Manchem Leser erscheint diese Frage nun im ersten Moment sicher als irrelevant oder an den Haaren herbeigezogen. Ist sie aber nicht, da der arme alte Kreisky – er kann sich ja dagegen nicht mehr wehren - mit seinem guten Namen zur Auszeichnung des Brüsseler Haus- und Hof-Schriftstellers Robert Menasse herhalten muss.
Im SPÖ-„Bruno Kreisky-Forum“ wurde Menasse im Juni 2023 der „Bruno Kreisky-Preis für das politische Buch“ überreicht. Bekommen hat er diesen für sein neuestes Buch „Die Erweiterung“ (2022), de facto das 3. Werk seiner EU-Trilogie nach „Der europäische Landbote“ (2012) und „Die Hauptstadt“ (2017).
Alle 3 Bücher eint eine mehr oder weniger skurril-unterhaltsame Beschreibung der „europäischen Idee“, Brüssels und seiner Bürokraten und der EU-Erweiterung nach Süd-Ost/Ost, getragen und umrandet mit für Menasse übliche fiktiv-absurde Romangeschichten- und -figuren.
Der Kern dieser Geschichten ist eine klare Botschaft, mit der der Autor auch selbst in Interviews und Ansprachen nicht zurückhält: Es geht ihm um nichts weniger als die Propagierung EUropas und die Abschaffung nationalstaatlich konstituierter Demokratie, die für den Autor destruktiv ist, zugunsten eines EU-Superstaates.
Die historisch gewachsene Grundlage, auf der zumindest sowas wie bürgerlich-demokratische Willensbildung stattfinden kann und die den bisher, im Sinne der Völker, erfolgreichsten Handlungsrahmen darstellt, in dem von und für den/die arbeitenden Menschen und unteren Klassen- gerade von und mit der Sozialdemokratie- ein Sozialstaat, Arbeitsrechte, relative Mitbestimmung errungen und österreich-spezifisch durch Neutralität und kluge eigenständige Außenpolitik Jahrzehnte Friede gesichert werden konnte, soll final und irreversibel in einem EUropäischen Großraumprojekt aufgehen.
Der „glühende Europäer“
Menasse zählt zur Kategorie „glühender Europäer“. Das ist eine Stufe über dem „überzeugten Europäer“. Der „glühende Europäer“ unterscheidet sich vom „überzeugten Europäer“ durch seine Kompromisslosigkeit und seinen hartnäckigen Missionarseifer. In seinem Essay „Der europäische Landbote“ (2012) sprach sich Menasse deutlich für die Transferierung der Politik von den Staaten hinauf zur EU-Ebene aus und plädierte dafür, den Nationalstaat hinter sich zu lassen. Dazu müsse man sich mit dem Gedanken anfreunden, „die Demokratie erst einmal zu vergessen, ihre Institutionen abzuschaffen, soweit sie nationale Institutionen sind, und dieses Modell einer Demokratie, das uns so heilig und wertvoll erscheint, weil es uns vertraut ist, dem Untergang zu weihen. Wir müssen stoßen, was ohnehin fallen wird, wenn das europäische Projekt gelingt. Wir müssen dieses letzte Tabu der aufgeklärten Gesellschaften brechen: dass unsere Demokratie ein heiliges Gut ist.“
Seine Rede im SPÖ-„Bruno Kreisky Forum“ hörte sich fast schon wie eine Forderung nach finaler Neuausrichtung der außenpolitischen Linie der SPÖ an: „Wir brauchen Politiker, die nicht als Österreicher starke Außenpolitik machen, sondern als Europäer globale Politik mitgestalten.“ Vor dem Hintergrund der aktuellen Weltentwicklung, der kriegerischen Konfrontation zwischen „West und Ost“, der neuen Blockbildung, der negativen Rolle der EU in dieser, sowie des grundsätzlichen neoliberalen EU-Vertragscharakters kann so eine Forderung nur imperial und antisozial verstanden werden.
