Mittlerweile sind eine Reihe von Antworten verschiedener Nationalrats-Abgeordneter und Regierungsvertreter auf unseren Offenen Brief "Für eine Volksabstimmung über den neuen EU-Vertrag!" eingetroffen . Im Sinne einer offenen Debatte dokumentieren wir hier die Antworten der Abgeordneten Van der Belllen, Caspar Einem und Josef Cap, der Nationalratspräsidentin Barbara Prammer sowie die Antworten im Auftrag von Bundeskanzler Alfred Gusenbauer und Bundesministerin Doris Bures. Diese Antworten strotzen teilweise vor Halbwahrheiten, Lügen, Verdrehungen und Auslassungen. Vor allem spricht aus ihnen die Arroganz, die Bevölkerung für unmündig zu erklären, selbst über einen so wichtigen EU-Vertrag entscheiden zu können. Eine Stellungnahme der Werkstatt Frieden & Solidarität zu diesen PolitikerInnen-Antworten findet sich nachstehend.


Stellungnahme im Auftrag der Bundesministerin Doris Bures

Aus unserer Sicht besteht kein Anlass für eine Volksabstimmung über den EU-Vertrag. Ich möchte Sie darauf hinweisen, dass der EU-Reformvertrag im Jahr 2005 mit 182 zu 183 Stimmen bereits ratifiziert wurde. In der Zwischenzeit wurde der EU-Vertrag außerdem in einzelnen Punkten für Österreich sogar verbessert. Daher stellt sich auch die Frage, warum man bei einem verbesserten EU-Vertrag eine Volksabstimmung durchführen soll, nachdem schon beim ersten keine Volksabstimmung druchgeführt wurde.
Wir sind daher der Meinung, dass sich Europa weiterentwickeln muss und dies ist im Interesse Österreichs und der europäischen Wettbewerbsfähigkeit.


Stellungnahme Alexander van der Bellen (Klubobmann der Grünen)

Die von Ihnen so genannte Aufrüstungsverpflichtung besteht bereits im Verfassungsvertrag lediglich für jene Länder, die im Rahmen der strukturierten Zusammenarbeit sich zu einem militärischen Kerneuropa bekennen. Die Grünen treten gegen die Bildung eines solchen Kerneuropas ein. Eine Beistandsverpflichtung besteht im Gegensatz zu Ihrer Behauptung keineswegs. In der Rüstungsagentur - dann Verteidigungsagentur - ist Österreich bereits heute vertreten ohne dass dafür eine Rechtsgrundlage besteht.

Die EU wird durch den Reformvertrag demokratischer und bürgernäher.  Er bringt viele Fortschritte hinsichtlich Gewaltenteilung und Grundrechten, die nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden sollten. In der Sache gibt es aus grüner Sicht in allen Bereichen mehr Fortschritte gegenüber den bisherigen Verträgen als Rückschritte. Stichworte Vollbeschäftigung und soziale Marktwirtschaft und strikte Einhaltung der UN-Charta.

Österreich hat ein repräsentativ-demokratisches System und Volksabstimmungen sind darin nicht als allgemein übliches Verfahren vorgesehen. Wir treten für eine möglichst breite und intensive öffentliche parlamentarische Debatte im Zuge der Beschlussfassung ein. Mit Ausnahme der FPÖ
treten alle Fraktionen für den Reformvertrag ein. Eine Volksabstimmung wäre in diesem Lichte allen Erfahrungen zu Folge eine Alibiaktion.

Der Reformvertrag hat durch das vorbereitende Verfahren in Konvent, Regierungskonferenz und nationale Ratifikationsprozesse die breiteste Legitimation von allen europäischen Rechtsakten. Hinzu kommt, dass die Garantie des Art. I-5 EU-Verfassungsvertrags („die EU achtet die grundlegende politische und verfassungsrechtliche Struktur ihrer Mitgliedstaaten“) aus österreichischer Sicht wohl als Anerkennung der Baugesetze der österreichischen Bundesverfassung verstanden werden muss. Es fehlt auch an Anhaltspunkten, dass mit der ausdrücklichen Fassung des Vorranges des Unionsrechtes vor nationalem Recht ein „grundlegender Qualitätswandel“ zur bisherigen Rechtslage verbunden ist, die eine nationale Volksabstimmung rechtfertigen würde.


