Etliche Regierungen verwenden die Coronapandemie als Vorwand, um die Politik auf autoritäre Gleise zu bringen. Jüngstes Beispiel: Victor Orban, der einen zeitlich unbefristeten Ausnahmezustand in Ungarn ausrufen lässt. Darüber sind zurecht viele empört. Gleichzeitig herrscht enorme Blindheit gegenüber einem autoritären Großangriff auf die Demokratie, der von einer anderen Seite droht. Seine Kurzbezeichnung: ESM.

Die EU hat sich in der Corona-Krise – wieder einmal – als inkompetent und kontraproduktiv herausgestellt. Sie hat mit ihren Austeritätsvorgaben die Gesundheitssysteme in vielen EU-Staaten, insbesondere in Ländern wie Italien, Spanien, Griechenland, devastiert, sodass sie nun hoch verletzlich dieser Pandemie gegenüberstehen. Und was die konkrete Hilfe angeht: China, Russland und Kuba sind solidarischer mit Italien als die EU-Staaten, die bislang eher dadurch auffällig wurden, dass sie Hilfslieferungen nach Italien blockieren bzw. erschweren.

Instrument der Erpressung und Entmündigung

Gleichzeitig ist für viele Menschen klar geworden: Der von den EU-Führern geschmähte Nationalstaat hat sich – bei aller Kritik im Detail - als handlungsfähig beim Kampf gegen die Ausbreitung des Virus und hilfreich für die Menschen erwiesen. Für die EU-Eliten ist dieser Machtverlust des imperialen Zentrums unerfreulich. Sie arbeiten jetzt schon daran, zurückzuschlagen und die Coronakrise zu nutzen, um ihre Macht zu restaurieren.

Die Instrumente dafür liegen bereit. Denn zur Bewältigung der wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Coronapandemie werden die Nationalstaaten viel Geld in die Hand nehmen müssen. Für Nationalstaaten, die über eine eigene Währung verfügen, ist das bewältigbar, ohne sich den internationalen Kapitalmärkten ausliefern zu müssen. Doch für die Euro-Staaten ist der Euro eine Fremdwährung. Sie haben keine Verfügung darüber. Die Verfügungsgewalt liegt bei der EZB, die sogar ausdrücklich gemäß EU-Primärrecht demokratiepolitisch nicht belangt werden darf. Diese Situation war bereits nach der großen Finanz- und Wirtschaftskrise der entscheidende Hebel, um die besonders hart getroffenen Staaten politisch zu entmündigen. Dafür wurde 2012 der ESM („Europäische Stabilitätsmechanismus“) aus der Taufe gehoben. In gewohnt zynischer Art wurde er als „Rettungsschirm“ für notleidende EU-Staaten verkauft, tatsächlich war und ist der ESM ein gnadenloses Instrument der Erpressung und Entmündigung.

Autoritär neoliberales Korsett

Die EU dient nicht der Solidarität, sie ist im Gegenteil so konstruiert, dass ein permanenter Wirtschaftskrieg zwischen den Mitgliedsstaaten erzwungen wird. Der finnische Europa-Minister Alexander Stubb hat den Zusammenhang präzise beschrieben: „Der Euro ist im Grunde eine darwinistische Währung geworden. Es gilt das Prinzip vom Überleben des Stärkeren.“ (1). Denn EU-Binnenmarkt und Währungsunion berauben v.a. die schwächeren Staaten wichtiger Instrumente (Handelsregulierung, Kapitalverkehrskontrollen, Währungsabwertung, Industriepolitik), um ihre Binnenwirtschaft schützen und entwickeln zu können. Bei einem externen Schock, wie etwa der Coronakrise, beraubt es den Staat außerdem der Möglichkeit, mit autonomen geld- und fiskalpolitischen Instrumenten gegenzusteuern und dabei die Notenbank als "lender of last resort" zu nutzen. Die Staaten müssen sich teuer auf den internationalen Kapitalmärkten, also bei großen Vermögensbesitzern, ver- und überschulden. Mit dem EU-Fiskalpakt wurde ein Werkzeug geschaffen, um zunächst die Definitionsmacht, wann „Überschuldung“ bzw. „übermäßiges Defizit“ vorliegt, und sodann die reale Macht, wie mit dem „Defizitsünder“ zu verfahren sei, an die EU-Kommission übergehen zu lassen. Der ESM sorgt dann mit dem Geld der Steuerzahler (sh. unten) dafür, dass für diese großen Vermögensbesitzer das Verlustrisiko minimiert bzw. die Renditen gesichert werden – und zugleich der „gerettete“ Staat unter drakonische Fremdbestimmung kommt.

