Ein Beitrag von Univ.-Prof. Dr. Hans Hautmann
Der erste Weltkrieg unterschied sich hinsichtlich seiner territorialen Ausdehnung, der Zahl der beteiligten Staaten, der Kriegsziele, der Rolle des Hinterlandes, des massenhaften Einsatzes der Technik und der Zahl der Opfer qualitativ von allen anderen vorangegangenen Kriegen. Er war die „Ursache aller Ursachen“, die „Urkatastrophe“, die „Ursünde des 20. Jahrhunderts“, ein Ereignis, dessen Ergebnisse die Entwicklung der Menschheit bis heute bestimmen. Über 10 Millionen Tote, mehr als 20 Millionen Verwundete und Verkrüppelte und mehrere Millionen während des Krieges an Hunger und Seuchen Gestorbene waren die Bilanz des ersten Weltkriegs.
Militärkamarilla schmiedete „Präventivkriegspläne“.
Als am 28. Juni 1914 der serbische Gymnasiast Gavrilo Princip den österreichisch-ungarischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau in Sarajevo erschoss, erregte das Attentat nur für wenige Tage Aufsehen. Die europäische Öffentlichkeit ging bald wieder zur Tagesordnung über und war davon überzeugt, dass die Schüsse in der bosnischen Landeshauptstadt keine schwerwiegenden Folgen nach sich ziehen würden. Hatten in den Jahren vorher nicht weit gefährlichere Krisen die internationalen Beziehungen erschüttert, ohne dass es zu einem Krieg zwischen den Großmächten gekommen war? Selbst in der Habsburgermonarchie ließ die Ermordung des allseits unbeliebten Erzherzogs Franz Ferdinand die Menschen unberührt. Während man sich wieder dem Hauptgesprächsthema, der Klage über die sommerliche Hitzewelle, zuwandte, schürzte sich jedoch unter der Oberfläche, in den Kabinetten in Wien und Berlin, der Knoten für die Katastrophe. Die österreichisch-ungarische Militärkamarilla und der sie ermunternde deutsche Imperialismus sahen im Attentat die erwünschte Gelegenheit, den Krieg gegen Serbien vom Zaun zu brechen. Seit dem Jahr 1903 war die Vernichtung des serbischen Staates und die Errichtung der Hegemonie auf dem Balkan das Hauptziel der Großbourgeoisie und der adlig-klerikal-militaristischen Kreise der Donaumonarchie gewesen. Generalstabschef Conrad von Hötzendorf, ein Günstling Franz Ferdinands, schmiedete von 1907 an unentwegt Präventivkriegspläne mit der Absicht, die Auseinandersetzung mit dem hinter Serbien stehenden Russland auszutragen, solange das Zarenreich sich von der Niederlage gegen Japan und von den Auswirkungen der Revolution von 1905 noch nicht erholt hatte. Österreich-Ungarn war aber ökonomisch und militärisch zu schwach, um seine Aggressionsziele auf dem Balkan aus eigener Kraft erreichen zu können. Es war auf die Unterstützung durch den deutschen Imperialismus angewiesen.
Weltkrieg als Fortsetzung des Kampfes um Kolonien, Rohstoffe, Absatzmärkte und Kapitalanlagen.
Die landläufige Geschichtsschreibung über den Ausbruch des ersten Weltkrieges will weismachen, dass alle beteiligten Mächte in ihn mehr oder minder ungewollt „hineingeschlittert“ seien. Oft wird auch die „Geheimdiplomatie“ und das „persönliche Versagen“ einzelner „frivol verblendeter“ Politiker und Militärs verantwortlich gemacht. In Wahrheit entstand der erste Weltkrieg aufgrund der tiefen Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten. Er war die militärische Fortsetzung ihres jahrzehntelangen erbitterten Kampfes um Kolonien, Rohstoffquellen, Absatzmärkte, Kapitalanlagesphären und strategische Stützpunkte. Dieser Konkurrenzkampf hatte sich durch die ungleichmäßige ökonomische Entwicklung der einzelnen kapitalistischen Länder verschärft.
Zwischen den Großmächten war seit dem Beginn der Ära des Imperialismus, dem Krieg der USA gegen Spanien im Jahr 1898, nach und nach ein neues ökonomisches, politisches und militärisches Kräfteverhältnis entstanden, dem der territoriale und wirtschaftliche status quo nicht mehr entsprach. Die Neuaufteilung der Welt, die nur durch einen Krieg möglich war, wurde von allen imperialistischen Mächten von langer Hand vorbereitet. Dabei trat der junkerlich-bürgerliche deutsche Imperialismus besonders angriffslustig auf, weil er bei der Aufteilung der Welt zu spät gekommen war und der preußische Militarismus dem gesellschaftlichen Leben in Deutschland in besonders krasser Form den Stempel aufdrückte. Der deutsche Imperialismus entwickelte sich ökonomisch schneller und dynamischer als der seiner Hauptkonkurrenten Großbritannien und Frankreich und begann beide auf wichtigen Gebieten vom Weltmarkt zu verdrängen. Die Größe seiner Kolonien und Einflusssphären stand aber in keinem Verhältnis zu seinem Expansionspotenzial und seiner Raubgier. Seit dem Ende des 19. Jahrhunderts forderte er immer aggressiver einen „Platz an der Sonne“, mit anderen Worten: die radikale Neuaufteilung der Welt mit gewaltsamen Mitteln zu seinen Gunsten. Dabei stieß er mit den Interessen des englischen, französischen und russischen Imperialismus zusammen.
Die Zuspitzung der Gegensätze zwischen den Großmächten und den beiden Bündnisblöcken Entente und Mittelmächte ging in den Jahren vor 1914 mit einem Aufschwung der internationalen Arbeiterbewegung und einem Anwachsen des Befreiungskampfes der kolonialen und abhängigen Länder gegen die imperialistische Fremdherrschaft einher. Russland, Deutschland und Österreich-Ungarn befanden sich am Vorabend großer Klassenauseinandersetzungen. Deshalb sahen die herrschenden Kreise dieser Staaten in der Entfesselung eines Krieges zugleich ein Mittel, die inneren Schwierigkeiten zu überwinden und den revolutionären Massenkampf zu lähmen.
Kriegsentscheidung fiel in Berlin
Den Diplomaten des Ballhausplatzes und dem k. u. k. Armeeoberkommando war klar, dass der Krieg gegen Serbien unweigerlich den Mechanismus der imperialistischen Bündnisse in Gang setzen und den großen Krieg auslösen musste, denn hinter Serbien stand Russland. Dieses Risiko konnte man nicht eingehen, solange man sich nicht der Unterstützung durch das Deutsche Reich rückversichert hatte. Die Entscheidung über Krieg und Frieden fiel daher nicht in Wien, sondern in Berlin. Nach Beratungen am 5. und 6. Juli 1914 in Potsdam stellte die deutsche Regierung Wien den berüchtigten „Blankoscheck“ aus, und der deutsche Generalstab, der durch die forcierten Rüstungsprogramme Frankreichs und Russlands seinen militärischen Vorsprung auf einigen Gebieten gefährdet sah, stachelte den österreichisch-ungarischen Generalstab zum Losschlagen an.
Am 23. Juli 1914 übergab Österreich-Ungarn an Serbien ein Ultimatum, das mit Absicht unannehmbar formuliert war und mit der Souveränität Serbiens unvereinbare, die nationale Würde beleidigende Forderungen enthielt. Ihre Ablehnung nahm die Wiener Regierung zum Vorwand, Serbien am 28. Juli 1914 den Krieg zu erklären. Daraufhin erfolgte am 30. Juli die Mobil-machung der russischen Streitkräfte, die wiederum der deutschen Regierung als Anlass diente, Russland am 1. August 1914 den Krieg zu erklären.
In der Endphase der Krise, die den Konflikt Deutschlands mit Frankreich und, nach dem deutschen Überfall auf das neutrale Belgien, den Kriegseintritt Großbritannien nach sich zog, sahen die herrschenden Kreise in Deutschland und Österreich-Ungarn aus innenpolitischen Motiven ihr Hauptziel darin, dem zaristischen Russland die Verantwortung für den Ausbruch des Krieges zuzuschieben. Die Führer der deutschen und österreichischen Sozialdemokratie griffen die Propaganda von der Notwendigkeit der „Vaterlandsverteidigung“, der Bewahrung der „höheren deutschen Kultur“ vor der „zaristischen Barbarei“ sofort auf, konnten sie doch damit ihre Burgfriedenspolitik wirkungsvoll bemänteln. Wie alle anderen Parteien der II. Internationale mit Ausnahme der russischen Bolschewiki, der serbischen und der bulgarischen Sozialdemokraten sagten sie sich von den feierlich beschworenen Antikriegsbeschlüssen der Kongresse von Stuttgart (1907) und Basel (1912) los. Mit dem Überbordwerfen der Prinzipien des proletarischen Klassenkampfes und der internationalen Solidarität gaben die Reformisten den Herrschenden die Sicherheit im Inneren des Landes, die sie für einen Eroberungskrieg nach außen brauchten. Ganze Tintenmeere wurden in der Julikrise 1914 und danach verspritzt, um den Krieg als gerechten, „heiligen Verteidigungskrieg“ hinzustellen, seinen räuberischen Charakter zu verschleiern und die Volksmassen dazu zu motivieren, sich freiwillig an falschen, gegen ihre ureigensten Interessen gerichteten Fronten gruppieren zu lassen. Dass das gelang, war einer der größten Triumphe, den Herrschende in der Geschichte je feiern, und eine der bittersten Niederlagen, die Beherrschte je erleiden mussten.
Nach wie vor aktuelle Bedeutung.
Der Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien im Sommer 1914 ging in einen weltweiten Krieg über, der mehr als vier Jahre dauerte und zuletzt 33 Staaten der Erde umfasste. Er vernichtete gewaltige gesellschaftliche Reichtümer und hatte für die Völker Europas unermessliche Opfer, Not und Verelendung zur Folge. Millionen Soldaten wurden für die Weltherrschaftspläne und Profitinteressen einer kleinen Schicht von Monopol- und Bankherren, Großgrundbesitzern, reaktionären Politikern und Militärs auf den Schlachtfeldern hingemordet und verstümmelt. Über 10 Millionen Tote, mehr als 20 Millionen Verwundete und Verkrüppelte und mehrere Millionen während des Krieges an Hunger und Seuchen Gestorbene waren die Bilanz der Jahre von 1914 bis 1918. Der erste Weltkrieg erschütterte die kapitalistische Ordnung zutiefst. 1917/18 standen die Volksmassen gegen die Herrschenden auf, stürzten sie in einem Land, Russland, und brachten sie in mehreren anderen, darunter Deutschland, Österreich, Ungarn und Italien, an den Rand des Abgrunds.
In einer Zeit, in der die Bush-Administration in den USA alles daransetzt, imperialistische Ziele gewaltsam unter dem Vorwand zu verfolgen, die zivilisierte Menschheit vor den Gefahren des „Terrorismus“ zu bewahren, wäre es verfehlt, die Beschäftigung mit dem ersten Weltkrieg als eine Sache anzusehen, die nur die akademische Geschichtswissenschaft etwas angeht. Das Wissen um seine Ursachen, seinen Verlauf und seine Folgen hat für die Friedensbewegung in aller Welt aktuelle politische Bedeutung. Die landläufige Geschichtsschreibung über den Ausbruch des ersten Weltkrieges will weismachen, dass alle beteiligten Mächte in ihn mehr oder minder ungewollt „hineingeschlittert“ seien. In Wahrheit entstand der erste Weltkrieg aufgrund der tiefen Widersprüche zwischen den imperialistischen Mächten. Er war die
militärische Fortsetzung ihres jahrzehntelangen erbitterten Kampfes um Kolonien, Rohstoffquellen, Absatzmärkte, Kapitalanlagesphären und strategische Stützpunkte.
Der Autor: Dr. Hans Hautmann(ao. Univ.-Prof. am Institut für Neuere Geschichte und Zeitgeschichte der Universität Linz