9/11 New York, die Anschläge von Madrid und London 2006, ... Paris und Kopenhagen 2015, sie alle liefern Regierungen Grundlage, um unter dem Vorwand des "Anti-Terrorkampfes" tiefgreifende Eingriffe in unsere Grundrechte im Eilzugstempo durchzuziehen. Viele Maßnahmen werden seit Jahren geplant, und jedes neue Ereignis liefert Vorwand für weitere Überwachungsmaßnahmen durch den Staat. Seit 9/11 wurden 239 (!) sogenannte Anti-Terrorgesetze von der EU beschlossen, nach den Anschlägen von Paris planen die EU-Innenminister nun eine Vielzahl weiterer. Etwa die Neuauflage der EU-Vorratsdatenspeicherung für Kommunikation (VDS) nur diesmal erweitert um Social Media, Speicherung von Fluggastdaten und Finanzdaten, systematische Kontrollen von EU-BürgerInnen an Außengrenzen.
Unmittelbar nach den Terrorattacken in Frankreich Anfang Jänner hatten sich die Innenminister der sogenannten G-10 Länder in Paris getroffen. In ihrer Erklärung von Paris legten sie den Schwerpunkt auf repressive Maßnahmen, aber auch auf einige präventive Schritte. Vieles davon findet sich bereits in der Schlusserklärung des EU-Innenministerrates vom Dezember 2014. Darin findet sich z.B. bereits eine bessere Nutzung des Schengensystems zur Sicherung der EU-Außengrenzen vor Ein- bzw. Ausreise mutmaßlicher Jihadisten oder die „dringende Notwendigkeit“, eine europäisches Fluggastdatenaustauschssystem einzuführen. Fast gleichlautend war dann die Erklärung der anschließenden EU-Innenministerkonferenz von Riga. Wir finden in den Erklärungen vieles von dem, was seit Jahren in der Pipeline und in Entwicklung ist, aber u.a. aus grundrechtlichen Bedenken bisher abgelehnt wurde. Wir bringen hier für unsere LeserInnen eine Auszug der von der EU beschlossenen bzw. geplanten Maßnahmen und Initiativen.
Hier ein Überblick
- 1. Systematische Kontrollen von Staatsangehörigen der EU-Mitgliedstaaten an Außengrenzen: Diese sind laut dem Schengener Grenzkodex ausgeschlossen, zulässig ist lediglich "Mindestkontrolle" zur Feststellung der Identität sowie zur Überprüfung der Echtheit und Gültigkeit des Reisedokuments. Um die Kontrollen systematisch durchführen zu können, müssen die Mitgliedstaaten aber Kriterien ("Risikoindikatoren") definieren. Dies ist nicht vor Ende März zu erwarten. In Österreich wurde nach Medienberichten bereits an Flughäfen damit begonnen.
- 2. Neue Kategorie zu "ausländischen Kämpfern" im Schengener Informationssystem (SIS II): Im Schengener Informationssystem, der größten EU-Polizeidatenbank, soll eine neue Kategorie “Ausländische Kämpfer” eingeführt werden. Die dort gelisteten Personen können dann leichter heimlich getrackt werden – eine Maßnahme, die längst (nicht nur gegen “ausländische Kämpfer”) immer öfter eingesetzt wird. Verdächtige sollen bei der Ein- oder Ausreise in die EU von Grenzbehörden erkannt und dann besonderen Maßnahmen unterzogen werden. Auch ein Reiseverbot nach einer Passentziehung würde dort gespeichert. "Ausländische Kämpfer" meint Staatsangehörige der EU-Mitgliedstaaten, die nach Kämpfen in Syrien oder dem Irak bzw. einer entsprechenden Ausbildung im Jemen nach Europa zurückkehren und dort womöglich Anschläge begehen könnten.
3. Fluggastdatensammlung (Europäische Passenger Name Record-EU-PNR): Das EU-Parlament hat die anlasslose Massenspeicherung von Fluggastdaten nun im Februar beschlossen. Damit werden die Reisebewegungen aller Flugreisenden überwacht und die Passagiere unter Generalverdacht gestellt. Mit der Sammlung von Fluggastdaten auf Vorrat droht der Gläserne Passagier Wirklichkeit zu werden, denn neben den Reisepassdaten sollen u.a. ausführliche Kontaktangaben, Reiseroute, Informationen über Mitreisende sowie Essenswunsch (vegetarische oder koschere Mahlzeiten) des Fluggastes, Mailadressen, Handynummer und Kreditkartennummer und ev. sein Gesundheitszustand gespeichert werden. Die EU-Innenminister wollen die Flugpassagierdaten aller Personen, die in die EU ein- und ausreisen, für fünf Jahre lang speichern. Die EU-PNR-Richtlinie soll bis Ende 2015 abgeschlossen sein.