Kurz gesagt: EU-Binnenmarkt- und Währungsunion machen aus der Gesundheitskrise eine Staatsschuldenkrise. Und der ESM macht dann aus der Staatsschuldenkrise ein Demokratiekrise. Dieser antidemokratischen Zielsetzung entspricht eine durch und durch autoritäre Konstruktion des ESM:

Eigenmächtige Erhöhung des Stammkapitals

700 Milliarden mussten von den EU-Staaten entweder direkt einbezahlt (80 Milliarden) oder in Form von „jederzeit abrufbarem“ Kapitals (620 Milliarden) für den ESM bereitgestellt werden. Damit wurde ein „anfängliches Darlehensvolumen“ von maximal 500 Mrd. Euro sichergestellt. Aber es kann noch viel mehr werden, denn der Gouverneursrat kann eigenmächtig eine Erhöhung des Stammkapitals – ohne Obergrenze! – beschließen, das die Nationalstaaten bereit stellen müssen. Österreich hat derzeit 2,2 Mrd. direkt einbezahlt und haftet für 19,5 Mrd. Aber im Krisenfall gilt: nach oben offen.

Alle Macht dem Gouverneursrat

Die Entscheidung über diese gewaltigen Summen trifft eine kleine Technokratenelite von Regierungsvertretern mit dem bezeichnenden Namen „Gouverneursrat“, der wiederum ein Direktorium aus Leuten „mit großen Sachverstand im Bereich Wirtschaft und Finanzen“ bestimmt. Selbst innerhalb dieser Technokratenelite gibt es eine klare Hierarchie. Denn mit dem ESM wird Euro-Land endgültig zur Aktiengesellschaft. Abgestimmt wird nach dem eingezahlten Grundkapital. In keiner EU-Institution sind die deutschen Eliten so mächtig wie im ESM (sh. Grafik). Nur die deutsche und französische Regierung verfügen bei Entscheidungen mit qualifizierter Mehrheit (80% des Grundkapitals) über eine sog. „Sperrminorität“, alle anderen können überstimmt werden.

Grafik ESM

„Strenge Auflagen“

Die ESM-„Finanzhilfe“ wird an von der EU-Kommission ausgehandelte „Strukturanpassungsprogramm“ gegenüber dem Empfänger gekoppelt. Wörtlich: „Der ESM kann einem ESM-Mitglied unter strengen, dem gewählten Finanzhilfeinstrument angemessenen Auflagen Stabilitätshilfe gewähren. Diese Auflagen können von einem makroökonomischen Anpassungsprogramm bis zur kontinuierlichen Erfüllung zuvor festgelegter Anspruchsvoraussetzungen reichen.“ (Art. 12) Diese werden von der EU-Kommission „im Benehmen mit der EZB und wenn möglich unter Einbeziehung des IWF“ ausgehandelt. Die bisherigen Erfahrungen z.B. mit Griechenland und Spanien zeigen, dass diese „strengen Auflagen“ zu sozialen Verwüstungen, Ruinierung der öffentliche Gesundheitssysteme, hoher Arbeitslosigkeit und dauerhafter Abhängigkeit führen.

Vom Corona- zum Rüstungsbond?

Der ESM kann Kredite vergeben, Anleihen am Primär- und Sekundärmarkt kaufen, Anleihen begeben und Kredite aufnehmen. Durch die ESM-Hintertür ist die Möglichkeit für Euro-Bonds“ also bereits möglich geworden, ob sie nun so genannt werden oder nicht. Insofern ist der derzeitige Streit über die Frage Eurobonds oder ESM-Kredite möglicherweise vordergründig. Entscheidend für Merkel & Co ist, dass der ESM Dreh- und Angelpunkt der Corona-Strategie der EU wird. So können die deutschen Eliten die Gesundheitskrise am besten nutzen, um ihre Hegemonie in der EU zu festigen und direkte Durchgriffsrechte auf die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU-Staaten zu erlangen.

Darüber hinaus sollte man auch einen anderen Aspekt nicht aus dem Auge verlieren: Corona-Bonds könnten die Tür aufstoßen, strategische Projekte, die in den nationalen Parlamenten auf Widerstand stoßen, in Hinkunft über Eurobonds zu finanzieren. Was als Corona-Bond beginnt, könnte als Rüstungsanleihe für große EU-Militärprogramme enden – von Euro-Drohnen bis zu einer neuen Generation von Kampfbombern.

Die Coronakrise führt erneut vor Augen, worauf sich jene Kräfte strategisch konzentrieren müssen, die Sozialstaat und Demokratie verteidigen wollen: Österreich muss über so zentrale Bereiche wie Budget und Währung selbst bestimmen können: demokratisch und souverän! Nur so können aus dieser tiefen Gesundheitskrise Sozialstaat, Demokratie und unsere Solidarität mit anderen Staaten, die noch härter getroffen wurden, gestärkt hervorgehen.

Gerald Oberansmayr
(30.3.2020)

Quelle:
(1) Rede am Europa College in Brügge, zit. nach Süddeutsche Zeitung, 19.11.2011