Die Bilanz des Afghanistan-Krieges ist schaurig. Nach Angaben des afghanischen Innenministeriums fielen diesem Krieg alleine im vergangenen Jahr 10.000 Menschen zum Opfer. Die Gesamtzahl der Toten seit dem US-Überfall auf das Land im Jahr 2001 schätzen Friedensforscher auf bis zu 100.000.(1) Auch die wirtschaftlichen Kosten sind horrend: Alleine die Kosten der USA beliefen sich bisher auf über 460 Milliarden US-$. Seit dem Amtsantritt von Obama haben sich die jährlichen Kosten verdoppelt – auf geplante 122 Milliarden im heurigen Jahr (2).
Neoliberale IWF-Giftküche.
Dabei ist dieser Krieg längst kein US-amerikanischer mehr alleine. Die EU-Staaten haben im Rahmen der NATO-Mission ISAF ihr Truppenkontingent Schritt für Schritt erhöht – von 16.900 Ende 2007 auf 31.811 Mitte 2011, also mittlerweile knapp ein Viertel der 130.000 NATO-Soldaten am Hindukusch. Von Anfang an war die EU auch eng in den Prozess des neoliberalen Umbaus der afghanischen Wirtschaft eingebunden. So lobt der Internationale Währungsfond im Jahr 2003, dass u.a. von der EU „die vom IWF für Afghanistan maßgeschneiderten Aktionspläne sukzessive implementiert werden.“ (3)
Gestützt auf die NATO-Militärmacht verwandelten IWF, Weltbank, EU und US-Finanzministerium Afghanistan in ein neoliberales Exerzierfeld. So konnte das deutsche Bundesamt für Außenwirtschaft 2007 zufrieden resümieren: „Die marktwirtschaftliche Ausrichtung der Wirtschaft und der Schutz von Investoren wurden in die afghanische Verfassung aufgenommen. Afghanistan kann als eine der offensten Volkswirtschaften überhaupt, auf jeden Fall aber als die offenste Volkswirtschaft der Region bezeichnet werden. Handelsbeschränkungen und Subventionen sind praktisch nicht existent, und die afghanische Regierung zeigt sich sehr aufgeschlossen für Investitionen im Land.“ (4) Für wen Afghanistan „offen“ ist, zeigt das afghanische Investitionsregister: Siemens, Coca Cola, British Petroleum, Alcatel, e.on etc. ist der 100%-ige Transfer von Gewinnen und Kapital aus dem Land heraus ebenso garantiert wie die Steuerfreiheit für die ersten vier bis acht Jahre. Die Zölle wurden dramatisch gesenkt, staatliche Betriebe reihenweise privatisiert oder liquidiert.
Die Konsequenz dieser Rezeptur aus der neoliberalen IWF-Giftküche: Einheimische, kleine Unternehmen mussten reihenweise schließen, 50 bis 70% der erwerbsfähigen Bevölkerung sind heute ohne geregeltes Einkommen. Selbst die UNO berichtet, dass sich die wirtschaftliche und soziale Situation seit dem Einmarsch der Westmächte gravierend verschlechtert hat: Die Zahl der Menschen, die in Afghanistan in Armut lebt, ist von 33 auf 42% gestiegen, die Zahl der Unterernährten von 30% auf 39%, die Zahl der Menschen in Slums von 2,4 Millionen auf 4,5 Millionen, die Jugendarbeitslosigkeit von 26% auf 47%, die Analphabetenquote von 34% auf 36,5%. Zugang zu sanitären Anlagen haben nicht mehr 12%, sondern nur mehr 5,2% der Bevölkerung.(5) Die groß angekündigte Entwicklungshilfe des Westens für das notleidende Land macht weniger als ein Zehntel der Kriegskosten aus. Zudem – so schätzt das “Center for Strategic and International Studies“ - wird sie zu 90% als „gebundene Hilfe“ gewährt, d.h. die Gelder müssen an Firmen der Geberländer zurückfließen. Die Arbeitsbedingungen bei westlichen Firmen sind katastrophal: So müssen afghanische Arbeiter bei Straßenbauprojekten der Louis Berger Group 7 Tage in der Woche für 90 Euro im Monat arbeiten, ohne Krankengeld. Westliche Aufsichts- und Securitykräfte „verdienen das 10-, 100- oder 1.000-fache der afghanischen Kollegen.“ (5)
Arbeitslosigkeit und Armut als Hauptursache für Krieg
Manche erinnern sich vielleicht noch daran, wie der grüne Außenminister Deutschlands Joschka Fischer die Teilnahme am Afghanistankrieg mit der Befreiung der Frauen gerechtfertigt hat. Das diesbezügliche Urteil der afghanischen Frauenrechtlerin Malalai Joya fällt vernichtend aus: „Die USA und ihre Verbündeten nahmen die Not der afghanischen Frauen als Begründung für ihren Angriff gegen Afghanistan, behaupteten, den afghanischen Frauen Freiheit gebracht zu haben. Aber das ist nichts als eine Lüge. Das Land ist in den Händen von Warlords und Drogenbaronen, die bis auf die Knochen frauenfeindlich sind. Die Frauen leiden mehr denn je. Die Selbstmordrate unter Frauen war noch nie so hoch.“ (5)
Unter diesen Umständen wundert es nicht, dass eine Umfrage von Oxfam über die Motivation, sich dem Widerstand anzuschließen, zum Ergebnis kommt: „70 Prozent der Befragten in Afghanistan nennen Armut und Arbeitslosigkeit als Hauptursache für den andauernden bewaffneten Konflikt in ihrem Land.“ (6)
Österreich mit dabei.