Das Fluggastdaten-Abkommen steht seit Jahren auf der Wunschliste der EU und Datenschützer und Bürgerrechtsaktivisten machen seit Jahren dagegen mobil. Bereits 2011 wollte die EU die EU-PNR einführen, was jedoch erst jetzt durch den Druck des Terroranschlags von Paris zu gelingen droht.
2011, als die Fluggastdaten-Abkommen mit den USA abgeschlossen sah der US-Bürgerrechtsaktivist Edward Hasbrouck in den Abkommen "eine Gefahr für die Reisefreiheit" , da sämtliche Reisebewegungen überwacht werden. Futurezone berichtete, das "unter Hasbroucks persönlichen PNR-Daten, die der Reisejournalist 2007 zum ersten Mal bei den US-Behörden angefordert hatte und 2010 endlich einige Ausschnitte davon zu Gesicht bekam, sich beispielsweise auch eine gespeicherte Zugverbindung zwischen Brüssel und Paris befand. Es war zudem ein Vermerk zu finden, dass vor einem bestimmten Flug seine Schuhe gewaschen wurden, oder dass er einmal einen Apfel und ein Stück Brot mitgenommen hatte und ihm der Apfel abgenommen wurde, er das Brot aber behalten durfte. "Bei einer anderen Personen war in den PNR-Daten gespeichert, dass sie ein Buch über "Drogen und Ihre Rechte" mitgeführt hatte", erzählte Hasbrouck.
- 4. Europol-Datensammlung "ausländischen Kämpfer": Die EU-Polizeiagentur Europol richtet eine Datei "Travellers" ein, um dort Angaben zu verdächtigen Personen zu speichern. Ihre Reisebewegungen sowie sonstige Informationen sollen mit neuartigen Data Mining-Methoden ausgewertet werden.
Das Phänomen der "ausländischen Kämpfer" soll also Maßnahmen begründen, die längst in der Pipeline sind, aber politisch zunächst nicht durchsetzbar waren. "Extremismus", "Terrorismus" oder "Radikalisierung" sind Container-Begriffe und dadurch geeignet, sie jederzeit politisch neu zu definieren. Dann können sie gegen andere unliebsame Bewegungen in Stellung gebracht werden meint Matthias Monroy auf Heise.
- 5. Interpol-Datenbank für gestohlene und verlorene Reisedokumente: Diese soll von Grenzbehörden zukünftig immer gemeinsam mit dem SIS II abgefragt werden. Interpol fordert auch, Privatfirmen Zugang zu gewähren, wenn ein Bankkonto eröffnet, ein Auto gemietet oder in ein Hotel eingecheckt wird.
- 6. Zusammenarbeit mit Drittstaaten: Auf Initiative der USA haben mehrere Staaten und supranationale Organisationen 2011 das Global Counterterrorism Forum gegründet. Unter Federführung der Niederlande und Marokkos wurde ein Arbeitsschwerpunkt "ausländische Kämpfer" eingerichtet. Über das GCTF kann auch mit anderen "Schlüsselländern" zusammengearbeitet werden. Hierzu gehören Libyen, Algerien, Ägypten, Jordanien, Libanon, Marokko, Tunesien und der Irak. Ein besonderer Augenmerk liegt aber auf der Türkei, die für "ausländische Kämpfer" als bevorzugter Transitstaat gilt.
- 7. Aufspüren und Bekämpfen von "Terrorismusfinanzierung": Polizeibehörden sollen mehr Gebrauch von den bei Banken und Kreditinstituten auf Vorrat gespeicherten Finanzdaten machen. Um internationale Finanzströme zu entdecken, erlaubt die EU bereits jetzt US-Fahndern den Zugriff auf die Bankdaten von Verdächtigen in Europa. Das TFTP-Abkommen, "Programm zur Verfolgung terroristischer Finanzströme", gewährt seit 2010 Einblick in Kontobewegungen.
