Eine Analyse des türkis-grünen Regierungsabkommens sowie strategische Konsequenzen, die daraus gezogen werden sollten. Von Boris Lechthaler.

1.Bekenntnis zur Neutralität als Phrase
2. Rassistischer Antirassismus – antirassistischer Rassismus?
3. Menschenrechtswidrig für Menschenrechte
4.Klimaschutz im Rahmen des EU-Binnenmarkts
     a) Verkehrswende und ungebremster Straßenbau
     b) Klimaschutz und Freihandelsbekenntnis
5. Armut bekämpfen, Reichtum fördern
     a) Pflegeversicherung und Weiterentwicklung des bestehenden System
     b) Gesundheit ohne Mitsprache der Versicherten
     c) Bildung ohne Budget
6.Die EU-Zwangsjacke enger schnüren
7. Epilog: Mit Waterdiving zur Elastizität des politischen Personals

Das Programm der türkis-grünen Bundesregierung enthält zahlreiche positive Punkte und Positionierungen, die zu einem besseren Leben der Menschen beitragen können. Zahlreicher noch als die vielen Wiederholungen sind aber auch die Widersprüche, die in den Text eingewoben sind. Vieles ist deutungsoffen. Erst das kommende Budget bzw. budgetwirksame Beschlüsse werden zeigen, wo die Reise wirklich hingeht. Wichtiger als das, was gesagt wird, ist mitunter in vielen Punkten, was nicht verschriftlicht wurde. Dann gibt es noch einige echte reaktionäre Hämmer. Vielleicht geht es bei diesen nur um Symbolpolitik. Wenn auch, es ist ein Spiel mit gefährlichen Symbolen. Die notwendige Änderung der machtpolitischen Rahmenbedingungen für eine öko-soziale Wende wird nicht angerührt. Wie auch? Kann das von einer Bundesregierung derzeit geleistet werden? Nüchtern betrachtet: in keinem Fall! Auch bei anderer Farbzusammensetzung der Regierung wäre das nicht anders. Auch eine stärkere Repräsentanz explizit linker Gruppierungen würde daran nichts ändern. Das hatten wir auch schon.

Eine öko-soziale Wende im Interesse der Mehrheit braucht eine breite gesellschaftliche Bewegung, eine Allianz dieser Mehrheit. Lokale Bürgerinitiativen, UmweltaktivistInnen müssen dabei ebenso eingebunden sein wie gewerkschaftliche Interessensvertretungen. Eine öko-soziale Wende braucht das Engagement von Menschenrechtsinitiativen ebenso wie Beiträge zur Weiterentwicklung demokratischer Partizipation. Sie braucht die Kreativität und Risikobereitschaft kleiner und mittlerer Unternehmen, mitunter auch die Potentiale von Menschen mit Vermögen. Nur eine derartige breite gesellschaftliche Allianz ist in der Lage die machtpolitischen Herausforderungen anzunehmen, die mit einer derartigen Wende verbunden sind. Es geht um nichts weniger, als um den Bruch mit der Unterordnung unter ein EU-Regime, das uns hemmungslosen Freihandel im Interesse großer Konzerne aufzwingt und sich dabei immer mehr in einen imperialen Block verwandelt: einen Block, der bereit ist, das eigene Dogma zu unterlaufen, wenn es seinen Interessen zuwider läuft. Ein Programm für eine öko-soziale Wende ist ein breites und tiefes soziales Reformprogramm verknüpft mit einer politischen Revolte.

Das türkis-grüne Regierungsprogramm verdient es dennoch im Detail studiert zu werden. In einigen Punkten verdient es erbitterten Widerstand. Fehlendes muss konsequent eingefordert werden. An manches kann angeknüpft werden. Was uns keinen mm weiterbringt, ist abstrakte Systemopposition nach dem Motto, in einem kapitalistischen System könne ja nichts Besseres herauskommen. Das ist letztlich nichts mehr als parareligiöses Beschwören einer Erlösung. Das Programm einer öko-sozialen Wende muss bis zum Beistrich konkret sein. Dafür bietet das Regierungsprogramm zahlreiche Anknüpfungspunkte.

Ausgehend von diesen Überlegungen möchte ich hier einige Anmerkungen zum türkis-grünen Regierungsprogramm zum Besten geben. Wobei ich mir gestatte, mich nicht an die vorgegebene Inhaltsstruktur zu halten.


1. Bekenntnis zur Neutralität als Phrase

Vielleicht ist es das wirklich Erschreckende, dass es gar niemandem mehr auffällt, zumindest wenn man die bisherigen medialen Reaktionen auf die Regierungsbildung bilanziert: die neue Bundesregierung gibt ein Bekenntnis zur „österreichischen Neutralität“ ab. Gleichzeitig bekennt sie sich im Europakapitel zu einer „verstärkten Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung auf europäischer Ebene“. Im Kapitel Landesverteidigung heißt es wortwörtlich: „Die Neutralität Österreichs ist unumstößlich. Diese steht nicht im Widerspruch zur Solidarität innerhalb der Europäischen Union“. 1100 Soldaten werden als „Dauerleistung für Auslandseinsätze“ sichergestellt. Bei den Auslandseinsätzen wolle man den „gesamten Konfliktzyklus, Krisenprävention, Konfliktlösung und Mediation bis hin zur Friedenskonsolidierung“ berücksichtigen. Die Bundesregierung bekennt sich zur „Fortführung des Beitrags des ÖBH zur Stärkung der Stabilität der Westbalkan-Staaten“. Bereits in der Präambel heißt es: „In einer Zeit, in der Europa auf der Bühne der Weltmächte immer mehr an Bedeutung und Einfluss zu verlieren droht, ..“ (Wie kommt man auf das? Bisher spielten wohl europäische Großmächte auf der Bühne der Weltmächte eine Rolle mit vielfach katastrophalen Folgen, aber Europa? Anm.: B.L.) „… setzen (wir) uns für ein starkes Europa ein..“ Und im Europakapitel heißt es: „Mit einer aktiven Neutralitätspolitik wird ein eigenständiger Beitrag Österreichs zur Frieden und Sicherheit in Europa (im Rahmen der GASP) und in der Welt geleistet.“ Gleichzeitig betont die Bundesregierung eine „verstärkte Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung auf europäischer Ebene“. Damit wird das Bekenntnis zur Neutralität zur hohlen Phrase. Die Beteiligung an EU-Kriegen ist mit den Rechtspflichten eines immerwährend neutralen Staates schlicht unvereinbar. Aber das interessiert scheinbar nur mehr Wenige am Rande. Erinnern wir uns an den Angriffskrieg der Nato mit deutscher Beteiligung gegen die Bundesrepublik Jugoslawien: Was 1998 noch die Gretchenfrage für die Regierungsbeteiligung der deutschen Grünen war, wird 2020 in Österreich nicht einmal mehr diskutiert. Selbstverständlich sind Grüne bei EU-Kriegen mit dabei.

Als durchaus positiv kann die Einrichtung einer „Mediationsfazilität im BMEIA und (die) Einrichtung eines österreichischen zivilen Friedensdienstes“ gesehen werden. Nachdem Österreich sich aber ausgerechnet „im Rahmen von PESCO“ (dem Projekt zur Herausbildung eines militärischen Kerneuropas, Anm. B.L.) „für Projekte zur zivilen Krisenprävention und Konfliktlösung“ engagieren soll, mutet das dann doch wieder bloß als Feigenblatt einer militaristischen Politik an. Keine Frage, dass „Österreich die Sanktionen der EU gegen Russland im Europäischen Konsens (mitträgt)“. Auf internationaler Ebene will man sich für ein internationales Tribunal für IS- und andere KriegsverbrecherInnen in Den Haag einsetzen. Die Kriegsverbrechen der EU z. B. bei der Zerstörung Libyens werden nicht erwähnt. Die Bundesregierung will sich für die „Interoperabilität der EU-Infomationssysteme“ stark machen. Aber die Bundesregierung bekennt sich auch zu einer „strategischen Partnerschaft mit den Vereinigten Staaten von Amerika“. Für das Frühjahr 2020 sind bereits die nächsten massiven Truppentransporte an die Ostgrenze des Imperiums angekündigt. Da will man sich nicht querlegen. Neutralität bedeutet in diesem Ductus Buckeln gegenüber den Mächtigen.

Gut, das kennen wir schon alles. Damit unterscheidet sich türkis-grün auch keinen mm von rot-schwarz oder türkis-blau. Aber türkis-grün geht darüber hinaus. Im Zusammenhang mit dem „Einsatz für einen neuen Vertrag für Europa“ forciert die neue Bundesregierung „Beschlüsse mit qualifizierter Mehrheit in zusätzlichen Bereichen (z. B. Außenpolitik)“ eine „Gemeinsame Außenpolitik mit einer Stimme“. Man spricht sich folgerichtig auch für einen „Gemeinsamen Sitz der EU im UN-Sicherheitsrat“ aus. Dämmert niemandem, dass dies das endgültige Aus für die Neutralität bedeuten würde? Erkennen wir darin die grüne Handschrift im Regierungsprogramm?

Die Bundesregierung will die Westbalkanstaaten auf ihrem Weg in die EU unterstützen und betreibt die „wirtschaftliche und politische Annäherung der Ukraine an Europa“. Sie will die Visaliberalisierung für den Kosovo vorantreiben, gleichzeitig den Belgrad-Pristina Dialog stärken. Die Mittelmeer-Anrainerstaaten will man „stabilisieren“ und einen Hard Brexit „vermeiden“. Sie will eine „gesamtstaatliche Länderstrategie zu China und stärkere(n) Fokus auf Wachstumsmärkte in Asien“. Zudem will man 2027/28 zum UN-Sicherheitsrat kandidieren.

Die Dauer des Zivildienstes soll bei 9 Monate bleiben. Im Kapitel Landesverteidigung betont man den Krisen- und Katastrophenschutz, auch im Falle eines Blackouts, und bekennt sich zur umfassenden Landesverteidigung und zur allgemeinen Wehrpflicht entsprechend der Volksbefragung vom 20.1.2013. Das Milizsystem soll wieder hergestellt werden und der Anteil der Frauen beim Bundesheer erhöht werden. Eine Teiltauglichkeit soll eingeführt werden. Die ABC-Einheiten (ABC bedeutet hier atomare, bakteriologische und chemische Bedrohungsszenarien) sollen gestärkt werden. Die Nachrichtendienste (Heeresnachrichtenamt, Heeresabwehramt) sollen eigenständig bleiben. Bei Cyber Defense, Drohnenabwehr, soll das Bundesheer ebenso einen Beitrag leisten, wie bei „mit militärischen Mitteln ausgeführte(n) Terrorangriffe(n)“. Schwere Waffengattungen sollen reduziert werden. Hubschrauber sollen beschafft werden. Auch wird ein Bekenntnis zur Luftraumüberwachung zum Schutz des österreichischen Luftraums abgegeben. Positiv ist das Bekenntnis zur internationalen Abrüstung, zu einer Welt ohne Atomwaffen und zur Erhöhung der Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit in Richtung des 0,7% (d. BNP) Ziels der Vereinten Nationen.

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2. Rassistischer Antirassismus – antirassistischer Rassismus?

Bereits im Kapitel „Verfassung, Verwaltung und Transparenz“ bekennt sich die Bundesregierung zu einer „ganzheitliche(n) Strategie zur Verhütung und Bekämpfung aller Formen von Antisemitismus .. aller Formen von Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Radikalisierung und gewaltbereitem Extremismus“. Gut. Ebenso gut ist, dass man im Kapitel Innere Sicherheit die „Wiederaufnahme der Beobachtung und Einschätzung rechtsextremer Burschenschaften“ ankündigt. Das wäre wahrscheinlich mit einem Innenminister Kickl nicht möglich gewesen. Außer man hätte ihn einfach dazu verpflichtet, ein öffentliches Tagebuch zu führen. Wie passt aber dazu, dass man unter „Österreich in Europa und der Welt“ festhält, die Bundesregierung „tritt entschieden gegen die Verfolgung von Minderheiten, Rassismus sowie gegen Antisemitismus und Antizionismus auf“. Auch unter Außenpolitik verschreibt man sich dem Kampf gegen Antisemitismus und Antizionismus“. Nun, Unsinn wird nicht sinnvoll, wenn man ihn möglichst oft wiederholt. Zionismus ist eine nationalistische Ideologie. Ab dem Zeitpunkt, in dem Palästina zum Objekt der Begierde wurde, war sie mit antiarabischem Rassismus verknüpft. Zionisten inszenierten sich als europäisches Bollwerk gegen die asiatischen Untermenschen. Bis zum Überfall auf die Sowjetunion betrieben die Nazis die gezielte Vertreibung Menschen jüdischer Herkunft aus Europa nach Palästina. Erst dann gingen sie zur „Endlösung“ über. Die Gleichsetzung von Antizionismus und Antisemitismus folgt dieser Logik. Philosemitismus ist oft einfach bloß gut getarnter Antisemitismus, dass Juden geschichtlich bedingt keine Rassisten sein könnten, gut getarnter Rassismus.

Folgerichtig bekennt sich die Bundesregierung „zum Staat Israel als jüdischem und demokratischen Staat“. Bedenken wir, erst jüngst hat die rechtsextreme israelische Regierung eine Verfassungsänderung erwirkt, in dem der Charakter des Staats nicht als Staat aller dort lebenden Menschen, sondern als Staat der Juden unterstrichen wird. Erinnern wir uns, als das unabhängig gewordene Kroatien erklärte, der neue Staat, wäre der Staat aller Kroaten, musste es das grundlegend korrigieren. Richtigerweise erkannte die internationale Staatengemeinschaft, dass das ein Atavismus im 21. Jahrhundert ist. Damit würden wir ungefähr dort landen, wo uns die sogenannten Identitären, zu deren Bekämpfung sich die Bundesregierung vernünftigerweise auch verpflichtet, hinhaben wollen.