Stellungnahme Caspar Einem (SPÖ)

Sie schreiben richtig, dass derzeit im Rahmen einer sog. Regierungskonferenz Verhandlungen über eine Änderung der heutigen Vertragsgrundlagen der EU – im wesentlichen des Vertrages von Nizza – stattfinden. Es ist auch richtig, dass dabei auf den Text des sog. Verfassungsentwurfs zurück gegriffen wird. Nicht richtig ist allerdings, dass Österreich damit einer Regelung unterworfen werden soll. Österreich sitzt als gleichberechtigtes Mitgliedsland mit am Tisch und könnte durch sein Veto den Abschluss dieses Verhandlungsprozesses blockieren. Dies allerdings nicht die Absicht der Bundesregierung. Und: Auch ich bin der Überzeugung, dass die EU eine neue Vertragsgrundlage braucht, die zumindest die Standards des sog. Verfassungsvertrages beinhaltet, der im Übrigen 2005 mit Ausnahme einer Gegenstimme nahezu einstimmig vom Nationalrat ratifiziert worden ist.

 

Die Behauptung, dass diese Ratifizierung rechtswidrig durch das Parlament erfolgt sei entbehrt der Grundlage. Es handelt sich bei dieser Vertragsänderung nicht um Eingriffe in die Grundlegenden Bauprinzipien der österreichischen Verfassung. Daher war eine Volksabstimmung nicht zwingend durchzuführen. Daran wird auch die derzeit stattfindende Regierungskonferenz aller Voraussicht nach nichts ändern.

 

Leider sind auch einige der Behauptungen im zweiten Absatz Ihres emails unzutreffend. So sieht der Vertrag keinerlei militärische Beistandsverpflichtung vor, sondern lediglich eine Solidaritätsverpflichtung bei Umweltkatastrophen. Dabei können jedoch alle Instrumente, die geeignet sind zu helfen, eingesetzt werden. Mit militärischer Beistandspflicht hat dies nichts zu tun.

 

Die von Ihnen behauptete Festschreibung der Marktwirtschaft mit ungezügeltem Wettbewerb ist weder heute noch morgen Vertragsgrundlage. Wenn Sie allerdings die Festschreibung einer wettbewerbsfähigen sozialen Marktwirtschaft eine Absage erteilen wollen, dann sollten Sie für den Austritt aus der EU und nicht für eine Volksabstimmung zum künftigen Vertrag eintreten. Denn auch heute ist die EU bereits der Marktwirtschaft und dem Wettbewerb verpflichtet, was sich durch den neuen Vertrag ändert ist der Begriff und sein Inhalt „soziale Marktwirtschaft“.

 

Eine Verpflichtung zur Privatisierung öffentlicher Dienstleistungen ist nicht vorgesehen. Vielmehr ist es gelungen, den Artikel III 122 des sog. Verfassungsentwurfs noch weiter durch ein Protokoll zu ergänzen, das eindeutig klarstellt, dass es die Mitgliedstaaten sind, die über diese Dienstleistungen zu entscheiden haben.

 

Auch die Behauptung, dass immer mehr Kompetenzen an die EU übertragen und damit der demokratischen Kontrolle entzogen werden ist so nicht nachvollziehbar. Wahr ist, dass die Kompetenzen des Europäischen Parlaments deutlich ausgeweitet werden und dass damit ein Gutteil der bisher bestehenden Demokratiedefizite der EU überwunden wird.