- 8. Maßnahmen gegen "terroristische Online-Aktivitäten": "Instrumente und Techniken" sollen entwickelt werden, um Twitter, Google, Microsoft und Facebook zu umgehenden Löschungen zu veranlassen. Dabei ist die Abgrenzung von Terrorismus undpolitischem Widerstand schwierig. Typischerweise werden Personen und Bewegungen, die von einer Seite als gewalttätige, aber legitime Untergrund- oder Widerstandskämpfer angesehen werden, aus einem anderen Blickwinkel als Terroristen bezeichnet, und umgekehrt. In der EU Terrorimus-Definition, die mittlerweile über eine Richtlinie in allen EU-Staaten ins nationale recht gehämmert wurde, heißt es u.a., dass "Taten als terroristische Straftaten eingestuft werden, wenn sie mit dem Ziel begangen werden, [...] öffentliche Stellen oder eine internationale Organisation rechtswidrig zu einem Tun oder Unterlassen zu zwingen oder die politischen, verfassungsrechtlichen, wirtschaftlichen oder sozialen Grundstrukturen eines Landes oder einer internationalen Organisation ernsthaft zu destabilisieren [...]." Nun, die BesetzerInnen der Hainburger Au würden heutzutage wohl Gefahr laufen, als TerroristInnen gebrandmarkt zu werden.
„Online-Überwachung ist eine wachsende Gefahr für Journalisten, Blogger und Verteidiger der Menschenrechte“, sagt Reporter-Ohne-Grenzen-Generalsekretär Christophe Deloire.
9. Vorratsdatenspeicherung von Telekommunikationsdaten: lt. Sitzungsprotokoll der EU-Kommission will der EU-Innenkommissar Avramopoulos eine “breit angelegte Konsultation” starten, ob es einen neuen Anlauf Vorratsdatenspeicherung geben soll, diesmal ev. mit Ausweitung auf Social Media. Der erste Vorschlag für eine neue EU-RL zur VDS soll bereits im März vorliegen.
Wir erinnern uns: zahlreiche Menschen forderten beharrlich in friedlichen Demonstrationen den Schutz ihrer (unserer) Privatsphäre, die Wahrung der Grund- und Freiheitsrechte, wehrten sich, gegen die anlasslose Speicherung unserer Kommunikationsdaten, gegen die Abschaffung der Unschuldsvermutung. Am 1.4.2012 trat die VDS in Österreich in Kraft und wurde nach Klagen u.a. von AK-Vorrat beim EuGH vom Verfassungsgerichtshof 2014 gekippt, da sie von diesen als grundrechtswidrig beurteilt wurde. Die EU-RL entstand 2006 in Reaktion auf die Terroranschläge von London und Madrid um "besser Terrorismus und schwere Kriminalfälle bekämpfen zu können."Auch in Österreich gibt es Forderungen nach einer Wiedereinführung der umstrittenen Vorratsdatenspeicherung (VDS), wogegen am 27. Jänner 2015 AktivistInnen von AK-Vorrat vor dem Innenministerium ein Zeichen des Protests setzten."JE SUIS TERRORISTE?!" - Lassen wir uns nicht wie Terroristen behandeln! stand auf ihren Protestschildern.
- 10. Cryptowars - Verschlüsselung mit Hintertür: IT-Anbieter sollen sogenannte "Crypto-Keys" für Polizei und Geheimdienste hinterlegen, damit diese dann verschlüsselte Verbindungen oder Mails überwachen können.
In einem von der Bürgerrechtsorganisation Statewatch geleakten Papier (PDF) aus dem EU-Rat ist die Rede davon, dass Internetanbieter ihre Codeschlüssel mit Behörden teilen müssten. Diese wollen also eine Art Nachschlüssel für jede digitale Kommunikation in der EU haben. Dagegen fordert der Chaos Computer Club, dass Verschlüsselung zur Pflicht werden soll, um die Privatsphäre zu schützen. Eine "Hintertür" kann aber auch von anderen genutzt werden, bestätigt der Cert.at-Leiter Robert Schischka in einem Interview mit futurezone: "Ich denke, dass es ein Grundrecht gibt, gesichert kommunizieren zu können. Als Techniker weiß ich: Wenn man solche Hintertüren einbaut ist immer das Problem, dass man nicht verhindern kann, dass diese Hintertüren nicht auch von anderen ausgenutzt werden. Aus technischer Sicht ist es eine schlechte Idee, kryptografische Verfahren gezielt zu schwächen. Das ist ein weiterer Angriffsvektor, der nicht nur der Polizei zur Verfügung steht, sondern all den anderen auch."