Das erinnert an eine missionarische Herrschaftsidee, nicht an die Politik des roten Kanzlers. Dessen Überzeugung war es, nachdem er in den 50ern das Instrument der Neutralität erkannte, dieses Instrument zu nutzen und als neutraler Kleinstaat durch aktive souveräne Außen- und Friedenspolitik zwischen den Blöcken einen konkreten Beitrag für Frieden, Abrüstung und Stabilität in Europa und der Welt zu leisten. Gerade auch als richtige Lehre aus imperialem Weltkrieg und Nazi-Faschismus. Und natürlich auch nicht uneigennützig in wirtschaftlicher Hinsicht für das kleine Österreich, das sich geistig von der „Reichsidee“ verabschiedet hat und zu neuem Selbstbewusstsein fand. Kreisky blieb Zeit seines Lebens klar distanziert zur EWG/EG und stand stattdessen zu einer souveränen „EFTA-Treue“. Für Kreisky und die große Mehrheit der rot-weiß-roten Sozialdemokraten galt bis zur neoliberalen Machtübernahme Vranitzkys Ende der 80er folgender Ansatz: Einen positiven nationalstaatlichen Bezug zu festigen und fortschrittlich konnotierten Österreich-Patriotismus zu nutzen, um auch anderswo, eben klassisch internationalistisch, für Frieden, Dialog, Entspannung und Ausgleich zu wirken. Sowohl die multilateralen Organisationen OSZE und UNO als auch die Sozialistische Internationale (SI) waren aus Sicht Kreiskys dafür der probate Rahmen. Sozialreform, wirtschaftliche Stärkung und Vollbeschäftigung nach innen, Verständigung (in ALLE Richtungen) nach außen. Eine Kreisky’sche Reformpolitik wäre im engen Korsett der heutigen neoliberalen EU-Verträge gar nicht möglich. Sei es nun das Fiskalregime, das liberale Eigentumsverständnis, die fest- und vorgeschriebene marktradikale Durchdringung aller Bereiche als auch die „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) der EU. Das heißt, eine Wiederaufnahme vorwärtsgerichteter und tiefgreifender sozialdemokratischer Reformpolitik „im Sinne der arbeitenden Mehrheit“ und des Friedens impliziert auch die Notwenigkeit, die EU-Verträge radikal in Frage zu stellen und hinter sich zu lassen.
Anti-neutrale Intellektualität zahlt sich aus
Wie Menasse konkret zur österreichischen Neutralität steht, hat er mit seiner Unterstützung des offenen Briefes der „Prominenten- und Intellektuellen-Initiative“ im Jahr 2022 an die Bundesregierung eindrucksvoll bewiesen. Darin fordern österreichische Promis eine „ergebnisoffene Diskussion“ weg von der Neutralität, hin Richtung NATO/ „EU-Armee“, gerade vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine. Was hat das mit Kreisky’scher Politik zu tun?
Kreisky würde sagen: „Lernen’s Geschichte, Herr Menasse!“
Und Kreisky würde vermutlich auch den neuen SPÖ-Parteivorsitzenden und jahrzehntelangen gründlichen EU-Kritiker Andreas Babler fragen, wie er in seiner Gratulationsadresse an Menasse darauf kommt, die Sozialdemokratie könne „Menasses Leidenschaft mitnehmen“ und „mit diesem Schwung für Gerechtigkeit und Solidarität sorgen“.
Nachdem die EU-Skepsis gerade in Österreich stark ausgeprägt ist und tendenziell zu- als abnimmt, brauchen die politischen Eliten und herrschenden Kreise natürlich das passende Gegenmittel auch im literarischen Bereich. Für die „Intellektuellen“ und jene, die sich dafür halten. Vielleicht sind vor diesem Hintergrund auch die großzügigen Förderungen und Unterstützungen - u.a. vom Glückspielkonzern NOVOMATIC für den „Europäischen Landboten“- sowie Stipendien zu erklären, die Menasse in den letzten 20 Jahren aus diversen Fördertöpfen lukrieren konnte. Hätte er diese Gelder auch für ein fortschrittlich-kritisches Werk über den „Brüsseler Verein“ erhalten? Das darf bezweifelt werden.
Zusammengefasst: Menasse und seine Weltsicht haben mit Kreisky und dessen Politik genauso viel zu tun, wie der Vorsitzende eines Arbeiterabstinenzlerbundes mit einem hantigen Branntweiner. Menasse kann es egal sein, der SPÖ sollte es das aber nicht sein. Gerade sie bemüht Kreisky und die Errungenschaften der Vor-Vranitzky-Sozialdemokratie in jeder Sonntagsrede. Alles Schall und Rauch?
(Juli 2023)