 

Zuletzt noch eine Anmerkung, die gerade auch im Lichte der in Ihrem email aufgestellten Behauptungen notwendig erscheint: Sie fordern, dass die Wählerinnen und Wähler in einer Volksabstimmung die Frage beantworten, ob ihnen der Vertrag von Nizza oder der revidierte künftige Grundlagenvertrag lieber ist bzw. vorteilhafter erscheint. Es ist offensichtlich, dass Sie bereits diesen Vergleich nicht angestellt haben. Sie wollen den zu erwartenden neuen Vertrag nicht, sehen aber offensichtlich nicht, wie viel von dem, was sie kritisieren, bereits heute Rechtsgrundlage der EU ist. Die Wähler zu veranlassen, zwei Rechtstexte von etwa 400 Paragraphen miteinander zu vergleichen und zu bewerten, ist nicht gerade realistisch. Es hat einen guten Grund, dass diese Frage von den gewählten Vertretern der WählerInnen beantwortet werden soll: sie werden dafür bezahlt, diese Arbeit zu leisten und sie verfügen über die nötigen Hilfsinstrumente für diese Arbeit.

 

Kurz: Ich werde mich nicht für Ihr Anliegen einsetzen, weil ich es für verfehlt halte und gehe davon aus, dass es meine Fraktion (SPÖ) es ebenso halten wird.

 

 

Stellungnahme Josef Cap (Klubobmann der SPÖ)

 

Ich bedanke mich für Ihr Mail zum EU-Vertrag, zu dem ich wie folgt Stellung nehmen möchte: Zurzeit wird auf EU-Ebene im Rahmen einer Regierungskonferenz über eine Änderung der EU-Verträge verhandelt. Diese Beratungen sind noch nicht abgeschlossen und es ist daher zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich, die Ergebnisse der Verhandlungen im Detail vorwegzunehmen.

Grundsätzlich bin ich der Auffassung, dass die mittlerweile auf 27 Mitgliedstaaten erweiterte Europäische Union eine neue Vertragsgrundlage braucht, um ihre Handlungsfähigkeit zu bewahren.Dies ist einer der Gründe, weshalb die sozialdemokratische Parlamentsfraktion dem Vertrag über eine Verfassung für Europa, der im Jahr 2005 mit Ausnahme einer einzigen Gegenstimme vom Nationalrat ratifiziert wurde, zugestimmt hat und daher befürworten wir auch jetzt die neuerlichen Verhandlungen über eine Vertragsreform.

Ich teile Ihre Auffassung, dass eine breite gesellschaftliche Debatte über die zukünftige Entwicklung der EU - nicht zuletzt auch über die Grenzen der europäischen Integration - notwendig ist. Von Seiten des österreichischen Nationalrates wurde der Prozess der EU-Vertragsreform daher stets intensiv begleitet und das ist auch bei der jetzigen Regierungskonferenz der Fall.

Ihre Behauptung, dass die Ratifizierung des EU-Verfassungsvertrags rechtswidrig durch das Parlament erfolgt sei, muss ich - da sie der Grundlage entbehrt - mit Entschiedenheit zurückweisen. Eine Volksabstimmung ist zwingend durchzuführen, wenn es sich bei einer Vertragsänderung um Eingriffe in die grundlegenden Bauprinzipien der österreichischen Bundesverfassung handelt. Dies war damals nicht der Fall. Auch die jetzt im Rahmen der Regierungskonferenz diskutierte Vertragsreform dürfte zumindest aus jetziger Sicht der Dinge keinen Eingriff in die grundlegenden Bauprinzipien der österreichischen Bundesverfassung darstellen.