Die Ankündigung eines westlichen Truppenrückzugs bis 2014 ist mit Vorsicht zu genießen. Zum einen sollen über 2014 hinaus zumindest 50.000 NATO-Soldaten am Hindukusch die Stellung halten; EU-Außenministerin Asthon betonte bei der Münchner Sicherheitskonferenz 2011, dass die EU noch lange in Afghanistan bleiben werde. Im November 2010 verabschiedete die NATO auf ihrem Gipfeltreffen eine gemeinsam Erklärung mit der afghanischen Regierung, in der das Militärbündnis ihre „Absicht bekundet, praktisch andauernde Unterstützung für die afghanischen Sicherheitsinstitutionen zu liefern.“(7) Dabei ist man freilich aus Kosten- und Imagegründen bemüht, die Drecksarbeit der Aufstandsbekämpfung der vom Westen abhängigen Regierung Karsai selbst machen zu lassen. So soll die afghanische Armee von ursprünglich 70.000 Mann auf 270.000 vergrößert, die afghanische Polizei, faktisch Paramilitärs, von 62.000 auf 140-160.000 Polizisten aufgestockt werden. Bei Letzterem fällt der EU eine herausragende Rolle zu: Über die Mission EUPOL Afghanistan sowie über die „European Gendarmerie Force“, selbst eine paramilitärische EU-Truppe, soll die afghanische Polizei auf Vordermann gebracht werden. Dass es dabei nicht um die Regelung des Straßenverkehrs und die Verfolgung von Kleinkriminellen geht, wird unumwunden zugegeben. Detlef Karioth, leitender Polizeiberater an der deutschen Botschaft in Kabul: „In Afghanistan muss die Polizei zwangsläufig auch paramilitärische Aufgaben übernehmen.“ (8) Die Europäische Union kommt dabei nicht nur für den Löwenanteil der Kosten für die Ausbildung der afghanischen Polizisten auf, sondern auch für deren Gehälter, wie die damalige österreichische EU-Kommissarin Ferrero-Waldner 2009 öffentlich bekannt gab. Ab 2010 beteiligt sich auch Österreich erstmals mit einigen Polizisten an EUPOL Afghanistan. Nicht nur die Regierungsparteien, auch die Grünen stimmten dem zu; man beherzigt, was Joschka Fischer den Grünen ins Stammbuch geschrieben hat: Ohne Kriegszustimmung keine Regierungsbeteiligung.
Der Aufbau der afghanischen Repressionsapparate, zu dem die Westmächte die Regierung Karsai drängen, verschlingt ein Vielfaches der afghanischen Staatseinnahmen. Das veranlasste Rory Stewart, Direktor des Carr Center on Human Rights Policy, zu einem Kommentar, dem wenig hinzuzufügen ist: “Wir kritisieren Entwicklungsländer dafür, wenn sie 30% ihres Budgets für Rüstung ausgeben; wir drängen Afghanistan dazu, 500% seines Haushalts hierfür aufzuwenden. Wir sollten kein Geburtshelfer eines autoritären Militärstaats sein. Die hieraus resultierenden Sicherheitsgewinne mögen unseren kurzfristigen Interessen dienen, aber nicht den langfristigen Interessen der Afghanen.“ (9)
Ausführlichere Informationen siehe www.imi-online.de, Jürgen Wagner, Im Windschatten der NATO - Die EU und der Krieg in Afghanistan, Jänner 2011
Anmerkungen:
(1) vgl. Vortrag von Peter Strutynski, Afghanistan - Krieg für Demokratie und Menschenrechte?, 13.04.2011, Linz
(2) http://costofwar.com/en/about/counters/
(3) IWF-Bericht Nr. 03/299, Sept. 2003
(4) Wirtschaftsentwicklung 2006, Bundesamt für Außenwirtschaft, 19.01.2007
(5) siehe Jürgen Wagner, Im Windschatten der NATO – Die EU und der Krieg in Afghanistan, Jänner 2011
(6) Oxfam-Pressemitteilung, 17.11.2009
(7) Decleration by th NATO and the Government of the Islamic Republic of Afghanistan on an Enduring Partnership, Nov. 2010
(8) weblog-sicherheitspolitik, 13.03.2009
(9) Rory Stewart: The Irresistible Illusion, London Review of Books, 07.07.2009