ImageGedanken des Musikers und Schriftsteller Herwig Strobl beim Besuch des ehemaligen KZ Theresienstadt.



Mein inneres Bild von Theresienstadt/tsch. Terezin, vom Vorzeige-KZ der Nazis in NW-Böhmen, kaum 80 km von Dresden entfernt, musste ich bei meinem ersten Besuch am Donnerstag, 23. September 2010, an einem strahlenden Spätsommer-Frühherbsttag revidieren. In meiner Vorstellung erwartete ich Litomerice/dt. Leitmeritz als dumpfe, schläfrig graue Kleinstadt, irgendwo in einer Senke, wo man am Berg oberhalb der Stadt das gemauerte Ghetto und die unzähligen Baracken vorfände. In der Tat liegt das lebendige, farbenfrohe Städtchen oben auf einer Vulkanplatte, bespült vom Zusammenfluss von Oder und Elbe (Labe). Vier Kilometer entfernt, in der Ebene, ließ Maria Theresia 1780 in 10 Jahren Bauzeit, die über die Regentenzeit Joseph des Zweiten reichte, ein Bollwerk erbauen gegen die Preußen, gegen die deutschen Cousins quasi, mit denen die Chemie nie stimmte, mit denen man in Kriegen haderte, die unzähligen Vasallen das Leben kosteten. Und da musste ein ordentliches k&k Gefängnis her für die Aufrührer, Querdenker und Ungeliebten. Welch ein Aufwand, um unfriedlichen Frieden abzusichern! Ein Gefängnis zwischen Alter und Neuer Oder wurde errichtet, das man fluten hätte können, wo es kein Entrinnen gegeben hätte, weder damals noch in Nachnazi-Zeit.

Zwei Teile hat das KZ Theresienstadt, das so Prominente wie Gavrilo Princip, den Mörder des österreichischen Thronfolgers Erzherzog Franz Ferdinand/ Sarajewo aufnahm, der die Tortur kaum vier Jahre überlebt hat und dann 1918 an TBC etwas älter als 20 starb. Die Monarchie war fort, der junge tschechische Staat hatte Terezin geerbt. Nach den ersten Bergen von Ziegelwällen, unüberwindlichen in die Landschaft vergrabenen Schanzen-Kolossen zwischen (möglichen Wasser-) Gräben, betreten wir die Stadt, die harmlos aussehende Vorstadt, die Grazer oder Sarajewoer k&k Architektur zeigt. Hier haben die Nazis das Ghetto installiert. 7000 Menschen konnten unter friedlichen Bedingungen hier wohnen, in einer Stadt, die im 19. Jahrhundert Garnisonstadt war.

Bis zu 58 5000 pferchten die Nazis rein, wovon ein Viertel starb. Das Juden-Ghetto fungierte im Wesentlichen als Durchgangslager.  Breite Straßen liegen zwischen den zweistöckigen Wohnblöcken. Eine Kirche vermittelt Heimatgefühl, täuschend getarnt. Da zu wenig Nahrung bereit gestellt wird, sterben viele Hungers. Kaum 700 Meter entfernt vom Ghetto war die verborgene Bosheit schlechthin realisiert worden. In der „Kleinen Festung“ befinden sich - abermals abgeschottet durch Gräben und dicke Mauern - die  Verliese und Kerker. Über dem Eingang in den Hof des Polizeigefängnisses der GESTAPO findet sich der zynische >Arbeit macht frei<Slogan. Hier hat man Tausende interniert, mit Arbeit und Notration, in Einzel- und Gruppenzellen zu Tode gebracht. 

Die Schlafsäcke waren bald so ungeziefer-verseucht, dass man sie verbrannte. Die Inhaftierten schliefen nun auf den rohen Holzlatten. Jeder Betroffene genoss 30 cm Schlafbreite. Ansteckende Krankheiten, Epidemien, Hunger und Überbelegung taten das Übrigen hinzu, um sich der Juden zu entledigen.

Die Schülergruppen werden schweigsam, wenn sie an den ein Meter breiten Einzelzellen vorbeigeschleust werden. Man liest über den Wiener Rabbiner Benjamin Murmelstein, der im Ältestenrat den Juden vorstand. Hat er immer richtig gehandelt - als unentbehrlicher Verbindungsmann zwischen den Juden, deren viele nach Auschwitz ins Gas zur „Endlösung“ weiter geschickt wurden, während seine Freunde kurze Schonung genossen haben? – Man liest sich hinein, ist fassungslos über Details, über die menschliche Atrozität und Kälte, die, akribisch-antiseptisch  dokumentiert, noch grausamer erscheint.Plötzlich mischen sich drei Geschichten rein in meine Bilder von Terezin/Theresienstadt von heute-ehedem:

1) 1979 kam das „Totenbuch Theresienstadt“ raus, Jahre später in den Mitt-Achzigern wurde es zu unserer Musik von „10 saiten 1 bogen“ in der Wiener Synagoge unter Oberrabbiner Chaim Eisenberg der Öffentlichkeit vorgestellt. Zeit der Aufarbeitung begann loszubrechen. Wiesenthal, Kreisky – die Österreich-Lüge mit seinem gewichtig-lächerlichen Aushängeschild Bundespräsident Kurt Waldheim - war unser Nachkriegs-Geschichtsbild, selbst jenes des jüdischen Bundeskanzlers, der auf Bloßlegung der Wunden keinen besonderen Wert legte – und lieber den Aufdecker madig machte als seinen SS-Innenminister Friedrich Peter anzupatzen.