Die von Ihnen in Ihrem Mail kritisierten Elemente des künftigen EU-Vertrags kann ich teilweise nicht nachvollziehen. So sieht der Vertragsentwurf keine militärische Beistandsverpflichtung sondern lediglich eine Solidaritätsverpflichtung bei Umweltkatastrophen vor. Nach wie vor ist, das halte ich persönlich für sehr wesentlich, Einstimmigkeit für alle Europäischen Beschlüsse zur Gemeinsamen Sicherheits-und Verteidigungspolitik vorgesehen. Über die Teilnahme an Aktivitäten im Rahmen des Krisenmanagements werden wir wie bisher souverän entscheiden können. Was die Absicherung öffentlicher Dienstleistungen betrifft, wurde beim letzten Europäischen Rat mit Unterstützung der österreichischen Bundesregierung Konsens über ein im Vertrag zu verankerndes Protokoll zur Absicherung der öffentlichen Dienstleistungen erzielt. Positiv zu bewerten sind aus meiner Sicht jedenfalls auch die im Vertrag geplanten Bestimmungen zur Verankerung des Prinzips der partizipativen Demokratie auf europäischer Ebene.

Eine fundierte inhaltliche Bewertung der neuen EU-Verträge lässt sich, wie eingangs erwähnt, seriöserweise erst bei Vorliegen der Ergebnisse der Regierungskonferenz vornehmen. Ich möchte Ihnen abschließend jedenfalls versichern, dass wir - ungeachtet aller möglichen inhaltlichen Differenzen - von Seiten der sozialdemokratischen Parlamentsfraktion die Ergebnisse der Regierungskonferenz mit großer Aufmerksamkeit und Genauigkeit prüfen werden.


Stellungnahme im Auftrag des Bundeskanzler Alfred Gusenbauer

Der Herr Bundeskanzler dankt für Ihr Schreiben vom 31. August 2007 und hat sein Bürgerservice mit der weiteren Erledigung beauftragt.

Wünsche und Anliegen aber auch Kritik der Bevölkerung sind in einem demokratischen Staat wie Österreich für die Regierung von großem Interesse. Der Herr Bundeskanzler nimmt daher die von Ihnen aufgezählten Beschwerdepunkte ernst. Anregungen und Beiträge der österreichischen Bürger sind wichtig, um Europa seinen Mitmenschen nahe zu bringen, es für sie greifbarer zu machen.
 Zu ihrem Anliegen betreffend einer Volksabstimmung den EU-Verfassungsvertrag bzw. EU-Reformvertrag betreffend: 

Gemäß Art. 44 Abs. 3 B‑VG ist jede Gesamtänderung der Bundesverfassung einer Volksabstimmung zu unterziehen. Nach herrschender Meinung liegt eine Gesamtänderung der Bundesverfassung dann vor, wenn diese so umgestaltet wird, dass eines ihrer „Baugesetze“ aufgehoben oder geändert wird. Unbestritten war etwa, dass durch das Bundesverfassungsgesetz über den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union eine solche Gesamtänderung stattgefunden hat. Der Beitrittsvertrag wurde 1994 daher nur nach Maßgabe einer positiven Volksabstimmung abgeschlossen.

 

Danach beschlossene Änderungen der EU-Gründungsverträge bedürften dann einer Volksabstimmung, wenn diese abermals gesamtändernden Charakter haben. Der von Österreich ratifizierte EU-Verfassungsvertrag enthielt zwar vielfältige Neuerungen gegenüber dem geltenden Unionsrecht; insgesamt allerdings ist davon auszugehen, dass mit diesen Änderungen die Grenze zu einer Gesamtänderung der Bundesverfassung nicht überschritten wurde. Dies wurde von der überwiegenden Mehrheit der österreichischen VerfassungsexpertInnen so gesehen; eine Einschätzung, die vom österreichischen Parlament letztlich geteilt wurde. Für den Reformvertrag – dessen Inhalte in dem vom Europäischen Rat angenommenen Mandat für die Regierungskonferenz vorgezeichnet wurden und die nicht über die des Verfassungsvertrages hinausgehen – wird daher dasselbe gelten.

