe, Schießereien, Schnitte in Ohren, Nase und Hals, sexueller Missbrauch, Selbstverbrennung aufgrund von Unterdrückung und andere Formen der Brutalität gegen afghanische Frauen zur Routine geworden.“ (13). Frauenunterdrückung wurde auch im Gesetz verankert. 2014 beschloss das afghanische Parlament unter der Regierung Karsai ein Gesetz, das Männern, die Frauen misshandeln, „praktisch Straffreiheit garantiert“ (14).

Der Afghanistankrieg der westlichen Großmächte ist – gemessen an den der Öffentlichkeit vorgegaukelten Ansprüchen – völlig gescheitert. Die Solidarwerkstatt Österreich und viele andere Friedensgruppen sind schon vor 20 Jahren gegen diesen Krieg auf die Straße gegangen. Alle unsere Warnungen haben sich bestätigt. Das erfüllt mit keinerlei Genugtuung, sondern nur mit Bitterkeit und Zorn.

Gerald Oberansmayr

Quellen:
1. Erklärung des EU-Vorsitzes über Afghanistan, 7.10.2001
2. Spiegel online, 31.1.2001
3. zit. nach: Lühr, Henken (2014), Vergessene Tote: Body Count in Afghanistan und Pakistan, in: Junge Welt, 7.7.2014
4. zit. nach: Mechthild Exo, in: Das übergangene Wissen – eine dekoloniale Kritik des liberalen Peacebuilding durch basispolitische Organisationen, Bielefeld 2017, NBC-News, 6.6.2013
5. https://www.presstv.ir/Detail/2015/01/23/394383/US-drone-operator-Im-sorry-for-killing-1600
6. IWF-Bericht Nr. 03/299, Sept. 2003
7. Wirtschaftsentwicklung 2006, Bundesamt für Außenwirtschaft, 19.01.2007
8. siehe Jürgen Wagner, Im Windschatten der NATO – Die EU und der Krieg in Afghanistan, Jänner 2011
9. http://www.malalaijoya.com/dcmj/component/content/article/421-in-the-line-of-fire-interview-with-malalai-joya.html
10. https://www.spiegel.de/politik/ausland/kriegsverbrechen-tod-im-container-a-227236.html
11. Quelle: www.statista.com
12. TAZ, 6.3.2017
13. SPA, Für eine freies und unabhängiges Afghanistan, https://progressive.international/wire/2020-10-15-spa-for-a-free-and-independent-afghanistan/de
14. FAZ, 5.2.2014


Siehe dazu auch: