Was wollt ihr heute noch mit der Neutralität? Zwischen wem sollte Österreich heute noch neutral sein? Mit diesen Fragen wurden wir seit dem Beitritt Österreichs zur EU unzählige Male konfrontiert. Weniger von einfachen Menschen – die haben immer verstanden, dass die immerwährende Neutralität der beste Schutz für Menschen eines kleinen Landes vor den Abenteuern und Dummheiten der eigenen Eliten ist - sondern vorwiegend von bezahlten Welterklärern aller Art. Diese erkennen meistens bereits im Handeln ihrer Auftraggeber den Beweis ihrer Annahmen, mit den Ergebnissen dieses Handelns halten sie sich nicht auf.
Der Krieg um die Ukraine wirft schlagartig ein neues, altes Licht auf die Entwicklung. Ist auch das Interesse der großen europäischen Industrie- und Finanzkonzerne auf die Beseitigung aller (national-) staatlichen Hindernisse für ihre Machtentfaltung gerichtet, so zwingen die sozialen Verwerfungen – ein Ergebnis der Machtentfaltung dieser Konzerne – die Staaten als zentrale Akteure zurück auf die Bühne. Insbesondere an den Rändern Europas erleben wir eine Rückkehr faschistischer Bewegungen ins Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzungen. Hier geht es nicht mehr einfach um randständige Skinheads, sondern um mit pseudowissenschaftlichen Theorien fundamentierte Mittelschichtsbewegungen. Die Begründungsmythologien variieren und verfolgen dennoch im Kern die Legitimation ein und desselben Ziels: Das Recht auf einen Platz in der Sonne des Imperiums wird verbunden mit dem Recht seinen Nächsten von seinem angestammten Platz zu vertreiben. Noch erschreckender als die Beteiligung offen faschistischer Kräfte an der neuen Kiewer Putschregierung und in höchsten Stellen der ukrainischen Administration muten die Berichte von KünstlerInnen und KorrespondentInnen aus Kiew an, wie „europäisch“ doch die „Euro-Maidan“- Bewegung sei – und wie asiatisch die Russen ist man versucht unter Anwendung eines Göbbel’schen Diktums anzufügen.
„Die Figur Banderas ist sehr kontrovers, mit den von Ihnen beschriebenen rechtsradikalen Zügen.“ Mit diesen Worten verteidigte das österreichische Außenministerium in Beantwortung eines offenen Briefs der Solidarwerkstatt die Kollaboration Österreichs mit offen faschistischen, antisemitischen Kräften in der Ukraine. Neuerdings hört man aus dem gleichen Ministerium, man wolle der Ukraine die Neutralität als mögliches Modell näher bringen und die dazugehörige Expertise liefern. Welche Expertise? Österreich hat Anfang der 1990’er Jahre wesentliche Bestimmungen des österreichischen Staatsvertrags – unter anderem das Verbot der Beschäftigung von Nazis beim Bundesheer oder das Verbot der Rüstungskooperation mit Deutschland – einseitig für obsolet erklärt. Russland sei nicht Rechtsnachfolger der Sowjetunion, Signatarstaat des Staatsvertrags, und brauche deshalb auch nicht konsultiert zu werden, erklärte der damalige österreichische Außenminister Alois Mock. Die Bundesregierung lässt an Feiertagen die Neutralität hochleben und unterschreibt gleichzeitig eine Aufrüstungsverpflichtung und eine militärische Beistandsverpflichtung im Rahmen des EU-Lissabonvertrags. Ist es diese Expertise, die dafür Pate gestanden hat, dass die Kiewer Vereinbarung vom 21. Februar 2014 zur Bildung einer Übergangsregierung unter Einbindung aller politischen Kräfte noch in der selben Nacht weggeputscht wurde? Neutralität wäre tatsächlich eine zukunftsfähige sicherheitspolitische Konzeption für viele kleine und mittlere Staaten in Mittel- und Osteuropa gewesen und ist es für die Ukraine heute. Für eine Neutralität mit Augenzwinkern, wie sie Österreich seit Jahren betreibt, gibt es aber aktuell in der Ukraine nullkommanull Spielraum. Und diesen Spielraum wird es auch für Österreich früher oder später nicht mehr geben. Entweder, weil von außen die Frage gestellt wird, wie neutral wir nun wirklich seien, oder weil wir von unten die Augenzwinkerei beenden.
Beim Krieg um die Ukraine gibt es bisher viele Verlierer, vor allem die Menschen in der Ukraine, und einen Gewinner: Deutschland ist wieder Großmacht. Telefoniert wird zwischen Washington, Moskau und Berlin. Konnte Frankreich in Lybien noch eine Militärintervention vom Zaun brechen, so sind sie bereits in Syrien damit gescheitert. Das amerikanische Säbelrasseln wirkt beängstigend, sollte uns aber nicht irritieren. Freilich könnten dieser Tage auch in Washington völlig Durchgeknallte die Oberhand gewinnen, aber ohne Berlin ist keine westliche Eskalationsstrategie umsetzbar. Das Vertrauen auf amerikanische Sicherheitsgarantien und die Hoffnung auf eine westliche Intervention entspringen mehr dem historischen Narrativ der Eliten in den mittel- und osteuropäischen Staaten als den aktuellen Kräfteverhältnissen. Geradezu absurd mutet es an, wenn US-Vizepräsident Joe Biden in Kiew der ukrainischen Regierung Frackinggas aus Amerika statt der Abhängigkeit von russischem Erdgas in Aussicht stellt. Die absehbare Frustration über die Grenzen US-amerikanischer (Militär-)macht wird Berlin weiter ins Zentrum diverser Überlegenheitsphantasien rücken. Ebenso absurd mutet die über uns schwappende Welle an Erzählungen an, die EU und insbesondere Deutschland wären willenlosen Puppen, an denen die Amerikaner ihre Strippen ziehen, um sie in einen Krieg gegen Russland zu treiben. Niemand kann den Menschen in der Ukraine das Recht verwehren, sich gegen die Kiewer Putschregierung zur Wehr zu setzen. Und wahrscheinlich gibt es keine realistischen Alternativen für die russische Regierung zur bisherigen Vorgehensweise. Dennoch öffnet der Krieg um die Ukraine für deutsche imperiale Politik einen Möglichkeitsraum, der vor wenigen Jahren noch bis auf ewige Zeiten versperrt schien.
Das bringt uns dazu die eingangs gestellte Frage, zwischen wem sollte Österreich noch neutral sein, noch anders zu stellen: Von wem sollte Österreich neutral sein? Die immerwährende Neutralität war und ist auch ein Instrument zur Sicherung der österreichischen Unabhängigkeit vor imperialen Abenteuern seines mächtigen Nachbarn.
Frieden und Neutralität, Antifaschismus und Solidarstaat bilden eine unauflösliche Einheit. Es wird wieder Zeit, das laut und unmissverständlich zu sagen. Am 18. Mai 2014, beim Umzug vom Haus der EU zum österreichischen Parlament unter der Losung „Solidarstaat statt EU-Konkurrenzregime!“ besteht Gelegenheit dazu. Sei dabei!