 Zu Ihren konkreten Anliegen bzw. Befürchtungen, den EU-Reformvertrag betreffend, möchten wir wie folgt Stellung nehmen: Neutralität und Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik  Die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist (ESVP) weiterhin ein integrierender Bestandteil der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) der Europäischen Union (EU). Diese schließt die schrittweise Festlegung einer Gemeinsamen Verteidigungspolitik der Union ein. Ihr Ziel ist es, zu einer gemeinsamen Verteidigung zu führen, sobald der Europäische Rat einstimmig darüber beschlossen hat (Artikel I-40).Die Tatsache, dass die militärischen Kapazitäten der Mitgliedstaaten und ihre sicherheits- und verteidigungspolitischen Vorstellungen erheblich voneinander abweichen, ist die Erklärung dafür, dass die Verfassung Bestimmungen enthält, die auf flexiblen, für sämtliche Mitgliedstaaten annehmbaren Vereinbarungen beruhen, da sie deren Ausrichtungen und politische Verpflichtungen respektieren.Darüber hinaus unterliegt der verteidigungspolitische Entscheidungsprozess weiterhin ganz und gar dem Prinzip der Einstimmigkeit.Einerseits wird in dem Reformvertrag eine Aktualisierung der in Artikel 17 Absatz 2 EU-Vertrag aufgeführten Petersberger Aufgaben vorgenommen, zu denen andere Aufgaben hinzugekommen sind wie gemeinsame Abrüstungsmaßnahmen, Aufgaben der militärischen Beratung und Unterstützung, Aufgaben der Konfliktverhütung und Operationen zur Stabilisierung der Lage nach Konflikten. Laut der Verfassung kann mit allen diesen Aufgaben auch zur Bekämpfung des Terrorismus beigetragen werden (Artikel III-309).Andererseits wird durch Artikel I-43 des Reformvertrags eine Solidaritätsklausel eingeführt, gemäß der, wenn ein Mitgliedstaat von einem Terroranschlag oder einer Katastrophe natürlichen oder menschlichen Ursprungs betroffen ist, die übrigen Mitgliedstaaten Hilfe leisten. In einem solchen Fall mobilisiert die Union alle ihr zur Verfügung stehenden Mittel, einschließlich der ihr von den Mitgliedstaaten bereitgestellten militärischen Mittel, um den betroffenen Mitgliedstaat zu unterstützen. Dazu kommt noch die neue Bestimmung für den Katastrophenschutz (Artikel III-284).Schließlich wird durch Artikel I-41 Absatz 7 des Reformvertrags eine Klausel über die gegenseitige Verteidigung eingeführt. Dabei handelt es sich um eine Verpflichtung zur gegenseitigen Verteidigung, die für alle Mitgliedstaaten verbindlich ist (im Gegensatz zu der Anregung des Konvents, zu diesem Zweck eine engere Zusammenarbeit zu begründen). Ist ein Mitgliedstaat einem bewaffneten Angriff auf sein Hoheitsgebiet ausgesetzt, so gewähren gemäß dieser Verpflichtung die anderen Mitgliedstaaten ihm Hilfe und Unterstützung mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln. Diese Verpflichtung, die die Neutralität bestimmter Mitgliedstaaten unberührt lässt, wird in enger Kooperation mit der NATO (Organisation des Nordatlantikvertrags) erfüllt. Privatisierung öffentlicher Dienste 

In Ihrem Schreiben nehmen Sie Bezug auf das klaglose Funktionieren unserer öffentlichen Dienste in Österreich.

 

Ihre Kritik, der EU-Reformvertrag würde den Druck in Richtung Privatisierung der öffentlichen Dienste erhöhen, bezieht sich auf Artikel III-122.

 

Der EU-Reformvertrag sieht einen ausdrücklichen Schutz vor der Privatisierung jener Dienste vor, die von allgemeinem und wirtschaftlichem Interesse sind. Der besagte Artikel III-122 wurde bereits während des französischen Verfassungsreferendums intensiv im Kontext mit der so genannten „Bolkestein Richtlinie“ diskutiert. Artikel III-122 wurde auf ausdrücklichen Wunsch einiger Mitgliedstaaten in den EU-Reformvertrag aufgenommen, um Dienste von allgemeinem und wirtschaftlichem Interesse besser gegen Privatisierung zu schützen. Die Tatsache, dass es eine Pflicht ist ein europäisches Gesetz in diesem Bereich zu verabschieden, stellt ein demokratisches Zugeständnis dar, zumal das Europäische Parlament zur genauen Definierung des Gesetzes eingebunden werden wird. Ohne den Reformvertrag besteht in der EU keinerlei legale Verpflichtung ein solches Gesetz vorzubereiten.

