Der Krieg der USA und ihrer EU-Verbündeten gegen Afghanistan und der daran anschließende Bürgerkrieg hat in den 20 Jahren seit 2002 hunderttausenden Menschen das Leben gekostet. Das Sterben geht auch nach dem Truppenrückzug weiter. Nicht durch Kugeln und Granaten, sondern durch die Waffe des Hungers.

Insbesondere die USA und die EU haben seit der Machtergreifung der Taliban ein weitgehendes Sanktionsregime über das Land verhängt, das eine Hungerkatastrophe ausgelöst hat. Die in Brüssel ansässige Organisation International Crisis Group (ICG) warnt, Hunger und Elend dürften "mehr Afghanen töten als alle Bomben und Gewehrkugeln der vergangenen 20 Jahre". Auch der Direktor des Center for Humanitarian Health an der renommierten Johns Hopkins Bloomberg School of Public Health, Paul Spiegel, ist nach einem fünfwöchigen Aufenthalt am Hindukusch überzeugt: „Wenn die Vereinigten Staaten und andere westliche Regierungen ihre Sanktionspolitik gegenüber Afghanistan nicht ändern, werden mehr Afghanen an Sanktionen sterben als durch die Taliban.“ Die Warnungen anderer Organisationen unterstreichen diesen Befund: Laut UN-Welternährungsprogramms haben 98 Prozent aller Afghanen nicht genug zu essen. Die Hilfsorganisation International Rescue Committee sieht 24,4 Millionen Menschen von extremem Hunger bedroht; laut Save the Children sind mehr als 13 Millionen Kinder auf humanitäre Hilfe angewiesen, 3,9 Millionen sind schwer unterernährt.

Sanktionen erwürgen Wirtschaft und humanitäre Hilfe

Durch die westlichen Sanktionen ist die Regierung in Kabul inklusive aller ihr unterstehenden staatlichen Einrichtungen mit Sanktionen belegt. Insbesondere ist das Land vom globalen Finanzsystem abgeschnitten. Das bedeutet nicht nur, dass Importe nicht mehr bezahlt werden können, darunter Medikamente. Es bedeutet auch, dass die Tätigkeit von Hilfsorganisationen ausgehebelt wird, die – wenn überhaupt – nur unter erheblichen Schwierigkeiten Hilfsgüter auftreiben oder ihren afghanischen Angestellten Gehalt zahlen können. So mussten Ärzte sowie Pflegepersonal inmitten der Covid-19-Pandemie nicht nur ohne die benötigten Medikamente, geschweige denn Schutzausrüstung, auskommen; sie erhielten auch keinerlei Entgelt. Selbst die Lieferung frisch gedruckter Banknoten, die eine Druckerei in Polen hergestellt hatte, erwies sich als vollkommen unmöglich; Arbeiten zur Verbesserung der Stromversorgung mussten ebenso eingestellt werden wie vieles mehr. Diese Sanktionen trugen damit maßgeblich zum umfassenden Zusammenbruch der afghanischen Wirtschaft bei.

Einfrieren der Devisenreserven

Einwände in Washington, der UN-Sicherheitsrat habe am 22. Dezember humanitäre Hilfe für Afghanistan von allen Sanktionen freigestellt, und auch die US-Regierungsbehörden hätten zahllose Sondergenehmigungen für humanitäre Hilfe auf den Weg gebracht, werden von Praktikern als Augenwischerei abgetan. Hauptursache ist, dass die US-Sanktionsgesetze als solche weiterhin gelten; sie umfassen hunderte teils juristisch komplex ausformulierter Seiten und sind oft – mutmaßlich bewusst – so schwammig formuliert, dass sehr breite Grauzonen bestehen bleiben. Sie verhindern nicht nur alle gewöhnlichen Wirtschaftstätigkeiten, die dringend nötig wären, um den weiteren Absturz Afghanistans zu verhindern. Sie sorgen auch dafür, dass kaum ein Unternehmen und insbesondere so gut wie keine Bank sich auf die Ausnahmeregelungen verlässt; allzu groß ist die Sorge, jenseits der Ausnahmeregeln eine der noch geltenden Sanktionen zu verletzen – und die Härte der US-Administration bei der Durchsetzung ihrer Sanktionen ist einschlägig bekannt. „Die Furcht vor dem Unbekannten“ irgendwo in den Sanktionsgesetzen führe zu der flächendeckenden Wirkung von US-Strafmaßnahmen, erklärt Kevin Schumacher, stellvertretender Leiter der US-Hilfsorganisation „Women for Afghan Women“.
Hinzu kommt, dass die Biden-Administration im August Afghanistans Devisenreserven eingefroren hat, die sonst zur Überbrückung des Schlimmsten genutzt werden könnten. Von den neun Milliarden US-Dollar liegen allein sieben Milliarden bei der US-Zentralbank; auch der Rest wird von Washington faktisch fast vollständig blockiert.

Afghanistans Besatzungsökonomie

Die Verantwortlichkeit der westlichen Mächte für die aktuelle Hungerkatastrophe in Afghanistan ergibt sich aber nicht nur aus den aktuellen Sanktionen, sondern auch daraus, dass sie in den zwei Jahrzehnten der Besatzung versäumt haben, den Aufbau einer auch nur halbwegs überlebensfähigen Wirtschaft zu organisieren. Unter ihrer Kontrolle ist eine klassische Besatzungsökonomie entstanden: Noch kurz vor dem überstürzten Rückzug der westlichen Truppen machten laut Angaben der Weltbank humanitäre Hilfe, westliche Entwicklungsgelder und finanzielle Unterstützung des Westens für das afghanische Militär 43 Prozent des gesamten afghanischen Bruttoinlandsprodukts aus. Das führte dazu, dass Sektoren aufgebläht wurden – vor allem Dienstleistungen –, die der Westen für den Aufenthalt seines Personals und für seine Operationen benötigte, dass aber zugleich wichtige Branchen, die Afghanistan Unabhängigkeit hätten bringen können – insbesondere jede industrielle Produktion –, systematisch vernachlässigt wurden.

Hatte die afghanische Wirtschaft unter diesen Bedingungen faktisch keine Chance auf eine eigenständige Entwicklung, so ist sie mit dem Abzug des militärischen und zivilen Personals aus dem Westen und der Einstellung westlicher Zahlungen nahezu unmittelbar kollabiert – 43 Prozent des Bruttoinlandsprodukts sind nicht ohne weiteres auf die Schnelle zu ersetzen.

Hunger als Waffe einzusetzen ist nicht neu. So kosteten nach Aussagen des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen UNICEF die Sanktionen in den 90er Jahren gegen den Irak einer halben Millionen Kindern das Leben. Die damalige US-Außenministerin wurde 1996 in einem Fernseh-Interview gefragt, ob die Sanktionsziele im Irak den Tod einer halben Million irakischer Kinder „wert“ seien. Ihre kühle Antwort: „Wir denken, sie sind diesen Preis wert.“


Die Quellen und Informationen für diesen Beitrag stammen großteils von der Nachrichtenagentur: www.german-foreign-policy.com, Hunger wird gemacht (II), 20.1.2022; weitere Quelle: Deutsche Welle, 12.1.2022

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