Als weltvergessen mutet vor diesem Hintergund das Bekenntnis der Bundesregierung im Kapitel Außenpolitik an, sich „weiterhin für nachhaltige Friedenslösungen im Nahen Osten ein(zu)setzen, im Falle des israelisch-palästinensischen Friedensprozesses mit dem Ziel einer Zwei-Staaten Lösung. Der Staat Israel soll in anerkannten und dauerhaft sicheren Grenzen in Frieden neben einem unabhängigen, demokratischen und lebensfähigen palästinensischen Staat leben können.“ Es gibt aktuell keinen israelisch-palästinensischen Friedensprozess mehr. Vor allem deshalb, weil Israel die international anerkannten Grenzen nicht anerkennt. Erst jüngst hat der rechtsextreme israelische Ministerpräsident Netanjahu die Annexion des Jordantals angekündigt, um wiedergewählt zu werden.

Doch das ist nicht der einzige Punkt, an dem das Commitment der Bundesregierung zum Antirassismus als doppelbödig erscheint. Ich habe es aufgegeben, zu zählen, wie oft der Begriff „politischer Islam“ im Regierungsprogramm auftaucht. Präzisiert wird er an keiner Stelle. Dass religiöse Menschen auch politische Menschen sind, ist ja nun weder neu und hoffentlich auch keine Bedrohung. Immerhin formuliert die Bundesregierung im Kapitel Integration, Österreich sei ein „.. weltoffenes christlich geprägtes Land, mit einem reichen kulturellen und religiösen Erbe, das dem Humanismus und der Aufklärung verpflichtet ist“. Wie das in einem Satz zusammengeht, sei dahingestellt. Jedenfalls erinnere ich mich noch, wie die Nachbarin geweint hat, als Franz Jonas zum Bundespräsidenten gewählt wurde. Immerhin sei man ja ein „christliches Land“. Und die Frauen, die für die Fristenlösung kämpften, erinnern sich vielleicht auch noch gut an „christliche Politik“ bezüglich ihres Körpers.

Wenn es darum geht, festzuhalten, dass wir keine islamische Republik werden wollen, so soll man das ruhig sagen. Es würde bloß in einem aktuellen Regierungsprogramm etwas befremdlich wirken. Ja, man kann der Überzeugung sein, Religion bzw. eine religiöse Weltanschauung wäre per se unvereinbar mit einer demokratischen Gesellschaft, die sich ergebnisoffen einer gemeinsamen politischen Willensbildung verpflichtet. Der Haken dabei ist, dass das Aufklärerische, Säkulare, Wissenschaftliche auch schnell mal ins parareligiös Totalitäre hinüberkippt. Immerhin ist der Rassismus des 20. Jahrhunderts mit seinen Millionen Opfern auch ein Kind der Aufklärung. Wie leicht dies geht, findet sich ebenso in diesem Regierungsprogramm. So heißt es im Kapitel „Integration“: „Die Bundesregierung bekennt sich dazu, dass Rahmenbedingungen geschaffen werden, damit Kinder möglichst ohne Zwang (wie z. B. das Tragen eines Kopftuchs) aufwachsen können … Dafür braucht es Maßnahmen zur Stärkung der jungen Mädchen .. sowie die Ausweitung des bestehenden Kopftuchverbots auf Schülerinnen bis zur Vollendung des 14. Lebensjahres (Erreichen der Religionsmündigkeit)“. Also Zwang um Zwang entgegenzuwirken.

Ebenso im Regierungsprogramm im Kapitel „Maßnahmen gegen Extremismus und Terrorismus“ findet sich die „.. effiziente Kontrolle des 2015 eingeführten Verbots der Auslandsfinanzierung von Religionsgesellschaften und konsequenter Vollzug des Islamgesetzes durch das Kultusamt“. Nun erscheint es durchaus legitim, dass ein Staat zur Sicherheit der ihm anvertrauten Menschen Auslandsfinanzierung kontrollieren will, mitunter sogar diese Finanzierung untersagt. Aber warum nur islamische Religionsgesellschaften, warum überhaupt nur Religionsgesellschaften und nicht auch andere Gesellschaften und Gemeinschaften oder z. B. Medien?

Auf welch widersprüchliches Terrain sich hier unsere neue Bundesregierung einlässt, wird auch an einem kleinen redaktionellen Fehler deutlich. Vielfach wird vom „religiös motivierten politischen Extremismus“ - oft mit dem Zusatz: „politscher Islam“ - gesprochen. Es dürfte niemandem aufgefallen sein, dass an einer Stelle (ausgerechnet beim Punkt, an dem die „Umfassende Neuaufstellung des BVT“ verhandelt wird – dort dürfte tatsächlich Einiges durcheinandergekommen sein) der „politisch motivierte(n) religiöse(n) Extremismus“ adressiert wird. Haarspalterei? Mitnichten. Es macht einen Unterschied, ob der politische Extremist religiös motiviert ist, oder der religiöse Extremist politisch motiviert. Bei Letzterem wird die Politik fokussiert. Das könnte man, will man aber nicht. Bei Ersterem die Religion. Mit dem Begriff „politischer Islam“ wird eine Bedrohung aufgebaut. Er stellt Musliminnen und Muslime unter einen Generalverdacht. Und das ist Rassismus.

Ein Rassismus mit einer breiten und tiefen Resonanz in der Gesellschaft. Laut einer jüngsten Umfrage bekennt eine Mehrheit der ÖsterreicherInnen, dass MuslimInnen nicht die gleichen Rechte zugestanden werden sollen. Das macht diese Regierungsvorhaben einerseits verständlich, unterstreicht andererseits deren Gefährlichkeit.

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3. Menschenrechtswidrig für Menschenrechte

An mehreren Punkten leistet die neue Bundesregierung ein Bekenntnis zu den Menschenrechten. Sie verpflichtet sich nicht nur zu deren Einhaltung und Entfaltung in Österreich, sondern will zu deren weltweiter Durchsetzung beitragen. Auch will sie sich „auf europäischer Ebene für den Beitritt der Europäischen Union zur EMRK“ (Europäischen Menschenrechtskonvention) einsetzen. Nun wissen wir, dass das Recht logisch, die Wirklichkeit aber widersprüchlich ist. Und so finden wir uns in einer staatlichen Wirklichkeit, in der Freiheitsrechte zu legitimen Sicherheitsrechten in einem Spannungsverhältnis stehen. Jetzt finden wir im Kapitel „Asyl“ und nicht etwa unter „Innere Sicherheit“ die Forderung, es solle ein „.. zusätzlicher, verfassungskonformer Hafttatbestand (Sicherungshaft zum Schutz der Allgemeinheit) eingeführt werden für Personen, bei denen Tatsachen die Annahme rechtfertigen, dass die die öffentliche Sicherheit gefährden“. Das holpert. Warum „die die“. Es müsste heißen „sie die“. Sie, die die öffentliche Sicherheit gefährden, können sich mitten unter uns befinden. Die Wirkung Kreiskys Rüge: Man zeigt nicht mit nackerte Finger auf andere Leit, „das tut man nicht“, scheint über die Jahrzehnte ausgeebbt zu sein. Die systematische Diskriminierung eines Teils der Bevölkerung ist ein unverzichtbares Moment des Erfolgs der Türkisen. Diesem Moment haben sich nunmehr die Grünen selbst untergeordnet.

Sicherungshaft? In der Weimarer Republik gab es eine Schutzhaft. Mit diesem Instrument haben dann die Nazis die gesamte politische Opposition liquidiert. Verfassungskonform geht das nicht. Zumindest nicht nach ihrem Status Quo. Also müsste sie geändert werden. Die FPÖ hat sich gleich hocherfreut angeboten, für eine entsprechende Verfassungsmehrheit zu sorgen. Doch auch dies würde kaum vor der EMRK halten. Die Grünen haben eine Verfassungsänderung umgehend ausgeschlossen. Warum nur für Asylsuchende oder Asylberechtigte? Personen, bei denen Tatsachen, die Annahme rechtfertigen, dass sie die öffentliche Sicherheit gefährden, finden sich nicht nur unter diesen Personengruppen, sondern auch bei allen anderen, oftmals auch in Regierungen. Und: Gesinnungstatbestände finden sich jetzt bereits im Strafrecht. Man denke nur an den Tierschützerprozeß bzw. den §278 des StGB. Dieser bedeutet: man muss nicht erst eine Straftat begangen haben, um in Haft genommen zu werden. Es genügt die „gerechtfertigte Annahme“, jemand würde planen „die öffentliche Sicherheit (zu) gefährden“. Auch gibt es aktuell eine Reihe von Verurteilten und von Strafverfolgungshandlungen Betroffene ob dieser Tatbestände. Dennoch hält der Bundeskanzler an dem Vorhaben fest. Es geht um Symbolpolitik. Der Wahlerfolg der „Neuen Volkspartei“ rührt aus der Abwerbung vieler FPÖ-Wähler. Die FPÖ soll auf Distanz gehalten werden. Gut möglich, dass das auch offen zwischen den Koalitionären so gedealt wurde. Der Kanzler verkündet: ich würde, wenn ich könnte. Der Vizekanzler verkündet: geht aber nicht. Wir könnten uns beruhigt zurücklehnen und ihnen sogar Schlauheit attestieren. Allein, es ist ein Spiel mit dem Feuer. Eine Delegierte zum jüngsten Bundeskongress der Grünen meinte im Mittagsjournal, da sei sie immer noch froh, dass die Grünen in der Regierung sind, und nicht Kickl im Innenministerium. Das erinnert an die Einführung des Kriegsermächtigungsartikels 23 f in die Bundesverfassung 1998 (heute 23j). Auf die Tatsache angesprochen, dass gemäß dieser Bestimmung Kanzler und Außenminister einer Kriegsbeteiligung Österreichs im EU-Rat auch ohne Vorliegen eines Beschlusses des UN - Sicherheitsrates zustimmen könnten, meinte ein hochrangiger sozialdemokratischer Funktionär, der Kanzler (damals Viktor Klima) würde das niemals machen. Soweit zum Entscheidungshorizont manch politischer Entscheidungsträger.

Doch es gibt auch noch andere Hämmer im Kapitel Asyl. So soll ein „beschleunigte(s), moderne(s), grenznahe(s) Asylantragsverfahrens im Binnen-Grenzkontrollbereich“ geschaffen werden. „Die ersten Schritte (sollen) nur dort unter Berücksichtigung des bestehenden Instruments der Wohnsitzauflage ..“ getätigt werden. Es soll eine „Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen (BBU) mit den Tätigkeitsfeldern Grundversorgung, Rechtsberatung, Rückkehrberatung, Dolmetschleistungen, Menschenrechtsbeobachtung“ geschaffen werden. Weiters sollen „Rückkehrverfahrenszentren“ mit „Wohnsitzauflage“ eingerichtet werden, um die Betroffenen „in einem Rückkehrverfahrenszentrum zu verpflichten“. Geht es nun also doch noch der von der FPÖ vielbeschworenen Asylindustrie an den Kragen? Sollte das so kommen, wäre das tatsächlich mehr als Symbolpolitik. „Fälschungssichere Ausweise für AsylwerberInnen, Asylberechtigte und Personen mit rechtskräftiger Rückkehrentscheidung (incl. Karte für Geduldete)“ sollen eingeführt, die Möglichkeit zum europaweiten Abgleich biometrischer Daten im Asylverfahren soll geprüft werden. Große mediale Aufregung herrscht um den „Modus zur Lösung von Krisen im Bereich Migration und Asyl“. Im Falle einer Krise - was das bedeutet wird nicht definiert - soll nach einer zwingenden Ausschussberatung eines Initiativantrags im Parlament eine offene Abstimmung, quasi ohne Bruch der Koalition, möglich sein.

Die Bundesregierung betreibt eine „umfassende Migrationsstrategie, die auf einer klaren Trennung von Asyl und Arbeitsmigration beruht. In der Asylpolitik bekennt sich Österreich zum völkerrechtlich verankerten Recht auf internationalen Schutz, zur Genfer Flüchtlingskonvention sowie zur Europäischen Konvention für Menschenrechte“. Das Dublin Abkommen wird nicht angegriffen, obwohl es ein Instrument zur Aushebelung der Genfer Konvention ist. Man will „Flucht und Migration sauber trennen“, Braindrain zur Bekämpfung des „Fachkräftemangels“ soll also gezielt betrieben werden. Dafür soll die Rot-Weiß-Rot Karte weiterentwickelt und der gesetzliche Rahmen (Ausländerbeschäftigungsgesetz, Niederlassungs- und Aufenthaltsgesetz) konsolidiert werden. Die Gehaltsgrenzen werden überarbeitet und „ortsübliche Unterkunft“ wird im Rahmen der Nachweispflicht abgeschafft. Fluchtbewegungen will man durch die „Schaffung von Lebensperspektiven vor Ort“ begegnen. Der Zynismus ist kaum überbietbar. Wie schafft man Lebensperspektiven vor Ort, wenn man Menschen in Not zurückweist und qualifizierte Menschen abwirbt? Über eine so reformierte Rot-Weiß-Rot Karte würden die unteren Lohngruppen noch stärker unter Druck geraten.