 

Es gibt somit kein Vorgehen nach dem „Rasenmäherprinzip“ – im Gegenteil: laut Artikel III-117 unterliegen alle Maßnahmen folgenden Zielen zur Wahrung des sozialen Schutzes und des hohen Niveaus der allgemeinen und beruflichen Bildung:

 

“Bei der Festlegung und Durchführung der Politik und der Maßnahmen in den, in diesem Teil genannten, Bereichen trägt die Union den Erfordernissen im Zusammenhang mit der Förderung eines hohen Beschäftigungsniveaus, der Gewährleistung eines angemessenen sozialen Schutzes, der Bekämpfung der sozialen Ausgrenzung sowie mit einem hohen Niveau der allgemeinen und beruflichen Bildung und des Gesundheitsschutzes Rechnung.“ Damit ist kein Druck in Richtung Privatisierung der öffentlichen Dienste gegeben. Die Umsetzung der Ziele obliegt den Mitgliedstaaten.

 

Ihre Bedenken in Bezug auf den neuen EU-Reformvertrag sind verständlich, war doch das Projekt eines gemeinsamen Europas in der Vergangenheit nicht immer einfach, was beispielsweise der negative Ausgang bei der Abstimmung zur EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden im Jahr 2005 zeigte. Auch künftig werden die politischen Entscheidungsträger/Innen und Akteure immer wieder vor neue Herausforderungen gestellt.

 

Nichtsdestotrotz ist ein gemeinsamer Reformvertrag für die Zukunft Europas unumgänglich. In den vergangenen Jahren ist die Europäische Union – nach zwei Erweiterungsrunden, 2004 und 2007 – von 15 auf 27 Mitgliedsstaaten angewachsen. Infolgedessen ist es nachvollziehbar, dass beispielsweise die künftigen Entscheidungsstrukturen, auf welchen die EU beruht, an die erweiterte Mitgliederzahl angepasst werden müssen.



Stellungnahme Barbara Prammer (1. Nationalratspräsidentin)

 

Wie Ihnen wahrscheinlich bekannt ist wurde der ursprüngliche Vertrag über die Schaffung einer Verfassung für Europa ("Verfassungsvertrag") am 11. Mai 2005 nahezu einstimmig vom Nationalrat angenommen und nach erfolgter Zustimmung des Bundesrates somit mit breiter Mehrheit vom Österreichischen Parlament ratifiziert.
Lassen Sie mich daher eines gleich eingangs festhalten: ich bin der Überzeugung, dass diese bereits 2005 so eindeutig zu Tage getretene Akzeptanz von den nunmehr verhandelten Adaptierungen des Vertragswerks nicht maßgeblich berührt sein wird und betrachte daher eine neuerliche Ratifikation durch das Österreichische Parlament als sinnvolle Vorgehensweise.
Bis es soweit ist, wird auf Ebene der Staats- und Regierungschefs der EU-Mitgliedsländer noch weiter über den endgültigen Vertragstext beraten. Doch bin ich der Ansicht, dass den institutionellen und demokratiepolitischen Notwendigkeiten einer erweiterten Europäischen Union mit dem Reformvertrag weitestgehend entsprochen wird.
Letztendlich ist absehbar, dass ein Vertragsentwurf entstehen wird, der geringfügigere Änderungen beinhaltet als jener Entwurf einer Verfassung, dem das Parlament bereits seine breite Zustimmung erteilt hat.