2) Bei meinen Musik-Literaturrundgängen  durchs jüdische und „braune“ Linz erzähle ich vom ältesten Linzer Juden, den selbst Gauleiter August Eigruber schonen wollte vor KZ und Vernichtung. In Eigrubers Abwesenheit brachte man den  100-jährigen Leopold Mostny nach Theresienstadt, wo er nur  noch Wochen lebte. Er hat den Linzern das Areal geschenkt, wo heute der Urfahraner Markt abgehalten wird.

3) Mein Freund Ernst, der einmal bei einem dieser Rundgänge mitging, vertraute mir an, dass sein Vater erst über 80-jährig, als Ernst schon vierzig und verheiratet war, erzählte, dass er als Jude Theresienstadt überlebte, weil er Kenntnisse im Bauwesen besessen hatte. Dies war das einzige Mal, dass in der Familie über Vaters verschwiegenes Geheimnis Judentum gesprochen wurde. Dass Oma und Opa von Ernst im Gas von Auschwitz – nach Zwischenstation Theresienstadt verliert sich jede Spur – umgekommen sind, war Thema am Rande. Und niemand hatte ja die offizielle Diagnose für ihr Zu-Tode-Kommen geglaubt.  

Das KZ wird im Mai 1945 von den Russen befreit. Die Tschechen haben noch Rechnungen offen. Mit Wissen der Befreier wird das Lager Terezin wieder genützt: Partisanen und widerständige deutsche Tschechen, Sudetendeutsche u.a.  finden hier dieselbe Zucht und Grausamkeit vor. Jahre vergehen, bis man sich besinnt, Ghetto und Lager als Mahnstätte, als Gedenkort der Öffentlichkeit übergibt. Nun pilgern Tausende hin. Das Restaurant  in der „Kleinen Festung“ betrachte ich als völlig deplatziert. Es gehört außerhalb des Lagers angesiedelt.

In mir ist eine heillose Sprachlosigkeit über das, was wir Menschen Anderen anzutun imstande sind. Das Bild der Welt hat sich geändert. Inzwischen haben wir eine in vielen Beziehungen bedrohte Geld-Armutswelt geschaffen, leben im Spannungsfeld von Gier und Ahnungslosigkeit, und meinen, Theresienstadt-Quantanamo könnte nie mehr wieder passieren. Uns wird von Friede und großer Freiheit berichtet. Während ich diesen Text notiere, liest vielleicht big brother mit und setzt mich auf irgendeine Liste. Ohnmächtige Wut brodelt in mir.

1984 ist vorüber. In unseren Knochen, aber auch noch in den Seelen unserer Kinder steckt die Ideologie Maria Theresias, jene ähnliche, jedoch verschärfte der Adolfe namens Hitler und Eichmann und die der unzähligen kleinen Adolfe, die im Gefolge blindlings agierten, die ich und meine Generation, geboren um 1940, eingesaugt hat. Ordentlich, klipp und klar, frisch und froh und freiheitlich – lauter unlauter gebrauchte, missbrauchte Begriffe, die nie mehr rein sein werden nach dem Missbrauch in unzähligen Facetten, die jetzt Thema sind in unserer Gesellschaft. Ich erinnere mich, dass Vater nach den beiden Wintern „an der russischen Front“, das heißt bei Charkow in der Ukraine und nach zwei Jahren Nazi-Umerziehungslager Glasenbach, einem Jahr als Hilfsarbeiter in den „Eisenwerken“, später VOEST, fronte. Dass sich sein Allmachts- und Übermenschendenken nicht verwandelt hat, sein tief sitzender Antisemitismus nicht von selbst sich verflüchtigt hat…Wer kann es ihm verdenken?

Aber wir vier Söhne und die vielen Söhne und Töchter unserer Zeit haben es hinein bekommen. Als Achtjähriger erlaubte mir Vater, das am wenigsten kantige Holzscheit zum Knien auszuwählen. Prügel und Demütigungen setzten sich fort bis zum Bruch zwischen uns, als ich schon Lehrer war. Aber auch in der so genannten Lehrerbildungsanstalt, wo uns Professoren demütigten und kujonierten, war Bosheit möglicher Alltag. Dass mein jüngerer Bruder Reiner 17-jährig zur Fremdenlegion flüchten wollten, weil ihn der Deutschprofessor bestrafen wollte mit einer unverdienten Deutsch-Fünf und Nachprüfung…  

Ich empfinde es wichtig, die Geschichten unserer Generation an die Kinder in Detailtreue mit Hintergründen weiter zu erzählen. Dass mir der herzliche Kontakt mit meinen Söhnen nicht durchgehend gelungen ist, so wie ich ihn mir wünschte…Wen soll ich verantwortlich machen? Theresienstadt, die Stunden dort, haben in mir die Aufforderung erneuert: Öffne dein Herz! Meine Bereitschaft dazu zu lernen ist da.