Der „europäische Außengrenzschutz“ soll gestärkt, Frontex auf 10.000 Personen rasch aufgestockt werden. Das Frontex-Mandat soll erweitert werden, „mit dem Ziel in Seenot geratene Personen zu retten und Schlepperei und Menschenhandel effektiv zu bekämpfen und (der) Sicherstellung, dass auf hoher See gerettete Personen völkerrechtskonform in sichere Transit- oder Herkunftsländer zurückgebracht werden.“ Die „Mechanismen zur Verteilung von Migranten/Asylwerbern innerhalb der EU sind gescheitert. Österreich setzt daher keine Initiativen in Richtung Verteilungsregeln.“ „Solange der EU-Außengrenzschutz nicht lückenlos funktioniert“, soll die österreichische Binnengrenze geschützt werden.

Bei der Polizei soll die noch unter türkis-blau begonnene Personaloffensive fortgesetzt werden. 2300 zusätzliche Planstellen und 2000 zusätzliche Ausbildungsstellen sollen geschaffen werden. Ein Cybersicherheitszentrum soll etabliert werden. Man will einen „gläsernen Staat statt gläserner Bürger“, jedoch soll die „Schaffung einer verfassungskonformen Regelung zur Überwachung unter anderem für verschlüsselte Nachrichten“ geprüft werden. Bei digitaler Verletzung von Persönlichkeitsrechten wird über eine Strafverfolgungspflicht (Offizialdelikt) nachgedacht. Es gibt auch einiges Positives aus den Bereichen Menschenrechte, Justiz, innere Sicherheit zu berichten. So soll geprüft werden, ob die Jenischen zu einer anerkannten Volksgruppe analog den Slowenen, Kroaten, Sinti und Roma erklärt werden können. Der Kostenersatz im Falle eines Freispruchs im Strafverfahren soll erhöht werden. Zur Polizei sollen vermehrt Menschen mit Migrationshintergrund rekrutiert werden, Mehrsprachigkeit soll ein positives Kriterium werden. Auch will man bei der Polizei eine positive Fehlerkultur etablieren. Bei Misshandlungsvorwürfen soll eine eigene Behörde ermitteln, die mit polizeilichen Befugnissen ausgestattet ist. Eine unabhängige Kontrollinstanz soll etabliert werden. Der Rechtsschutz bei Untersagung von Versammlungen soll verbessert werden. Allerdings stellt sich die Frage warum unter „Maßnahmen zum Gewaltschutz“ die ExpertInnenkritik am jüngst in Kraft getretenen Gewaltschutzpaket mit keiner Silbe erwähnt wird. Es sollen bloß die Kriterien für die Anzeigepflicht bestimmter Berufsgruppen geprüft werden. Siehe Kapitel Frauen.

Nüchtern betrachtet, war nichts Anderes zu erwarten. Die Regierungserklärung widerspiegelt hier bloß Haltungen in der Mehrheit der Bevölkerung. Eine jüngste Eurobarometerumfrage ergab, dass nur mehr 19% der ÖsterreicherInnen für einen Austritt aus der EU optieren, aber 49% gegen offene Grenzen sind. Jede Regierung müsste das berücksichtigen.

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4. Klimaschutz im Rahmen des EU-Binnenmarkts

Klimaschutz- und umweltrelevante Vorhaben und Positionierungen sind tatsächlich breit als Querschnittsmaterie im Regierungsprogramm angelegt und finden sich in beinahe allen Kapiteln. Hier finden sich viele positive Schritte, die auch den Alltag der Menschen erleichtern werden. Naturgemäß führt das zu eindrucksvollen Wiederholungen, die aber auch die zahlreichen Widersprüche im Programm deutlich machen. Trotz des breiten Raums, den dieses Thema einnimmt, fehlen wichtige Punkte, die mitunter für die Gesamtwirkung des Regierungshandelns entscheidend sind.

Bereits in der Präambel heißt es: „Wir sind die erste Generation, die die Folgen der Klimakrise spürt, und gleichzeitig die letzte Generation, die noch gegensteuern kann“. Dieses Gegensteuern wird im gleichen Atemzug relativiert: „ Nachhaltigkeit heißt dabei auch, auf einen ausgeglichenen Staatshaushalt zu achten.“

Unter „Verfassung, Verwaltung u Transparenz“ fordert man dieDekarbonisierung des Wohnbaus Man will eine „nachhaltige öffentliche Vergabe sicherstellen“ und dafür „ökosoziale Vergabekriterien“ zur „Stärkung der Regionalität“, „ im Sinne der Förderung der regionalen und ökosozialen Marktwirtschaft“ einführen, freilich „ im Rahmen EU-rechtlicher Vergaberichtlinien“

Beim „Konsumentenschutz“ plant man „Maßnahmen gegen geplante Obsoleszenz.“ Die Förderung des Prinzips Reparieren statt wegwerfen wird auch als Maßnahme zur Stärkung von KMUs und EPUs betont.

Unter „Wohnen“ wird das Prinzip der „Verdichtung“ im Wohnbau betont. „Überbauung“ geht vor „Versiegelung“. Bei der Wohnbauförderung sollen umweltrelevante Kriterien stärker berücksichtig werden. Über das Instrument des Finanzausgleichs „soll Österreich in die Lage versetzt werden, europäischer Spitzenreiter bei Energieeffizienz und der Verwendung von ökologischen Baustoffen werden“. Im Wohnungseigentumsgesetz sollen Maßnahmen zur Dekarbonisierung der Gebäude nicht als Verbesserung, sondern Erhaltung gewertet und damit leichter durchgesetzt werden können. Freilich beantwortet das nicht, wer die Kosten dafür tragen soll und tragen kann.

Im Kapitel „Wirtschaft und Finanzen“, setzt man sich „für die Veranlagung öffentlicher Mittel in nachhaltige und ökologische Anlagenformen“ ein, prüft eine „Bürger-Stiftung Klimaschutz“, um Anreize zu schaffen, „in den Klimaschutz zu investieren.“ Und schlägt die „Auflage von Green Bonds durch die ÖBFA“ vor. Unter dem Stichwort „Green Supporting Factor“ forciert man Regelungen, um im Bankwesen Kredite zur Finanzierung von Investitionen in Klimaschutzmaßnehmen mit weniger Eigenkapital zu hinterlegen. Eine „ökosoziale Steuerreform“ wird „in Etappen“ angekündigt um „Kostenwahrheit bei CO2 Emissionen“ herzustellen. Die Flugticketabgabe wird auf 12,- pro Flugticket erhöht, bzw. für Langstreckenflüge verbilligt. Bei der Normverbrauchsabgabe bei Neuanschaffung eines Kfz soll eine CO2 Formel ohne Deckelung kommen. Dem Tanktourismus und dem LKW-Verkehr aus dem Ausland wird der Kampf angesagt. Auf internationaler Ebene will man sich für die Besteuerung von Kerosin und Schiffsdiesel einsetzen. Das Pendlerpausche soll ökologisiert und dessen Treffsicherheit erhöht werden. Wie, steht nicht im Programm.

Unter „Klimaschutz und Energie“ verpflichtet die Bundesregierung Österreich, bis spätestens 2040 klimaneutral zu werden. Dabei setze man ausschließlich auf Erneuerbare Energieträger, Atomkraft sei „selbstverständlich“ keine Alternative. Man strebe vielmehr eine „Reform“ des Euratom-Vertrages an: „Mittel sind nur noch zu verwenden für die Frage der Entsorgung bzw. langfristigen Lagerung radioaktiver Abfälle sowie des Strahlenschutzes, der Sicherheit und des Rückbaus von Atomkraftwerken sowie der Forschung im Bereich der medizinischen Nutzung.“ Man wolle ein „einheitliches Haftungsregime – ohne Obergrenzen“. Den Neubau von AKW wolle man „mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln“ verhindern. Über ein novelliertes „Erneuerbaren Ausbau Gesetz“ soll bis 2030 eine 100%ige (national bilanzielle) Versorgung mit Ökostrom erreicht werden. Bis 2030 wolle man bei den Erneuerbaren 27TWh zubauen, um das Ziel zu erreichen. Dafür wird ein Fördervolumen von 1 Mrd. Eur p.a. beziffert und die Sicherung von Marktprämien auf 20 Jahre. Eine Million Dächer sollen über eine Photovoltaik-Anlage verfügen. Auch ein „Energieeffizienzgesetz“ soll dazu beitragen, dass wir „bis zur Mitte des Jahrhunderts mit deutlich weniger Energieverbrauch auskommen und die Energiewende naturverträglich gelingen kann…“

Für die thermische Sanierung von Gebäuden wird eine Offensive versprochen. Die öffentliche Hand soll voranschreiten. Für die thermische Sanierung öffentlicher Gebäude wird eine dreiprozentige Sanierungsquote pro Jahr angekündigt. Der öffentliche Neubau soll im Niedrigstenergiehaus-Standard mit einer verpflichtenden Photovoltaik-Anlage ausgeführt werden. Ab 2021 will der Bund nur noch 100% zertifizierten Ökostrom beziehen. Der Fuhrpark soll weitgehend emissionsfrei werden. Wobei hier Emissionsfreiheit und Klimaneutralität durcheinandergebracht werden. Für andere Gebäude kündigt die Regierung eine „Förderoffensive des Bundes“ an, um eine „Sanierungsrate in Richtung 3%“ zu erreichen. Die Wohnbauförderung soll um raumordnungsrelevante Aspekte (Bebauungsdichte, Quartiersqualitäten, ÖV-Erschließung) ergänzt werden. Ein sozialverträgliches Sanierungsgebot soll eingeführt werden, mit z. B. der Verpflichtung zur Sanierung der obersten Geschoßdecke.

Bei der Raumwärme wird ein völliger Ausstieg aus fossilen Energieträgern angekündigt. Nah- und Fernwärme werden forciert. “Grünes Gas“ (Biogas) soll „bevorzugt in (hochwertigen) Anwendungen eingesetzt werden.“ (Kraftfahrzeugmotoren?, Frage: B.L.) Im Neubau dürfen seit Beginn 2020 Öl und Kohle nicht mehr zur Gewinnung von Raumwärme vorgesehen werden. Ab 2025 kommt der verpflichtende Austausch von Kesseln älter als 25 Jahre und allen Kesseln spätestens ab 2035. Analog zum Stufenplan Öl und Kohle sind ab 2025 im Neubau keine neuen Gasheizsysteme mehr zulässig. Die Gasnetze zur Raumwärmeversorgung dürfen ausgenommen zur Verdichtung innerhalb bestehender Netze nicht mehr ausgebaut werden. Unter dem Stichwort „Wärmestrategie“ wird die „vollständige(n) Dekarbonisierung des Wärmemarktes (Biomassetechnologien, Fernwärme, direkte Solarnutzungen, Geothermie u Umgebungswärme)“ anvisiert. Der durchschnittliche Anteil an Fernwärmeanschlüssen soll um mindestens 1,5% p.a. steigen. Die Tiefengeothermie soll ins MinRoG integriert, Nutzungsrechte geregelt werden. Was hier unter Bedingungen des EU-Wettbewerbsrechts herauskommen kann, sehen wir anhand der derzeitigen Überprüfung der Rechtmäßigkeit der Wassernutzung österreichischer Elektrizitätswerke durch den EUGH.

Der österreichische Beitrag zum Green Climate Fund der Vereinten Nationen soll signifikant erhöht werden.

a) Verkehrswende und ungebremster Straßenbau

Besondere Aufmerksamkeit verdient natürlich im Zusammenhang mit Klimaschutzpolitik das Verkehrskapitel. Bereits in der Präambel zu diesem Punkt verpflichtet man sich zu einer Politik, die dazu beiträgt,“ Verkehr zu vermeiden, Verkehr zu verlagern, Verkehr zu verbessern und Anteil des Umweltverbunds (Fuß- und Radverkehr, öffentliche Verkehrsmittel und Shared Mobility) deutlich zu steigern.“ und ein „gutes, sicheres, barrierefreies und preisgünstiges sowie flächendeckendes Mobilitätsangebot für alle ÖsterreicherInnen“ zu schaffen. Klimaschutz sei der „Rahmen“ für den Verkehrssektor. Man wolle einen „Mobilitätsmasterplan“ mit der „langfristige(n) strategische Ausrichtung des Mobilitätssektors in Richtung Erfüllung des Pariser Klimaabkommens

Positiv sticht hervor, dass Elektroautos zunächst nicht prioritär genannt werden. Damit unterscheidet sich das Regierungsprogramm vom bisherigen Politiksprech, der so tat, als könne gerade im Verkehrssektor alles so weitergehen wie bisher, bloß elektrisch. Wohl heißt es bereits im Kapitel „Wohnen“, dass „Lehrverrohrungen für E-Mobilität verpflichtend vor(ge)sehen werden“ sollen, und laut Gebäudekapitel ist ein „Anschluss bzw. Lademöglichkeiten für batterieelektrische Fahrzeuge bei allen Neubauten vorzusehen“. Das Kapitel dazu titelt aber explizit mit dem Satz: „Effiziente E-Mobilität jetzt: Schienen in die Zukunft und mehr Bahn, Bim und Bus“ und da wird es dann auch sehr konkret. Erst beim Kapitel „Straßenverkehr“ fordert die Bundesregierung den „Ausbau (der) E-Mobilität im Bereich Entwicklung und Forschung (und) die Teilnahme am IPCEI „Batterien“. IPCEI bedeutet Important Project of Common European Interest“ und ist ein Instrument zur Subventionierung der Automobilindustrie bei der Schaffung einer mächtigen europäischen Batterienindustrie. Dafür darf das EU-Beihilfenrecht außer Kraft gesetzt werden. Carsharing Stellplätze im öffentlichen Raum soll es nur mehr „bei einem bis 2027 auf 100% steigenden E-Anteil in der Flotte des Betreibers“ geben. Busflotten sollen elektrifiziert werden, für die es dann eine eigene Mautkategorie geben soll. Die Förderung von E- und Wasserstoff PKWs soll beibehalten werden. Aus der Verwendung von Biotreibstoffen mit negativer Ökobilanz wie Palmöl soll ausgestiegen werden, gleichzeitig will man Biotreibstoffe forcieren und im Bereich synthetischer Kraftstoffe forschen. Der gesamte Straßenverkehr soll dekarbonisiert werden. Da auch die Produktion von E-Autos, Strom, und Biotreibstoffen mitunter eine negative CO2 Bilanz aufweist, hat man diesen Punkt eben etwas weiter hinten versteckt. Die Praxis wird zeigen, ob das bloß message control oder praktisch an der Fokussierung etwas ändert.

Zunächst nimmt der öffentliche Verkehr den prominentesten Platz ein. Die Bundesregierung bekennt sich zu einer „umweltfreundliche(n), leistbare(n) Mobilität für alle in Stadt und Land.“ Es soll ein „stündliche(s), ganztägige(s) ÖV-Angebots im urbanen und ländlichen Gebiet“ geben. Man wolle eine „stufenweise Verankerung und Umsetzung ausreichender Anschlüsse für alle Ortskerne mit öffentlichem Verkehr“ und will die nötige, kontinuierliche Bundes-Kofinanzierung über den Finanzaussgleich, den FLAF und das ÖPNRV-G „sicherstellen“. Ein 1-2-3 Österreich Ticket, nach dem Prinzip ein Euro p. Tag und Bundesland, zwei Euro bei zusätzlich einem Nachbarbundesland und drei Euro für das gesamte Bundesgebiet, soll eingeführt werden. Das war auch eine Forderung der SPÖ im Wahlkampf. Eine gemeinsame Bestellorganisation für den öffentlichen Verkehr, eine nationale Buchungsplattform mit transparenten Tarifen, eine vernetzte Fahrplangestaltung sollen eingeführt werden. Angegeben wird eine fünfprozentige jährliche Investitionssteigerung (incl. einer Vorausvalorisierung von 2,5%) um die Fertigstellung des Zielnetzes 2025+ zu beschleunigen und dringliche Nahverkehrsprojekte in Ballungsräumen rasch zu starten. Nachtzüge sollen vermehrt, die Fahrradmitnahme erleichtert werden und mit flexiblen Angeboten für die „Letzte Meile“ will man den öffentlichen Verkehr auch für den Tourismus attraktivieren.

Eine „Öffi-Milliarde für den Nahverkehr“ wird angekündigt. Vor allem für den Ausbau und die Verbesserung der Schieneninfrastruktur „in und um Ballungsrämue“. Die Schiene (Stadtregionalbahn/S-Bahn/Straßenbahnausbauten) dient dabei als „Rückgrat“. Bahnhöfe sollen zu „Mobilitätsdrehscheiben“ werden.

Eine zweite „Öffi-Milliarde“ ist für den Regionalverkehr zur „Sicherstellung flächendeckender ÖV Angebote außerhalb von Ballungsräumen“ vorgesehen. Das Zugsangebot soll ausgebaut werden. Die Kofinanzierung durch die Bundesländer soll mit einem „Schlüssel“ vereinbart werden. Bereits unter „Wirtschaft und Finanzen“ wird festgehalten: Beim zukünftigen Finanzausgleich, sollen „mögliche zusätzliche Mittel für den ÖPNV vor dem Hintergrund der notwendigen Ersterschließung bzw. der Wiederaktivierung und des notwendigen Ausbaus bereits vorhandener Strecken als Investitionsanreiz dienen und vorrangig unterversorgten Gebieten durch verbindliche Leistungsindikatoren wie Streckenlänge, Anzahl der Fahrzeuge, Fahrplankm, Platzkm, Personenkm, Anzahl der Fahrgäste und dergleichen gewíchtet zugeteilt werden. Damit soll der Umstieg auf den ÖPNV deutlich erleichtert werden.“

90% des Netzes soll elektrifiziert und die Energieabgabe auf Bahnstrom gesenkt werden. Die Bundesregierung gibt ein Bekenntnis zur ÖBB ab, zum Ausbau des Schienennetzes, allerdings mit der Einschränkung in Hinkunft „noch mögliche Direktvergaben nur unter der Voraussetzung der Marktkonformität der Vergabebedingungen“ Damit sollen die ÖBB auf die bevorstehende europaweite Liberalisierung des Bahnverkehrs und die damit verbunden wettbewerbliche Vergabe von Leistungen“ vorbereitet werden.

Das wirft zwei Fragen auf. Sind zwei Mrd. Euro viel Geld? Zunächst klingt es so. Es findet sich keine Zeitangabe im Papier der Regierung. In einem Jahr? In fünf Jahren? Das macht einen Unterschied. Wir können nicht nur davon ausgehen, dass eine tatsächliche zügige Inangriffnahme der definierten Ziele erheblich mehr an finanziellen Mittel erfordern würde, sondern auch, dass bei Fortsetzung der aktuellen Straßenbauprojekte, die Bauwirtschaft wahrscheinlich Probleme hätte, die Aufträge materiell abzuarbeiten. Die Beendigung des Straßenbauprogramms ist auch aus Kapazitätsgründen geboten. Zudem müsste vorgerechnet werden, wie sich die aktuellen Straßen- und Flughafenprojekte Tag für Tag in der CO2 Bilanz wiederfinden. Doch dazu nochmals später.

Die zweite Frage ist: Bringt die Liberalisierung des Bahnverkehrs im Nah- und Regionalverkehr Vorteile? Zunächst geht es um Ausbau und Betrieb eines Netzes. Dieses Netz muss effizient, für die NutzerInnen bequem und deren Bedürfnissen angepasst sein. Es sollte um Partizipation gehen und nicht um Liberalisierung. In der Schweiz wurden alle Gemeinden in den Ausbau und Betrieb des Schienennetzes durch die Schweizer Bahn einbezogen. Österreich hat eine andere regionale Struktur als die Schweiz. Anstatt zu liberalisieren, sollte vielmehr die Gründung regionaler, öffentlich-rechtlicher Verkehrsgesellschaften angeregt werden, um wie es in der Präambel zu diesem Kapitel heißt ein „gutes, sicheres, barrierefreies und preisgünstiges sowie flächendeckendes Mobilitätsangebot für alle ÖsterreicherInnen“ zu schaffen. Der Liberalisierungsstrategie der EU-Kommission muss entgegengetreten werden.

Positiv ist auch der Plan den Anteil des Radverkehrs im Modal Split von 8% auf 13% bis 2025 zu erhöhen. Man will die Bundesfinanzierung ausbauen und die StVO auf Benachteiligungen des Radfahrens und Zufußgehens hin durchforsten. In Ortskernen sollen Temporeduktionen durchgesetzt werden, das Pilotprojekt 140 km/h auf der Autobahn wird beendet. Hut ab, wenn das Alles realisiert wird.

Bereits in der Einleitung zum Kapitel „Verkehr und Infrastruktur“ heißt es: „Der Güterverkehr hat großes Potential, einen wesentlichen Beitrag für die Erreichung der Pariser Klimaziele zu leisten. Er soll energieeffizient, umwelt- und klimaschonend abgewickelt und die Chancen dieses Effizienzsprungs für den Beschäftigungs- und Wirtschaftsstandort sollen umfassend genützt werden.“ Konkret benannt werden auch hier zunächst die Verbesserung des Modal Split, in dem der Schienengüterverkehr finanziell attraktiver gestaltet wird, betriebliche Gleisanschlüsse, Einzelwagenverkehr sollen forciert werden. Bezüglich des LKW – Verkehrs will man über die EU-Wegekostenrichtline II Mindest- statt Höchstmautsätze durchsetzen. Man will das „Transitproblem bekämpfen“, durch Schaffung einer Alpentransitbörse, sektorales Fahrverbot, eine Korridor-Maut, diese der Höhe nach an die Schweiz anpassen, LKW-Dosierungen an den Außengrenzen, LKW-Fahrverbote, die Bekämpfung des Tanktourismus. Kabotage und Gigaliner will man verhindern. Das Alles erscheint reichlich ambitioniert und umso mehr in einem grellen Licht, weil die laufenden und in Planung befindlichen Hochleistungsstraßenprojekte nur verschlüsselt angesprochen werden: „Österreich hat eines der dichtesten Straßennetze Europas. Zur Erhaltung, Optimierung und verkehrsträgerübergreifenden Weiterentwicklung der Verkehrsinfrastruktur braucht es fachliche Entscheidungs- und Planungsprozesse.“ Der Bundeskanzler antwortet, darauf angesprochen, es gehe hier nicht um Konfliktvermeidung, sondern wir leben in einem Rechtsstaat, und genehmigte Projekte sind eben genehmigte Projekte und, wo ein Verfahren läuft, läuft ein Verfahren. Mag sein. Tatsache ist aber auch, dass diese Projekte Teil der TEN (Transeuopäischen Netze) sind, und dazu findet sich im Regierungsprogramm keine Silbe. Auch zum aberwitzigen Gesetzesvorhaben der Ministerin Schramböck aus der vormaligen Regierung, eine Befristung im Umweltverträglichkeitsprufungsgesetz (UVP-G) einzuführen, mit der Rechtsfolge, dass es als genehmigt gilt, wenn die Frist überschritten wird, findet man nur am Rande im Kapitel „Verfassung, Verwaltung und Transparenz“ eine verstohlene Anmerkung: Man wolle die  „Vollkonzentration des UVP Verfahrens nach dem 2. Abschnitt des UVP-G 2000“ und im Klimakapitel die Ankündigung: „Anpassung des Umweltverträglichkeitsprüfungsgesetzes im Sinne der Rechtssicherheit an die Ergebnisse des Vertragsverletzungsverfahrens 2019/2224“

Auch für die Luftfahrt, Schiffahrt, das Seilbahnwesen will man eine „klima-faire Zukunft“. Die öffentlichen Verkehrsverbindungen nach Schwechat und Bratislava sollen verbessert werden, für die Luftfahrt soll ein Emissionsreduktionspfad beschlossen werden. Kerosin soll besteuert werden. Jedoch soll auch das EU-Project „Single European Sky“ umgesetzt werden. Folgerichtig findet sich im Text keine Aussage zum Bau der III. Piste am Flughafen Schwechat. Auch das ist ein TEN-Projekt und wie überall, wo Klimaschutz in Widerspruch zu EU-Vorgaben gerät, schweigt das Regierungsprogramm.

b) Klimaschutz und Freihandelsbekenntnis

Im Kapitel „Österreich in Europa und der Welt“ verpflichtet sich die Bundesregierung zur „Unterstützung unserer exportorientierten Wirtschaft“. Man spricht sich für eine EU-Handelspolitik aus, „die sich für umfassende internationale Handelsabkommen einsetzt“ und „protektionistischen Tendenzen entschlossen entgegen(tritt)“. Freilich sollen diese Handelsverträge „durchsetzbare Standards für soziale Rechte, öffentliche Dienstleistungen und Umwelt- und Klimaschutz sowie gegen Abholzung der Wälder, Sozialdumping und Bodenspekulation“ enthalten. Das Mercosur-Handelsabkommen wird „in der derzeitigen Form“ abgelehnt. Die „Absage an alle anderen EU-Handelsabkommen, die bereits beschlossen wurden oder noch verhandelt werden (u.a. EU-Vietnam, EU-Australien, EU-Neuseeland, EPAs -Economic Partnership Agreements mit afrikanischen Staaten“ wie von der Plattform „Anders Handeln gefordert (Attac-PA, 14.11.2019), findet sich nicht im Regierungsprogramm. Ebenso nicht der Ausstieg aus dem „Energiecharta-Vertrag“. Und entgegen den Forderungen der Zivilgesellschaft, soll sich Österreich auf EU-Ebene, „in enger Abstimmung mit der EU-Kommission für die Schaffung eines multilateralen Investitionsgerichtshofes zur Beilegung von Streitigkeiten mit Drittstaaten (ständige RichterInnen, keine LaienrichterInnen)“ einsetzen.

Es wird jedoch nicht nur ein Bekenntnis zum Freihandel abgegeben, sondern auch zur Kreislaufwirtschaft; mehrfach taucht auch das Bekenntnis zu einer Stärkung von Regionalität auf. Abfälle sollen reduziert, die Importabhängigkeit verringert werden. Es wird präzisiert: „Ziel ist eine 100% regionale und saisonale Beschaffung in Verbindung mit einer Bio-Quote von 30% bis 2025 und 55% bis 2030 – täglicher Klimateller in öffentlichen Küchen.“ Lebenszyklen von Produkten sollen verlängert, Lebensmittelverschwendung reduziert, und das Reparieren gefördert werden. Reparaturdienstleistungen sollen steuerlich begünstigt werden, falls es gelingt die „EU-Mehrwertsteuerrichtlinie“ (richtig heißt es Umsatzsteuerrichtlinie) „weiterzuentwickeln“. Es soll einen Aktionsplan für Mikroplastik und für Batterien und Kleingeräte soll es Pfandsysteme geben. Auch im Vergaberecht soll das Bestbieterprinzip um ökologische Kriterien erweitert werden.

Die Bundesregierung verfolgt eine Biodiversitätsstrategie, will Palmöl reduzieren, bei öffentlichen Flächen auf Pflanzenschutzmittel verzichten und so die „Natur schützen“ und die „Artenvielfalt erhalten“. Der Flächenverbrauch soll, wie schon von den Vorgängerregierungen, auf netto 2,5 ha/Tag bis 2030 reduziert werden. (Derzeit ca. 12 ha/Tag). Agrarfabriken werden abgelehnt und die Existenz der bäuerlichen Landwirtschaft soll abgesichert werden. Aus GTV – Futtermitteln soll ausgestiegen, der Biolandbau gestärkt werden. Gefordert wird ein „Verbot von Schlachttiertransporten in Drittstaaten“. Warum nur in Drittstaaten? Auch hier steht der EU-Binnenmarkt einer konsequenten Tierschutzpolitik entgegen.

Was im Regierungsprogramm harmonisch aneinandergefügt ist, Freihandel und Klimaschutz, führt praktisch zu unauflöslichen Widersprüchen. Die Bearbeitung dieser Widersprüche wird von der nationalen auf die EU-Ebene gehoben. Die Bundesregierung will sich auf internationaler Ebene für CO2 Zölle in Abstimmung mit der WTO einsetzen, auf europäischer Ebene soll es ein „Border-Tax-Adjustment“ geben. Der gescholtene Protektionismus, dem man „entschlossen entgegentreten“ will, bekommt auf EU-Ebene einen Klimaschutzrock. Dabei geht es dann nicht mehr um Regionalwirtschaft, sondern um imperiale Blockbildung. So wolle man sich auch für eine Reform des EU-Wettbewerbsrechts im europäischen Interesse und zur nachhaltigen Stärkung der europäischen Wirtschaft“ einsetzen. Fusionen großer Unternehmen sollen erleichtert, Ausnahmen im EU-Beihilfenrecht definiert werden, um „innovative Markteinführungen (Klimaneutrale Technologien) und Anschubfinanzierung leichter zu fördern“ An „Important Projects of Common European Interest“ will man sich beteiligen, siehe Elektroautos. Beim 5 G Ausbau will man „technologische Unabhänigkeit“. Der EU nicht der Menschen, muss man ergänzen. Eine Investitionskontrolle soll umgesetzt und kritische Industriezweige geschützt werden. Es dürfe nicht zu einem Ausverkauf kritischer Technologie kommen. Der Schwellenwert für die Genehmigungspflicht soll auf 10% des Eigenkapitals gesenkt werden.

Bahnliberalisierung, Vorrang des EU-Freihandels, unsichere Finanzierung stehen den ambitionierten Klimaschutzzielen entgegen, oder verwandeln sie zu Treibmitteln zur Formierung eines europäischen Blocks. Wie ambitionierte Ziele mit einer restriktiven Budgetpolitik und den EU-Fiskalregeln zusammengehen sollen, werden wir auch noch in anderem Zusammenhang beachten müssen. So steht auch die Einbindung der Gemeinden beim Projekt „Ökologisierung vorantreiben“ unter dem Vorbehalt der “Einhaltung des innerösterreichischen Stabilitätspakts“. “Die Bundesregierung bekennt sich dazu die die Schuldenquote .. weiter in Richtung Maastricht Ziel von 60% zu senken, will aber unabhängig davon „die notwendigen Klima- und Zukunftsinvestitionen sicher(stellen)“. Da dürfen wir mal auf den Budgetvorschlag im März gespannt sein.

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5. Armut bekämpfen, Reichtum fördern

Die Bundesregierung will den Anteil von armutsgefährdeten Menschen im ersten Schritt halbieren.“

Bei Löhnen, die unter den niedrigsten KV-Löhnen liegen, bei Fällen in denen die Löhne bereits seit Jahrzehnten nicht mehr angehoben wurde, wolle man eine sozialpartnerschaftliche Einigung. Wenn diese nicht zustande kommt, eine Entscheidung durch das Bundeseinigungsamt.

Zur Bekämpfung von Kinderarmut, wolle man Lücken im Unterhaltsvorschuss schließen. Der Kindermehrbetrag des Familienbonus wird erhöht und allen Erwerbstätigen mit Kindern als Negativsteuer ausbezahlt. Die Untergrenze des Familienbonus wird von 250 auf 350 Eur p. Kind, der Gesamtbetrag von 1.500 auf 1750,- Eur p. Kind erhöht. Wenn ich das richtig interpretiere, heißt das, dass Erwerbstätige, auch wenn sich aufgrund ihres niedrigen Einkommens kein oder ein geringerer Kinderbonus ergibt, Eur 350,- p.a. als Negativsteuer erhalten. Freilich bleibt die Tatsache, dass das Problem bei der Kinderarmut nicht die Geldleistungen sind, sondern die fehlenden Sachleistungen, sprich Kinderbetreuung, davon unberührt.

Um der Altersarmut insbesondere von Frauen entgegenzutreten, sollen Fraueneinkommen erhöht, partnerschaftliche Formen der Elternteilzeit und Pensionssplittingmodelle forciert werden. Bei Letzteren wird die Latte sehr hoch gelegt: Es soll ein „automatisches Pensionssplitting“ geben. Wer nicht innerhalb einer Frist hinausoptiert, bleibt im Splitting Modell. Bezugsrahmen sollen gemeinsame Kinder bis zum 10. Lebensjahr sein, Kindererziehungszeiten, die jetzt schon als Ersatzzeiten am Pensionskonto angerechnet werden, sollen unberücksichtigt bleiben. Es soll eine zusammengerechnete Beitragsgrundlage und Gutschrift zu jeweils 50% geben. Darüber hinaus werden Modelle für „Freiwilliges Pensionssplitting“ vorgeschlagen. Die Frage, inwieweit Pensionssplittingmodelle erst recht zur Vertiefung persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse führen, bleibt unerwähnt. Diese Ankündigungen wurden in der Zwischenzeit vom neuen Sozialminister Anschober relativiert. Keinesfalls werde es ein automatisches Pensionssplitting geben. Ansonsten gehe es um „keine grundlegende Neuausrichtung“ im Pensionssystem, lediglich „Lücken und Ungerechtigkeiten“ wolle man schließen. Über die nachteiligen Folgen eines verfrühten Austritts, Teilzeitarbeit, fehlende Beitragsjahre soll mehr informiert werden; auch über ein „Gesundheitsmanagement“ soll das „effektive Pensionsantrittsalter deutlich“ erhöht werden. Gegen Kündigungen bei Erreichen des Pensionsalters soll es eine Anfechtungsmöglichkeit geben. Betriebliche Gesundheitsprogramme sollen den „Verbleib im Erwerbsleben unterstützen“. Zu der im Sommer beim „freien Spiel der Kräfte“ beschlossenen Wiedereinführung der „Hacklerregelung“ steht nichts im Regierungsprogramm. Erst in den letzten Tagen kündigte die Koalition an, dass die Regelung „repariert“ werden müsse. Die für die Anspruchsberechtigten offene Flanke ist dabei, dass die beschlossene Regelung zum einen tatsächlich eine Ungerechtigkeit gegenüber allen, die vor dem 1.1.2020 mit 45 Beitragsjahren und Abschlägen über 11% in die Pension gegangen sind, bedeutet, zum anderen Frauen völlig unberücksichtigt lässt. Wie diese Ungerechtigkeiten ausgeglichen, die Frauen integriert werden könnten, müsste Thema einer Reparatur sein. Freilich müssen wir dafür eintreten, dass nicht einigen wieder etwas weggenommen wird, sondern dass im Sinne der Gerechtigkeit mehr Menschen, denen es zusteht, etwas gegeben wird.

Im gesamten Bereich Arbeit und Soziales wird der 12 Stundentag und die 60 Stundenwoche mit keinem Wort erwähnt. Deren Abschaffung bzw. überhaupt die Einführung einer 35 Stundenwoche und anderer Formen von Arbeitszeitverkürzung wären wohl der entschiedenste Beitrag zur Gesundheitsprävention und damit einer Anhebung des faktischen Pensionsantrittsalters.

Die „Teilhabe am Kapitalmarkt und private Altersvorsorge“ soll gestärkt werden. Guthaben in Vorsorgekassen sollen auf eine Pensionskasse übertragen werden können. Bei Vorsorgeplänen soll auch für welche ohne Kapitalgarantie optiert werden können. Das ist eine zwingende Folge der Austeritätspolitik. Die Staatsverschuldung ist der einzig wirklich sichere Hafen für private kapitalgedeckte Altersvorsorge. Wird die Staatsverschuldung reduziert, werden die Kapitalstöcke dieser Pensionsguthaben entweder entwertet, oder in „Realinvestitionen“ gedrängt, konkret in Immobilien und Aktien. Mit unabsehbaren Folgen. Es ist derzeit schwer zu beurteilen, ob die aktuelle Immobilienpreis- und Aktienhausse noch Ergebnis realwirtschaftlicher Indikatoren oder bereits reine „asset inflation“ sind. Deshalb reagieren die Riester-Renten-Deutschen zunehmend hysterisch auf die lockere Geldpolitik der EZB. Sie sehen die diskrete Enteignung der Pensionsguthaben der Mittelschichten, und wollen nicht, dass jemand merkt, dass die Austeritätspolitik ihrer Regierung den entscheidenden Beitrag dafür leistet. Ihre Empfehlungen – noch mehr Austerität in der Peripherie – würden den Sprengsatz nur noch weiter aufladen. Die EZB weiß, eine Beendigung der lockeren Geldpolitik würde den Euroraum sofort sprengen. Diese höchst notwendigen Erwägungen finden sich mit keiner Silbe im Regierungsprogramm. Aber vielleicht gibt es ein Augenzwinkern aus Brüssel, das die neue Regierung in Wien wahrgenommen hat: Klimaschutz. Unter diesem Label ist Verschuldung zulässig und für den Aufbau von Kapitalstöcken für private kapitalgedeckte Pensionen denkbar.

Der Eingangssteuersatz soll von 25 auf 20% gesenkt werden. (Gilt ab einer Bemessungsgrundlage von Eur 11.000,- p.a.). Bereits im Kapitel „Wirtschaft und Finanzen“ wünscht die Regierung, dass „kleine und mittlere Einkommen am Ende des Monats wieder mehr zum Leben haben und sich Eigentum schaffen können.“ Zeitnah wird eine Reform der Einkommenssteuer angekündigt: Es soll nicht nur der Eingangssteuersatz sondern auch die Stufen von 35 - > 30% und von 42 auf 40% gesenkt werden. Diese Ankündigung ist zunächst positiv zu bewerten. Damit verflacht sich die Progressionskurve in den unteren Bereichen. Der Eingangssteuersatz von 25% stammt noch aus der KHG Ära. Es könnte durchaus auch ein Eingangssteuersatz in Höhe von 10% und darunter diskutiert werden. Unabdingbar ist auf der anderen Seite die Forderung nach einem Anstieg der Progression in den höheren Einkommensklassen. Dabei geht es nicht mehr bloß um die Mobilisierung von Steueraufkommen, sondern auch um soziale Gerechtigkeit. Keine Erwähnung findet im Regierungsprogramm das Auslaufen der 55% Progressionsstufe für steuerbare Einkünfte über 1 Mio Eur. Bei aller berechtigten Kritik, die das hervorruft, sollten wir die nicht vergessen, die das Auslaufen seinerzeit so beschlossen haben. In der Zwischenzeit hat Finanzminister Gernot Blümel im Ö1 Mittagsjournal am 18.1.2020 angekündigt, dass an den 55% für Einkommen über 1 Mio Eur festgehalten werde. Der Kanzler wolle das.

Die Mindestkörperschaftssteuer (KöSt) soll abgeschafft werden, was zu begrüßen ist. Gleichzeitig soll aber generell der KöSt Satz von 25 auf 21% reduziert werden, anstatt eine Progression einzuführen, was nichts anderes als ein Steuergeschenk an die Reichen ist. Ethische Investitionen sollen von der Kapitalertragssteuer (KESt) befreit werden. Für den Gewinnfreibetrag (§10, Abs.4 EStG) soll es ein Investitionserfordernis erst ab einem Gewinn von Eur 100.000,- geben. Bisher gibt es den Gewinnfreibetrag von 13% ohne Investitionserfordernis nur bis zum einem Betrag von Eur 30.000,-. Sollte diese Regelung so kommen wäre das tatsächlich zentimeterdickes Schmalz aufs Brot.

Über das Energieeffizienzgesetz sollen Maßnahmen in Form von Sachleistungen (z. B. Wärmeversorgung) unterstützt werden.

Besonderer Stellenwert wird „Gemeinnützigkeit, ehrenamtliche(m) Engagement, Freiwilligentätigkeit und (der) Zivilgesellschaft“ im Sozialkapitel zugesprochen. Wir dürfen mit einigen kronetauglichen Ehrungen rechnen. Die Wurzeln dafür finden wir in urgrünalternativen Vorstellungen über einen formellen und informellen Sektor in der gesellschaftlichen Reproduktion. Ein „Satellitenkonto in der VGR“ soll deren Bedeutung quantifizieren. Für junge Leute im Freiwilligen Sozialen Jahr soll es die Ö-Card geben und die Entschädigung angehoben werden. Kursgewinne bei Wertpapieren und Fondsprodukten sollen durch Wiedereinführung einer Behaltefrist teilweise (wieder) von der KESt befreit werden.