Erlauben Sie mir bei dieser Gelegenheit auch, einige wenige Kernpunkte des "Reformvertrages" als besonders berücksichtigungswürdig in der Debatte hervorzuheben.
Zum einen trägt der derzeitige Entwurf langjährigen Forderungen nach einer Stärkung des Europäischen Parlamentes bei gleichzeitiger Einbindung der nationalen Parlamente nun endlich Rechnung. Bislang galt das Verfahren zur Mitentscheidung des Europäischen Parlamentes auf bestimmte politische Bereiche der EU-Rechtssprechung beschränkt und somit das Parlament insgesamt zu Gunsten des Rates der EU als Gremium für die nationalen Regierungen benachteiligt. Die oftmaligen, berechtigten Rufe nach Korrekturen von Demokratiedefiziten der EU kommen in dieser Hinsicht mit einem ersten großen Schritt im europäischen Vertragswerk deutlich zum Ausdruck.
Das Mitentscheidungsverfahren wird mit dem Reformvertrag zum Regelfall und stellt damit das Europäische Parlament in nahezu sämtlichen legislativen Entscheidungen auf eine gemeinsame Stufe mit dem Rat in der "Gesetzgebung" der Europäischen Union.
Die Einführung der so genannten doppelten Mehrheit ersetzt überdies die unproportionale Stimmgewichtung, welche derzeit eine qualifizierte Mehrheit definiert und bringt damit vor allem einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen der Mitgliedsländer. Ab 2014 - so ist dies derzeit vorgesehen - müssen Entscheidungen des EU-Ministerrates durch mindestens 55 % der Mitgliedstaaten, die zumindest 65 % der Bevölkerung der EU umfassen, beschlossen werden und somit den Willen größerer und kleiner Mitgliedsländer zunehmend ausgewogen repräsentieren.
Die Einbindung der nationalen Parlamente - auch dies ein wichtiger Punkt auf der österreichischen Agenda für die Reform der EU - als Organe demokratischer Kontrolle erfolgt künftig vor allem über die Subsidiaritätskontrolle zu Gesetzesinitiativen und -entwürfen  der Europäischen Kommission. Im Sinne der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit - zwei wesentliche Prinzipien einer effizienten, den Interessen der betroffenen Menschen am Nächsten handelnden Europäischen Union - ist dies ein großer Fortschritt.
Zum Dritten darf ich auf die erstmalige Möglichkeit eines europäischen BürgerInnenbegehrens verweisen, das bei einer Million UnterstützerInnen die Europäische Kommission beauftragt, im Sinne des Begehrens tätig zu werden.
Bei einem derzeitigen Bevölkerungsstand der EU von 493 Millionen BürgerInnen ist dieser Anteil sogar geringer als für die Behandlung eines Volksbegehrens im Österreichischen Parlament notwendig ist.
Eine wesentliche Neuerung ist nicht zuletzt die Aufnahme der Grundrechtscharta in einen Vertrag der Europäischen Union und damit die Sicherung der Rechtsverbindlichkeit und individuellen Einklagbarkeit wichtiger Werte und Normen wie die unbestreitbaren Grundfreiheiten der Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit aber auch das Verbot der Folter und die Achtung des Privat- und Familienlebens.
Gleichzeitig bleibt in der Säule der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik das Prinzip der Einstimmigkeit erhalten, und somit auch Österreichs Neutralität in Europa weiterhin gesichert.
Das Projekt Europa wächst im Blick auf alle diese Maßnahmen nicht nur in seiner Dimension der politischen Glaubwürdigkeit, sondern entwickelt sich konsequent in Richtung der so dringend erforderlichen Nähe zu den Bedürfnissen, Interessen und politischen Aktivitäten ihrer Bürgerinnen und Bürger.

Sie führen in Ihrem Schreiben Befürchtungen über eine militärische Beistandsverpflichtung an, die jedoch bei einer genaueren Auseinandersetzung mit den Tatsachen des Reformvertrages auf keiner inhaltlichen Grundlage fußen.
Österreich wird durch diesen Vertrag in keiner Weise einer Beistandsverpflichtung oder ähnlichem unterworfen. Wahr ist vielmehr, dass es künftig lediglich eine Solidaritätsverpflichtung bei Umweltkatastrophen geben wird. Dabei können jedoch alle Instrumente, die geeignet sind zu helfen, eingesetzt werden. Mit militärischer Beistandspflicht hat dies nichts zu tun.