Wie eine Anfrage der futurezone beim Bundesministerium für Inneres (BMI) ergab, will man auch in Österreich auf verschlüsselte Kommunikation zugreifen dürfen. Auf die Frage, ob österreichische Behörden befugt sein müssen, verschlüsselte Kommunikation zu entschlüsseln oder zu umgehen, antwortete der Pressesprecher des BMI, Karl-Heinz Grundböck: „Ja, das kann im Anlassfall notwendig sein und ist in der aktuellen Sicherheitsoffensive berücksichtigt.“ Wie genau das geschehen soll, blieb vorerst offen.
239 Anti-Terror-Gesetze
Seit den Terroranschlägen von 9/11 passiert eine Verschärfung der Kommunikationsüberwachung durch den Staat, als Rechtfertigung für die Einführung neuer Gesetze. Seit 9/11 hat die EU mindestens 239 Anti-Terror-Gesetze beschlossen.
"Es ist Zeit, zu einer faktenbasierten Sicherheitspolitik zurückzukehren. Viele der 239 Anti-Terror-Gesetze, die in der EU seit dem 11. September 2001 erlassen wurden[8], helfen nicht, die Bevölkerung zu schützen und höhlen unsere demokratischen Grundrechte auf gefährliche Art und Weise aus", so Thomas Lohninger, Geschäftsführer des AKVorrat.
Mehr Überwachung nach den Anschlägen in Paris ist eine Sackgasse, meint auch der Sicherheitsforscher Reinhard Kreissl, Leiter des Vienna Center for Societal Security. Die Politik solle stattdessen mehr Geld für Bildung ausgeben. „Der Ausbildung von jungen Menschen, der Einsatz von Street Workern und die Weiterbildung von Polizei und Verfassungsschutz sollte eine höhere Priorität zu Gute kommen. Das würde einen größeren gesellschaftlichen Sicherheitsgewinn mit sich bringen als der Ausbau von Überwachung“, rät der Experte. Getrieben sei der Ausbau von Überwachung allerdings nicht nur durch neue Gesetzesvorschläge. „Da steckt auch ein starkes, industrielles Motiv dahinter. Die Sicherheitsindustrie boomt und da steckt ein irrsinniger wirtschaftlicher Komplex dahinter der ein Interesse daran hat, Überwachung voranzutreiben“, so der Sicherheitsforscher. Während es im Sozial- und Bildungsbereich an allen Ecken und Enden an Geld fehlt, konnte die Regierung über Nacht ein 290 Millionen Euro für ein sog. "Sicherheits"-Paket locker machen, das von Überwachungsmaßnahmen im IT-Bereich bis hin zum Ankauf von Polizeihubschraubern reicht.
Eveline Steinbacher von der Solidarwerkstatt: "Milliarden werden weltweit für Rüstung und Überwachungsmaßnahmen ausgegeben, die den Menschen letztlich weder Frieden noch Sicherheit bringen - eine völlig fehlgeleitete Politik! Statt Geld in Bildung, Zusammenarbeit, in Projekte zu investieren die dem Leben dienen, die die menschlich humanistische Entwicklung fördern und nicht die Kassen der Lobbyisten, Todeshändler und Firmen der Sicherheitsbranche füllen. Fordern wir von unseren politischen Vertretern unsere Steuermilliarden in friedensbildende Maßnahmen zu investieren, ohne weitere Überwachung-und Selbstzensierungmaßnahmen.
Opfern wir nicht unsere Grund- und Freiheitsrechte für vermeintliche 'Sicherheit'. Wir brauchen keine weiteren Überwachungsprogramme. Terror darf niemals zu einer Abschaffung von Grundrechten und unserer Privatsphäre, unserer Freiheit führen. Wer das Recht auf Privatsphäre untergräbt, untergräbt letztendlich unsere demokratischen Grundrechte. Wenn wir wirklich Sicherheit wollen, müssen wir aufhören Krieg und Gewalt in andere Länder zu exportieren. Denn wer Gewalt sät, wird Terror ernten. Gerade in Libyen erleben wir derzeit, welche fatale Gewaltspirale der Krieg von EU und USA gegen das Land ausgelöst hat. Der wichtigste Beitrag zum Schutz der BürgerInnen ist daher eine aktive Friedens- und Neutralitätspolitik und der sofortige Ausstieg Österreichs aus den überbordenden EU-Rüstungs- und Überwachungsprogrammen."
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