Im Kapitel „Arbeit“ gibt es ein Bekenntnis zur Einbindung von Sozialpartnern und Zivilgesellschaft. Die Lehre soll aufgewertet werden. Neue Lehrberufe und Berufsbilder werden im Umwelt- und Klimaschutzbereich geschaffen. Für Langzeitarbeitslose und „Menschen mit Vermittlungshindernissen“ soll es Eingliederungsbeihilfen geben. Frauen sollen für technische Berufe, Männer für Care und pädagogische Berufe mobilisiert werden. Mit Hilfe eines Zeitwertkontos sollen längere Auszeiten auf freiwilliger Basis ermöglicht werden. Sabbatical-Modelle mit einer aufschiebenden Wirkung für die Pension werden geprüft. Die Mittel für den 2. Arbeitsmarkt sollen aufgestockt werden. Der vieldiskutierte AMS-Algorithmus soll evaluiert werden. Bei den Zumutbarkeitsbestimmungen soll die Mindestverfügbarkeit von 16 auf 20 Stunden mit einer Übergangsfrist von 3 Jahren bei Vorhandensein von adäquaten Kinderbetreuungsmöglichkeiten erhöht werden. Lohn- und Sozialdumping im Rahmen des EU-Binnenmarktes sollen bekämpft werden, indem für „praxisgerechte Entsenderegelungen“ gesorgt wird. Dafür sollen Verwaltungsübereinkommen mit den Nachbarstaaten abgeschlossen werden.

a) Pflegeversicherung und Weiterentwicklung des bestehenden Systems

Verwirrung herrscht im Kapitel „Pflege“. Im Regierungsprogramm wird von „Bündelung und (der) Ausbau der bestehenden Finanzierungsströme (Pflegeversicherung)“ gesprochen. „In Abstimmung mit den zuständigen Bundesländern“ wolle man „eine grundlegende Reform der Pflege“ sicherstellen. Unter „Grundprinzipien“ betont man aber dann die „Weiterentwicklung des bestehenden Systems“. Und so wird dann im Text präzisiert. Pflegeversicherung bedeute „Bündelung und Ausbau der bestehenden Finanzierungsströme aus dem Bundesbudget (Pflegegeld, Pflegefonds, Hospizausbau, Zweckzuschuss Regress, Förderung 24 h Betreuung, Pflegekarenz/Teilzeitgeld, Ersatzpflege, SV pflegender Angehöriger etc.)“ Auch die ominöse AUVA Connection taucht wieder auf. Der Kanzler scheint davon überzeugt, es gebe dort unerschlossene Finanzierungsquellen. So sollen bei Überführung der Palliativpflege und Hospiz in die Regelfinanzierung die Aufgaben der AUVA weiterentwickelt werden. Das Sachleistungsprinzip wird nur am Rand erwähnt, nicht im Zusammenhang mit der Pflegeversicherung. Nur so aber ergibt die Pflegeversicherung einen Sinn. Aus der Pflegeversicherung muss der Rechtsanspruch auf die Sachleistung „Pflege“ erwachsen.

Wenn wir das „Grundprinzip„so viel wie möglich daheim und ambulant – so viel wie nötig stationär“ durchsetzen wollen, werden wir das mit den bestehenden Abläufen, von einem Pflegesystem kann man eigentlich nicht sprechen, und dem Pflegegeld nicht schaffen können. Auch wenn sich im Regierungsprogramm einige Verbesserungen finden: Die mobile Pflege soll ausgebaut und weiterentwickelt werden, Entlastungsangebote, wie z. B. eine Ersatzpflege sollen geschaffen werden. Ein „Projekt Community Nurses“ soll in 500 Gemeinden gestartet werden. Pflegende Angehörige, insbesondere Kinder, sollen unterstützt werden. Es soll einen pflegefreien Tag pro Monat geben, bei ArbeitgeberInnen soll um Bewusstsein für die Verbesserung der Vereinbarkeit von Pflege und Beruf geworben werden. Die Möglichkeiten zur Selbst- und Weiterversicherung für pflegende Angehörige sollen ausgeweitet werden. Sie sollen rückwirkend länger als 3 Jahre eingeräumt werden. Pensionsversicherungszeiten sollen auch ohne vorangegangene Erwerbszeiten erworben werden können. Krisenpflegeeltern sowie Pflegeeltern und Pflegekinder sollen besser abgesichert werden. Eine Demenzstrategie wird entwickelt. Die Einstufung beim Pflegegeld soll neu bewertet und ein System entwickelt werden, „in dem alle Bereiche berücksichtigt sind.“ Die jährliche Valorisierung des Pflegegeldes gilt bereits seit 1. Jänner d. J. Aus wenig und nicht ausreichend wird etwas mehr. Mit dem bestehenden Pflegegeldsystem ist ein modernes Pflegesystem, das den eigenen Grundprinzipien entspricht nicht zu haben.

Da wird gedrippelt. Links angedeutet und rechts geschossen. Oder auch umgekehrt. Jedenfalls besteht die Gefahr, dass das zukunftsweisende Konzept einer Pflegeversicherung, als fünfte Säule der Sozialversicherung mit Sachleistungsprinzip durch diese irreführende Politikführung völlig desavouiert wird. Den Grund für diese eigenartige Aufführung findet man im Kapitel „Wirtschaft und Finanzen“. Das Commitment lautet: „Senkung der Steuer- und Abgabenquote in Richtung 40%“. In kaum einem Punkt wird die Kontinuität von rot-schwarz über türkis-blau zu türkis-grün so deutlich. Die Limitierung der öffentlichen Budgets ist die Hürde für eine ökosoziale Wende, die nicht übersprungen wird. Es ist schon ein Fortschritt, dass im Text mehrmals von der „Prüfung der Potentiale zur Senkung der Lohnnebenkosten ohne Leistungsreduktion“ gesprochen wird, also der Zusammenhang von Kosten und Leistung nicht mehr einfach in Abrede gestellt wird. Besonders deutlich werden die Mängel in Folge dieses Politikversagens bei der Rekrutierung und der Organisation der Pflegekräfte. Im Regierungsprogramm werden einige Maßnahmen benannt, wie ein Ausbildungsfonds, Fachkräftestipendien, Implacementstiftungen. Entspannung erhofft man sich durch die Aufnahme aller Pflegeberufe in die Mangelberufsliste, „Migrants-Care-Prorgramme“ sollen gestartet werden. Eine Pflegelehre wird eingeführt. An der 24h Betreuung in der derzeitigen Form wird aber festgehalten. Hier soll allenfalls überprüft werden, in wie weit diese nicht gleich „für mehrere KundInnen“ beschäftigt werden könnten. Am Ende: In der Pflege nichts Neues.

b) Gesundheit ohne Mitsprache der Versicherten

Wenig Neues findet sich im Gesundheitskapitel. Die Bundeszielsteuerung, die unter Minister Stöger im Rahmen der Deckelung der Gesundheitsausgaben eingeführt wurde, soll gestärkt werden. So soll die Bundeszielsteuerungskommission aufgewertet werden. In diesem Zusammenhang steht der Ausbau der „Primärversorgungseinheiten“, auch ein Projekt noch aus der rot-schwarzen Koalition. Positiv ist das Bekenntnis zum Ausbau der psychotherapeutischen Leistungen zu werten. Angekündigt wird ein „substanzieller stufenweiser bedarfsorientierter Ausbau der Sachleistungsversorgung bis 2024 im Bereich der psychischen Gesundheit“ mit dem Ziel: „Bedarfsdeckung“. In der Medizinausbildung soll dem Ärztemangel mit Stipendien, verbunden mit einer befristeten Verpflichtung in Österreich tätig zu sein, begegnet werden. Ebenso soll es einen „Facharzt für Allgemeinmedizin“ geben. Bei Vermietung an ÄrztInnen soll die unechte Umsatzsteuerbefreiung aufgehoben werden. Die Prävention in Schulen und Betrieben soll gestärkt werden. Zur Prävention soll ebenfalls ein „Eltern-Kind-Pass bis zum 18. Lebensjahr“ beitragen. Bemerkens- und äußerst lobenswert ist die Ankündigung, es werde „keine Ausweitung von Selbstbehalten für Arztbesuche im ASVG“ geben. Die Bundesregierung will für eine „hochqualitative, abgestufte, flächendeckende und wohnortnahe Gesundheitsversorgung“ sorgen.

Die Bundesregierung „bekennt sich zum Prinzip der Sozialversicherung“. Die große Enteignung und Entmündigung der Versicherten durch die Sozialversicherungsreform der türkis-blauen Regierung wird mit keinem Wort angesprochen. Das war auch kaum zu erwarten. Selbst die SPÖ hat das im Wahlkampf nur am Rande angesprochen. Der Widerstand gegen diese „Reform“ wurde bereits bei deren Durchsetzung von SPÖ und Grünen torpediert, stand die bisherige Struktur doch der Stärkung der Bundeszielsteuerung im Wege.

Im Kapitel Frauen bemerkenswert ist das Bekenntnis zum „flächendeckenden und bedarfsgerechten Ausbau“ der Kinderbetreuung, quantitativ und qualitativ. Mittelfristig soll das 2. Kindergartenjahr verpflichtend werden. Für Ganztagesbetreuungsplätze soll ein Kriterienkatalog erarbeitet werden.

Beim Unterhaltsvorschuss wird ein „Lückenschluss“ angekündigt, in dem Akontozahlungen eingeführt werden und dieser auf die Dauer des Bezugs der Familienbeihilfe ausgedehnt wird. Die Zuverdienstgrenze für Studierende beim Bezug von Familienbeihilfe soll von Eur 10.000,- auf Eur 15.000,- erhöht werden.

Das Frauenbudget soll „substanziell“ aufgestockt werden. Eine 40%ige Frauenquote in Aufsichtsräten von Unternehmen in öffentlicher Hand soll eingeführt werden. Über die negativen Auswirkungen von Teilzeitarbeit soll mittels einer Info-Kampagne sensibilisiert werden.

Es soll einen „nationale(n) Aktionsplan Gewaltschutz“ geben, in dessen Rahmen Opferschutzeinrichtungen und Beratungsstellen ausgebaut, mehr Kapazitäten in Frauenhäusern und Start- und Übergangswohnungen durch §15a Vereinbarungen mit den Ländern geschaffen werden sollen. Die Bundesregierung bemüht sich um eine „bestmögliche Umsetzung der Istanbul-Konvention“. Offenkundig in Reaktion auf die Kritik zum Gewaltschutzpaket der alten Regierung sollen die Kriterien für die Anzeigepflicht für bestimmte Berufsgruppen präzisiert werden. Für „Gefährder“ soll es Gewaltpräventionsprogramme geben.

Die Bundesregierung will eine „Beschäftigungsoffensive“ für „Menschen mit Behinderung“. Diese sollen echten „Lohn statt Taschengeld“ bekommen. Bundeseinheitliche Rahmenbedingungen für persönliche Assistenz sollen erarbeitet, ein Inklusionsfonds geprüft werden. Das Betriebsratswahlalter soll auf 16 Jahre gesenkt werden.

Unerwähnt bleibt das vom Verfassungsgerichtshof zerzauste Bundessozialhilfegesetz. Vom Kanzler hört man, er hätte eine einheitliche Regelung gewollt, sie sei aber nicht erzielbar gewesen. Sozialminister Anschober erklärt, das Projekt nicht weiterzuverfolgen. Mitunter sollte tatsächlich auf eine Reform der Mindestsicherung in den Bundesländern fokussiert werden. Ein besonderes Ärgernis ist z. B. in OÖ der Entfall der Mindestsicherung bei Durchführung einer Ausbildung. Positiv ist, dass die Abschaffung der Notstandshilfe kein Thema mehr ist.

Auch positiv ist, dass ein bedingungsloses Grundeinkommen mit keiner Silbe erwähnt wird. Darüber gab es schon in der Gründungsphase der grünalternativen Bewegung keinen Konsens. Ebenso unerwähnt bleibt die Einführung einer Erbschafts- oder Vermögenssteuer. Das wäre aber auch unter einer anderen Regierungskonstellation kaum zu erwarten gewesen. Mehrmals wird ein Bekenntnis zur Einbindung der Sozialpartner und der Zivilgesellschaft abgegeben.

c) Bildung ohne Budget

Die neue Bundesregierung gibt ein Bekenntnis dazu ab, dass „kein junger Mensch das Bildungssystem verlässt, ohne die nötigen Grundkompetenzen zu beherrschen, die für ein selbständiges Leben, gesellschaftliche und politische Teilhabe sowie Erfolg am Arbeitsmarkt notwendig sind“. Dafür soll eine „mittlere Reife vor Ende der 9. Schulstufe und eine „Bildungspflicht“ bis zum 18. Lebensjahr eingeführt werden, mit der sichergestellt wird, dass alle Mathematik, Deutsch und Englisch beherrschen, bevor sie die „Schullaufbahn“ beenden. Wie das konkret sichergestellt werden sollen, wird nicht ausgeführt.

Die Bundesregierung garantiert „bedarfsgerechte Ressourcen für unsere Schulen“. Es soll mehr Supportpersonal geben und über den Finanzausgleich will man für zusätzliches Personal sorgen. SchulleiterInnen sollen als „Führungskräfte“ weiterentwickelt werden. „Schulen mit besonderen Herausforderungen“ will man „stützen“. Dafür soll es ein Pilotprogramm an 100 ausgewählten Schulen (Brennpunktschulen) in ganz Österreich geben; bei über 5000 Pflichtschulen in Österreich. „Sonderpädagogik wird sichergestellt, wo immer sie nötig ist.“ „Um Eltern zu entlasten“, gibt es „mehr Ferienbetreuung und Sommerunterricht für jene, die es brauchen“ und „mehr Förderstunden am Nachmittag.“ Die Schulen sollen baulich modernisierst werden, auch zur Gewaltprävention. Positiv sticht das Bekenntnis zum Ausbau ganztägiger Schulen mit „verschränktem und unverschränktem“ Angebot hervor.

Die integrierte Gesamtschule für die Sekundarstufe wird mit keinem Wort erwähnt. „Ab wann kann Vorarlberg Modellregion für die Gemeinsame Schule werden, eventuell nach 2024?“ fragen Renate und Timo Brunnbauer von der KULI-UG.