Ebenso wird ein von Ihnen genanntes Prinzip der offenen Marktwirtschaft durch den Reformvertrag keinerlei Rechtsgrundlage besitzen. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Mit der Festschreibung des Prinzips der "sozialen Marktwirtschaft" beschreitet die EU in ihrer eigenen Geschichte neue Wege.
Abgesehen davon trägt der Soziale Dialog in Zukunft wie bisher zu einem Ausgleich der maßgeblichen Interessengruppen in Europa bei.
Hieran wird ersichtlich, dass Europa mit dem Reformvertrag kein unabänderbares Endprodukt zu werden droht, sondern auch in Hinkunft von gesellschaftspolitischen Entwicklungen und Forderungen begleitet und geprägt sein wird.
 
Auch die Behauptung, dass die Ratifikation des Verfassungsvertrages im Jahr 2005 rechtswidrig verlaufen ist, kann einer gewissenhaften Überprüfung der Tatsachen nicht stand halten. Die Bauprinzipien der österreichischen Bundesverfassung wären - wie auch im Falle des Reformvertrages - keiner Gesamtänderung unterzogen worden. Eine zwingende Volksabstimmung war und ist daher nicht gegeben.
Ich darf Ihnen im Übrigen in dieser Frage versichern, dass ich mich in meinem Amt als Nationalratspräsidentin jedweder Verletzung der Bundesverfassung, insbesondere durch parlamentarische Vorgänge, energisch verwehren würde.

Abgesehen davon erweckt der Inhalt Ihres Schreibens insgesamt den Eindruck, als stünde nicht die Frage der Volksabstimmung, sondern vielmehr die Frage eines "Ja" oder "Nein" zur EU im Vordergrund.
Nach meiner Einschätzung der österreichischen Interessenlage kann diese Frage ohnehin nur bejaht werden.

Angesichts der veränderten Rahmenbedingungen der Globalisierung brauchen wir mehr denn je ein Europa, dass den Herausforderungen in Fragen wie der Klima- und Umweltpolitik, der internationalen Entwicklung, Migration und Konfliktprävention sowie einer, auch in Europa notwendigen gewordenen, engagierten Verteidigung des auf diesem Kontinent gewachsenen Modell des Sozialstaates angemessen begegnen kann.
Mit dem Reformvertrag kann die EU einen wesentlichen Schritt in diese Richtung gehen.

Abschließend möchte ich eine Feststellung nicht unerwähnt lassen. Eine nicht zwingende Volksabstimmung über einen EU-Reformvertrag durchzuführen würde bedeuten, den Bürgerinnen und Bürgern im Wesentlichen eine Abstimmung über sämtliche, von den bisherigen EU-Verträgen abgedeckten rechtlichen Bereiche der Europäischen Union zuzumuten. Ich halte dies ob des Volumens und der Komplexität weder für sinnvoll, noch im Interesse der betroffenen BürgerInnen gelegen.
Eine derartige Materie ist in den Händen des Österreichischen Parlamentes, das über ausreichend Instrumente und Ressourcen für eine umfassende Bearbeitung verfügt, am besten aufgehoben. Die Abgeordneten werden auf Basis ihrer Überzeugungen und freien Urteilskraft abzuwägen haben, ob die Zustimmung zum Reformvertrag im Interesse Österreichs in einem vereinten Europa liegt.

Mein positives Urteil in dieser Frage habe ich öffentlich kund getan und ich betrachte das Recht und die Verpflichtung, auch meine Meinung zu Entwicklungen dieser weitreichenden Bedeutung zu äußern, als unabdingbaren Bestandteil meines Amtsverständnisses.