Bei den „ElementarpädagogInnen“ will man den Männeranteil erhöhen. Die Sprachförderung will man weiterausbauen und „Deutschkenntnisse einfordern.“ An den vielfach kritisierten Deutschförderklassen wird festgehalten, man will aber auch “verpflichtende Förderstunden auch nach Wechsel in den ordentlichen Status sicherstellen“, wobei den Schulstandorten Gestaltungsfreiheit zugestanden wird. Neben den Grundkompetenzen werden Klimawandel, financial literacy, Medienkompetenz, digitale Technologien und Erinnerungspolitik als Lehrinhalte betont. Für jede(n) Schüler(in) der Sekundarstufe I (=nach der Volksschule) soll es ein digitales Endgerät, unter privater Mitfinanzierung „sozial abgefedert“ geben. Die „Feedbackkultur“ soll verbessert werden. Bei der Sexualpädagogik will man eine Regelung für externe Kräfte. Eine tägliche Bewegungseinheit soll es geben.

Der „bekenntnisorientierte Religionsunterricht“ wird beibehalten und der Ethikunterricht soll für all jene sichergestellt werden, „die keinen Religionsunterricht besuchen (oder ohne Bekenntnis sind)“. Ein Lehramtsstudium Ethik soll eingeführt werden. Es soll „klare Qualitätsstandards für alle Bildungseinrichtungen“ inclusive privater geben, wobei hier wiederum islamische gesondert adressiert werden. Ebenso will man das Angebot für „lebensbegleitende Erwachsenenbildung ausbauen.“

Über allem schwebt aber das Damoklesschwert fehlender konkreter Finanzierungszusagen. „Der alte Stil lebt eigentlich weiter, grüne Tupfer sind nur an wenigen Stellen zu erkennen. Absolut ungeklärt sind Finanzierungsvorhaben. Aber ohne Göd ka Musi.“ bilanzieren Renate und Timo Brunnbauer von der KULI-UG in OÖ.

Im Kapitel Wissenschaft und Forschung will man die Autonomie der Universitäten, die de facto vor Jahren abgeschafft wurde, stärken, die drop out Rate substanziell verringern, sowohl die Grundlagenforschung wie die angewandte Forschung stärken. Die Finanzierungszusagen sollen mit Indexierungen für die nächste Leistungsvereinbarungsperiode bis 2027 geleistet werden. Universitäre Kettenarbeitsverträge will man reformieren und das Verhältnis von Universitätsrat, Rektorat und Senat in den Entscheidungsstrukturen überdenken. Das ECTS – Punktesystem soll „unter Wahrung der Bologna-Idee“ validiert werden. An den bestehenden Zugangsregelungen wird nicht gerüttelt, sie sollen „qualitätsvoll und fair“ weiterentwickelt werden. Auch das bestehende System der Studienbeiträge wird beibehalten. In die Kompetenz des Vizekanzlers fällt eine einzurichtende Fachhochschule „Austrian School of Governance“. Auch soll es ein nationales Zentrum für Klimaforschung und Daseinsvorsorge geben.

„Der technologische Fortschritt wird immer rasanter und die digitale Vernetzung immer globaler“. Die Bundesregierung will deshalb „Österreich zu einer der führenden Digitalnationen innerhalb der EU“ machen. Das steht tatsächlich wortwörtlich so drinnen, was sich wahrscheinlich mit dem Schramböck Faktor erklärt. Man will deshalb die „5G-Vorreiterrolle weiter ausbauen und (die) Anwendung für neue Technologien (Autonomes Fahren, Internet of Things etc.) mit Telekomanbietern vorantreiben.“ Auch will man die Breitbandstrategie 2030 weiterentwickeln und den Glasfaserausbau vorantreiben. Die Bundesregierung bekennt sich „zur Netzneutralität nach Vorgaben der EU“. Gleichzeitig sorgt man sich um „Europas Technologieautonomie im Bereich 5G“ und will die „Abhängigkeit von Drittstaaten vermeiden.“ Bezüglich der gesundheitlichen und datenschutzrechtlichen Bedenken hinsichtlich dieser Technologien bekennt mach sich zu einer Technologiefolgenabschätzung gemäß den Erkenntnissen der WHO und der Akademie der Wissenschaften. Mittels eines „staatlich kofinanziertem Technologie-, Innovations- und Wachstumsfonds“ soll Risikokapital für eine Wirtschaft 4.0 mobilisiert werden. Auch soll es einen Masterplan für Block Chain-Technologie und Kryptowährungen geben.

Die Bundesregierung will eine „digitale Verwaltung vom Antrag bis zum Bescheid“. Dafür soll ein „digitales Bürgerkonto“ und das „Once-Only-Prinzip“ (will heißen, man/frau braucht nur einmal seine/ihre Daten gegenüber den Behörden bekannt geben) eingerichtet werden, gleichzeitig will die Bundesregierung “das Prinzip der bereichsspezifischen Trennung der Bürgerdaten“ aufrechterhalten. Wir dürfen gespannt sein, wie das zusammengeht. Und natürlich soll die ganze IT green, bzw. das Bundesrechenzentrum CO2 neutral betrieben werden. Für „Offene Daten als Chance für Transparenz“ soll wie auch in anderen Bereichen eine Task-Force eingerichtet werden. „Bei der nationalen Umsetzung der Urheberrechtsrichtlinie ist der Schutz der Privatsphäre zu gewährleisten und mit den Rechten der UrheberInnen in Einklang zu bringen. Dies insbesondere im Zusammenhang mit Überprüfungen nutzergenerierter Inhalte (Upload Filter).“

Es soll ein „Alleinstellungsmerkmal der europäischen Künstlichen Intelligenz“ generiert werden. Gemeinsam mit „unseren europäischen ParternInnen“ will man sich einsetzen, „die Schaffung KI gesteuerter Waffen weltweit zu unterbinden bzw. zu regulieren“.

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6. Die EU-Zwangsjacke enger schnüren

Es gibt bei den Rahmenbedingungen ein paar kleine Schrauben, die in die richtige Richtung gedreht werden. So will man die Vertragsfähigkeit von Städten, Gemeinden und Gemeindeverbänden für Art. 15a BVG Vereinbarungen prüfen und die Umsatzsteuerpflicht von Gemeindekooperationen abschaffen. Ein neuer Finanzausgleich soll eingeführt und die Mittel an die Einhaltung der Klimaziele gekoppelt werden. Es soll ein einklagbares Recht auf Informationsfreiheit gegenüber den Behörden geben, eine „Pflicht zur aktiven Informationsveröffentlichung“ im Verfassungsrang. Die derzeitige Gerichtsstruktur und der Amtstag sollen beibehalten werden. Ebenso im Kapitel Justiz wird angekündigt, dass Gebühren für Sachverständige und Dolmetscher, „wo nötig“ erhöht werden. Bei der Kinderobsorge soll die gemeinsame Obsorge der Eltern zum Regelfall und das „Doppelresidenzmodell“ gesetzlich geregelt werden. Vereine sollen vereinfacht in Genossenschaften umgewandelt werden können. Was die Stärkung der Begünstigtenstellung im Privatstiftungsrecht bedeutet, erschließt sich nicht im Regierungsprogramm. Straftatbestände rund um organisierte Schwarzarbeit sollen neuformuliert und verschärft werden. Insassen im Strafvollzug sollen in die gesetzliche Krankenversicherung einbezogen werden. Bedeutender wäre wohl die Einbeziehung arbeitender Strafgefangener in die Pensionsversicherung. Für den VKI (Verein für Konsumenteninformation) gibt es eine Finanzierungszusage über das Jahr 2020 hinaus. Bei der von der EU-Kommission vorgeschlagenen Richtlinie zur Einführung von Verbandsklagen werden umfassende Nachbesserungen gefordert. Medial will man dafür sorgen, dass „eigenständige österreichische Inhalte“ gegenüber dem 10x so großen Deutschland nicht zu kurz kommen. Dafür soll es „faire Rahmenbedingungen“ geben. Bereits unter türkis-blau gab es das Bekenntnis zu einem „duale(n) Rundfunksystem unter Berücksichtigung des nichtkommerziellen Sektors, zum Beispiel durch Kooperation zwischen Öffentlich-Rechtlichem Rundfunk und privaten.. im Zusammenhang mit Internetplattformen sowie anderen digitalen Angeboten“.

Wenig findet sich zum Thema Wohnen. „Ziel der Wohnraumpolitik ist es, Wohnraum leistbarer zu machen, die Bildung von Eigentum zu erleichtern und Mieten günstiger zu gestalten.“ Dafür will man eine Enquete veranstalten, die „bis Ende der Legislaturperiode koordinierte Maßnahmen“ entwickelt. Auf die Zweckbindung der Wohnbauförderung in den Ländern will man „Einfluss nehmen“. Der Leerstand soll mobilisiert werden. Wie steht nicht im Programm. Vergeblich sucht man irgendwelche konkreten Hinweise auf die dringend notwendige Wohnbauoffensive. Sofern im Klimaschutzkapitel zum Wohnen Bezug genommen wird, wird dort nichts über die Finanzierung gesagt. Auch zum Mietrecht gibt es keinen Hinweis. Angekündigt wird hingegen ein Konjunkturpaket für Kultur- und Gedenkstätten. Das macht dann doch etwas ratlos.

Im Kapitel „Wirtschaft und Finanzen“ bekennt man sich zum „Ziel eines ausgeglichenen Bundeshaushalts, abhängig von konjunkturellen Entwicklungen und Erfordernissen“. Man will die Schuldenquote, weiter in Richtung des Maastricht-Ziels von 60% senken. „Unabhängig davon, werden die notwendigen Klima- und Zukunftsinvestitionen sichergestellt“. Wir können mit Spannung den Budgetvoranschlag im März erwarten. „Die Bundesregierung ändert die Steuer- und Abgabenstruktur. Ziele sind: eine Entlastung der Menschen, eine Senkung der Steuer- und Abgabenquote, eine ökologisch-soziale Reform mit Lenkungseffekten zur erfolgreichen Bekämpfung des Klimawandels sowie der Erhalt und Ausbau von Innovationskraft, Nachhaltigkeit und Wettbewerbsfähigkeit der österreichischen Wirtschaft“. Bekräftigt wird das Ziel der Senkung der Steuer- und Abgabenquote auf 40%. Die Spendenabsetzbarkeit soll ausgeweitet, die Umsatzsteuer für Damenhygieneartikel gesenkt werden. Die Jahressechstelregelung (13. und 14. Monatsgehalt) bleibt „unangetastet“. Die „kalte Progression“ soll geprüft werden.

Positiv ist, dass man trotz Bekenntnis zur EU-Bankenunion um eine Sonderstellung für Österreich ringt. Sparkassen und Genossenschaftsbanken sollen offenkundig ausgenommen werden. „Nicht alle Regeln, die für internationale Großbanken wichtig sind, müssen auch für kleinere heimische Banken zutreffen“. Mit der Erhöhung der Prospektpflicht bei Ausgabe von Unternehmensanleihen von fünf auf acht Millionen Euro will man einen Beitrag zur „Entbürokratisierung im Kapitalmarkt-Bereich“ setzen. Das „unternehmerische Denken“ soll im Bildungssystem verankert werden. Eine „Kultur der 2. Chance“ soll entwickelt werden und auf EU-Ebene will man eine neue Gesellschaftsform (EU limited) einführen. Das GmbH-Mindeststammkapital soll auf Eur 10.000,- gesenkt werden. Die Freigrenze bei der Abschreibung geringwertiger Wirtschaftsgüter soll auf Eur 1000,- erhöht werden; bei Gütern mit „besonderer Energieeffizienzklasse“ auf Eur 1.500,-. Die Unternehmensgesetzbuch-Bilanz und die Steuerbilanz sollen stärker zusammengeführt werden und die Firmenwertabschreibung harmonisiert werden. Man bekennt sich zum aktiven Beteiligungsmanagement der ÖBAG (Österreichische Beteiligungs Aktiengesellschaft). Das fand man auch schon unter türkis-blau.

Die Bundesregierung will einen Neuen Vertrag für Europa, der dem Grundprinzip der Subsidiarität Rechnung trägt“. Nun, Subsidiarität ist ein netter Begriff, der schon zu Zeiten der EU-Beitrittskampagne weidlich benutzt wurde. Er sagt nichts über die tatsächlichen Machtverhältnisse aus und führt zur Verbreitung naiven Rechtsverständnisses. Das wird unmittelbar deutlich, wenn die Regierung jene „Leuchtturmprojekte“ benennt, die sie da in „Europa“ trotz Subsidiarität vorantreiben will: „Migration, Klimaschutz, Wirtschafts- und Beschäftigungsstandort, Digitalisierung, Forschung und Entwicklung, Binnenmarkt und sozialer Zusammenhalt“. Und da die EU eine „Verantwortungs- und Solidargemeinschaft“ ist, schlussfolgert man gleich: „Wer sich nicht an die gemeinsamen Regeln hält, muss mit Sanktionen rechnen“. Deshalb hat die Bundesregierung eine „klare Haltung“ „gegenüber Budgetsündern. Bei der Wortwahl dürfte das Christliche wieder einmal durchschlagen. „Wirksame Sanktionen“ soll es auch für Mitgliedsstaaten geben, die das Dublin-Abkommen brechen, sprich MigrantInnen dorthin reisen lassen, wo sie hinwollen. Die Europäische Staatsanwaltschaft soll rasch ihre Tätigkeit aufnehmen. Und dann gibt es auch das Projekt: Besuch der Reichshauptstadt. Man wolle „die EU erlebbar machen: Ziel ist es, dass alle 15-20 jährigen einmal in der Ausbildungszeit eine Woche nach Brüssel reisen und die EU-Institutionen kennenlernen“. Im Sinne des Bürokratieabbaus wolle man die EU-Kommission verkleinern. Dass dann nicht mehr alle EU-Mitgliedsstaaten permanent in ihr vertreten sind, bleibt unerörtert. Auch will man das Initiativrecht für das Europäische Parlament und die Ausweitung der Mitentscheidungsverfahren. Wer sich gewundert hat, warum die Grünen nicht ein Staatssekretariat im Finanzministerium besetzten, sondern Ulrike Lunacek zur Kunst- und Kulturstaatssekretärin erhoben: in einem Interview mit Bundesländerzeitungen und der Presse erklärte Werner Kogler, man wollte bewusst ein europapolitisches Signal setzen. Lunacek ist eine überzeugte Föderalistin, ein Signal für einen EU-Superstaat.

Angesichts dieser weitreichenden Vorstöße zur Herausbildung eines EU-Superstaats, verwundert es nicht, dass sich im gesamten Regierungsprogramm keine Zeile zur Frage der direkten Demokratie findet. Das zwingende Plebiszit mit dem aberwitzigen Quorum von 900.000 Wahlberechtigten, das noch unter türkis-blau ausgehandelt wurde, ist dem frühzeitigen Ende der alten Regierung zum Opfer gefallen. Die Eliten haben die Lektion längst gelernt: Keine Volksabstimmungen mehr über EU-Verträge!

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7. Epilog: Mit Waterdiving zur Elastizität des politischen Personals

Wie soll man das Ganze nun in Hinblick auf die handelnden Parteien bewerten. Bei der türkisen Neuen Volkspartei scheint die Sache klar. Manche attestieren Kurz und den Seinen, sie hätten die Grünen über den Tisch gezogen. Die Handelnden selbst deklamierten wiederholt, wie weit voneinander entfernt man in den Positionen gewesen sei und wie schwer es war, Kompromisse zu finden. Man habe „aus beiden Welten das Beste“ herausgeholt. „Aus Verantwortung für Österreich!“, titelt deshalb das Programm. Das ist mediale Lyrik. Man braucht sich nur die Ankündigungen der neuen EU-Kommission vor Augen führen. Dieses Regierungsprogramm bildet ziemlich genau das ab, was sich die Eliten derzeit von einer Regierung, nicht nur der österreichischen, erwarten. Und dennoch erstaunt, wie elastisch der neue alte Kanzler und seine Türkisen sind. In der ORF Pressestunde lobte der Präsident der Industriellenvereinigung, Georg Kapsch, das Programm im Großen und Ganzen. Freilich merkte er auch an, dass ihm große Reformvorhaben im Bereich Pensionen und Gesundheit fehlen. Aber das fehlte der Industriellenvereinigung und der EU-Kommission auch bereits bei der türkis-blauen Regierung. Besonders störte Kapsch die jüngste Volte bezüglich der Beibehaltung der 55% Progressionsstufe für Einkünfte über 1 Mio Eur. Materiell habe das keine Bedeutung. Es seien nicht einmal 200 Personen in Österreich davon betroffen. Aber international stehe man so als Hochsteuerland schlecht da und mache sich lächerlich. Gut, jene die das so sehen, werden kaum die nächsten Wahlen entscheiden. Freilich weiß auch Kapsch, was man an Kurz hat.

Wie verhält es sich in Bezug auf die Grünen. Während sich Türkis und Grün in der Schlussrunde des Verhandlungsmarathons bewegten, widmete ich mich ein paar Tage meinem Lebensprojekt: Aufräumen. Im Zuge dessen ist mir auch die Nr. 7 und 8/1990 der Zeitschrift „Impuls Grün“ in die Hände gefallen. Inhalt des Hefts: „Leitlinien grüner Politik“. Der erste Satz dieser Leitlinien „Ziel des ökologischen Denkens ist die Schönheit“ hat seinerzeit für einige Aufregung gesorgt. „Das Prinzip des Kapitalismus ist das berechenbare Wachstum. Er verfolgt nicht irgendein definiertes Ziel, sondern richtet sich auf die Maximierung von Effizienz, die sich in der steigenden Profitrate misst.“ hat man damals analysiert, und „Die eigentliche Leistung des Kapitalismus ist aber die Etablierung einer neuen, quasi-religiösen Ordnung: der Ordnung der ökonomischen Rationalität als Ersatz für Politik, Philosophie, Ästhetik, Moral und Religion.“ Der Validität der Aussagen wollen wir hier nicht weiter nachgehen. Jedenfalls sei „Grüne Politik .. kultureller Widerstand, der auf allen Ebenen der Gesellschaft geleistet werden muss. Er soll die Hegemonie einer brutalisierten, ausschließlich ökonomisch bestimmten Kultur brechen, um die ganze Wirklichkeit des Menschen und der Natur zurückzugewinnen und die Politik zu deren Wahrnehmung zu zwingen.“

„Grüne Umweltpolitik“ ist „erstens die vollständige Demokratisierung aller umweltrelevanten Entscheidungsprozesse.“ Gefordert wird u. a. ein Straßenrückbau und der Verzicht auf jeden weiteren Autobahnausbau“. Oder auch das Verbot von Tierversuchen und ein Forschungsmoratorium für die Gentechnologie. „Demokratie heißt demnach nicht blinde Delegierung von Politik an gewählte VertreterInnen sondern Teilnahme.“ wird festgehalten. Gefordert werden „jährliche Volksabstimmungen – Jährlich sollten Volksabstimmungen stattfinden. Wir treten für einen jährlichen Wahltag ein, Motto ‚Tag der gelebten Demokratie‘, an dem über Großvorhaben in Gemeinden, Land und Bund abgestimmt wird.“ Gefordert wurde 1990 auch die „weitgehende Verlagerung von Kompetenzen des Bundes auf Länder und Gemeinden, von Landeskompetenzen auf Gemeinden“ und eine „Veränderung des Finanzausgleichsgesetzes zugunsten der Gemeinden. Die Finanzhoheit soll bei den Gemeinden liegen.“ „Dem Status der ‚Berufs‘-VolksvertreterInnen ist entgegenzuwirken. So ist die Mandatsausübung auf maximal zwei Perioden (und dann mindestens eine Periode aussetzen) einzuschränken und materielle Privilegien der MandatarInnen sind abzubauen.“ „Für die Grüne Alternative bedeutet eine Demokratisierung aller Lebensbereiche vor allem auch Demokratie am Arbeitsplatz.“, wo „auf die wirklich zentralen Entscheidungen: : Arbeitsplatz, Produkte, Produktionsverfahren, Arbeitsorganisation, Verteilung von Qualifikationen.“, jeglicher Einfluss fehle. Deshalb soll es ein „Vorschlags- und Vetorecht der Beschäftigten bei der Bestellung von Aufsichtsräten, Vorständen, Direktionen und Vorgesetzten.“ geben.

„Grünalternative Sozialpolitik lehnt ebenso wie grünalternative Umweltpolitik die Unterordnung sozialer und ökologischer Interessen unter jene der Wirtschaft ab.“ verkündete man selbstbewusst. Es gehe um eine „Neuverteilung der Arbeit“ und „dafür ist die rasch durchgeführte Arbeitszeitverkürzung auf 35 Wochenstunden bei vollem Lohnausgleich und im Rahmen der nächsten zehn Jahre auf 30 Wochenstunden eine der Voraussetzungen.“ Ebenso wurde ein Mindesteinkommen gefordert. Und insgesamt fühle man sich den Grünen Prinzipien: „ökologisch, basisdemokratisch, solidarisch, gewaltfrei“ verpflichtet. Warum die Grünen dennoch auch Teil der neoliberalen Wende waren, blinkt durch, wenn die „Aufhebung der Zwangsmitgliedschaft in den Kammern“ gefordert wird, was aber auch intern nicht unwidersprochen blieb. Dass man 1990 doch schon vier Jahre Parlamentserfahrung hinter sich hatte, wird an einer eigenartigen Einlassung „in eigener Sache“ deutlich: „Um jedoch die Verselbständigung von Zentralen und die damit verbundene Untertanenmentalität zu vermeiden, halten wir an den Grundsätzen der Regionalautonomie, an der Frauenparität, am Rotationsprinzip und an der Unvereinbarkeit mehrerer Funktionen in verschiedenen Gremien fest.“

Der „Internationalisierung der Umweltpolitik“ fühlten sich die Grünen schon 1990 verpflichtet, wobei „dieser Vorschlag aber keineswegs dem EG-Binnenmarkt das Wort (redet), da dieser als Deregulierungs- und Wachstumsprojekt einer offensiven Umweltpolitik per definitionem entgegensteht.“ Denn „die EG-Integrationspolitik ist ein Programm für die Entmündigung einer ganzen Nation“.

Dennoch: Eine Reihe konkreter Punkte dieser Leitlinien finden sich tatsächlich jetzt, 30 Jahre später, im Regierungsprogramm wieder. Ja, freilich, wir könnten jetzt „Verrat!“ schreien. Und einige werden das auch machen. Hilft uns das weiter? Hilft es uns weiter, wenn wir uns kopfüber in das nächste Wahlprojekt stürzen? Selbstverständlich ein Projekt ohne Verräter. Und natürlich mit genialen Strukturen, die eine Bewegung ein für alle Mal gegen Verrat immunisieren.

Oder müssen wir die Systemfrage stellen, um damit ausgesprochen oder unausgesprochen wie immer das Losungswort „Eigentumsfrage“ in den Raum zu stellen. Die Systemfrage wurde auch Anfang der 1980’er Jahre gestellt. Peter Pritz, einer der Gründer der Grazer Alternativenbewegung formulierte zu dieser Zeit, dass die Alternativenbewegung „die historische Antwort auf den opulenten Kapitalismus des ausklingenden 20. Jahrhunderts ist, so wie die Arbeiterbewegung die adäquate Antwort auf den Mangelkapitalismus des vorigen Jahrhunderts war.1) Nüchtern betrachtet war der Weg der Grünen bis zur aktuellen Regierungsbeteiligung bereits vorgezeichnet, als sich abstrakte Systemopposition mit der parlamentarischen Perspektive verband.

Franz Schandl und Gerhard Glattauer schreiben bereits 1996 in ihrer Geschichte der Grünen in Österreich: „Eingebettet war dieser Prozess in die Auseinandersetzung über die grundsätzliche gesellschaftliche Positionierung der Grünen, die im Unterschied zu jenem der politischen Organisierung in noch viel stärkerem Ausmaß von ‚externen‘ Faktoren, allen voran der ‚vierten Kraft‘ – den bürgerlichen Medien – bestimmt war und ist.“2) Wer die Vorgängen rund um den Einzug der Grünen 1986 in den Nationalrat im Einzelnen studiert, wird mit Staunen feststellen: Die Kronen-Zeitung spielte nicht erst 2019/20 eine große Rolle. Das ist nicht nebensächlich, überhaupt wenn wie „für die Grünen als Partei .. ihre parlamentarische Existenz gleichbedeutend mit ihrer Existenz überhaupt.“ 3) ist. Von 2017 zu 2019, Rauswurf und triumphaler Wiedereinzug: „Water Diving“ nennen das die Amerikaner in Guantanamo und das gilt zumindest in unseren Kreisen als Foltermethode. Mit diesem Water-Diving wurden auch die Schwarzen vor 2017 in Türkise verwandelt.

Und so bilanzieren bereits 1996 Schandl und Glattauer: „Entstanden sind linksliberale Parteien. Neu ist die ökologische Schwerpunktsetzung, alt ist das Politikverständnis. In der gesellschaftlichen Substanz unterscheiden sich diese Parteien nur unmerklich von der europäischen Sozialdemokratie. Die neuen Anliegen haben keine neue Politik, weder in Form noch Inhalt, gebracht, sondern bloß eine Erweiterung des Themenspektrums aufgrund der Brisanz ökologischer Probleme.“ 4)

Der kurrente Parlamentarismus ist nicht einfach mit Demokratie gleichzusetzen. Freilich, wir leben auch nicht in einer Diktatur. Das parlamentarische System sorgt einerseits in Verbindung mit anderen Institutionen, vor allem auch den Medien, auf besondere Weise für die Durchsetzung des Willens der Machteliten. Auf der anderen Seite verfügt es über enorme Elastizität und Integrationskräfte. Stimmungen, Bewegungen können nicht nur eingefangen werden, vielfach werden sie bewusst in Gang gesetzt. Und dennoch bleibt das ganze Konglomerat höchst stabil. Sollen emanzipative Kräfte deshalb jetzt den Abgesang auf den Parlamentarismus anstimmen? Freilich, muss über weitere und alternative Formen demokratischer Willensbildung und demokratischer Teilhabe nachgedacht, müssen Forderungen in diese Richtung entwickelt, eingefordert und durchgesetzt werden. Was eine emanzipative Bewegung aber vor allem braucht ist reale gesellschaftliche Macht. Von unten kann diese nur aus Organisierung erwachsen. Das ist das Einfache, das schwer zu machen ist. Emanzipation ist immer gleichermaßen eine Forderung an den (die) Machthaber und an sich selbst. Nur eine breite gesellschaftliche Allianz ist in der Lage die machtpolitischen Herausforderungen anzunehmen, die mit einer öko-sozialen Wende verbunden sind, habe ich in der Einleitung festgehalten. Es geht um nichts weniger, als um den Bruch mit der Unterordnung unter ein EU-Regime, das uns hemmungslosen Freihandel im Interesse großer Konzerne aufzwingt und sich dabei immer mehr in einen imperialen Block verwandelt. Eine derartige Allianz muss organsiert werden. Dazu gehören Strukturen, Verankerung in der Gesellschaft, autonome Handlungsfähigkeit, konkrete Kompetenz in zahlreichen Sachfragen. Phrasen helfen uns nicht weiter. Also lasst uns ernsthaft und gelassen zur Sache schreiten.

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Anmerkungen:

1) Franz Schandl, Gerhard Schattauer, Die Grünen in Östereich: Entwicklung und Konsolidierung einer politischen Kraft, Pro Media, 1996, Seite 130

2) ebda. S. 116

3) ebda. S. 88

4) ebda. S. 90