ImagePierre Levy, Herausgeber Monatszeitschrift “Le Nouveau Bastille-République-Nations” hielt auf Einladung der Solidarwerkstatt am 11. und 12. November in Wien bzw. Linz Vorträge zum Thema „Frankreich und die EU“. Das Werkstatt-Blatt führte anlässlich dieser Veranstaltung mit ihm das folgende Gespräch.


Werkstatt-Blatt: Francois Hollande galt bei vielen EU-weit als Hoffnungsträger, dass nun – ausgehend von Frankreich – eine Abkehr der EU vom Neoliberalismus erfolgen würde. Was ist Deine bisherige Bilanz?

Pierre: Ich meine, der Hauptgrund, warum Hollande gewählt wurde, war der Frust mit Sarkozy. Wenn man genau hingehört hat, dann hat Hollande auch – außer unverbindlichen Phrasen – nicht viel versprochen. Die jetzige Enttäuschung über Hollande rührt daher weniger daher, dass er große Versprechungen gemacht hätte, sondern weil es unter seiner Präsidentschaft noch schlimmer geworden ist, als es unter Sakozy schon war. Die Sozialisten haben nun die neoliberale Rentenreform von Sarkozy weiter verschärft. Das entspricht natürlich bereits den Vorgaben des sog. EU-Fiskalpakts. Die Ankündigung Hollandes, den Fiskalpakt neu zu verhandeln, hat sich ja nach der Wahl ganz rasch in Luft aufgelöst. Gleichzeitig hat Hollande den Unternehmern zwei große Wünsche erfüllt. Erstens: "Crédit d'Impot Compétitivité Emploi": Unter dem Vorwand, die sog. Lohnnebenkosten seien unerträglich, machte die Regierung der Kapitalseite ein 20 Milliarden-Euro-Geschenk auf Kosten der Steuerzahler. Zweitens : "l'accord de sécurisation de l'emploi". Das ist die Möglichkeit für die "Arbeitsgeber", ihre "Arbeitsnehmer" einfacher zu entlassen. Es ist genau das, was die EU-Kommission "empfohlen" hatte.
Als Folge der verschärften Austeritätspolitik nimmt die Arbeitslosigkeit dramatisch zu. Es vergeht heute kaum noch ein Tag, an dem nicht große Unternehmen neue Massenentlassungen ankündigen. Das alles hat dazu geführt, dass Hollande nach aktuellen Umfragen der unbeliebteste Präsident der 5. Republik ist.

Werkstatt-Blatt: Siehst Du Alternativen zu dieser Politik in Frankreich?


Pierre: Die Politik Hollandes ist eng mit den EU-Zwängen verbunden. 1978 hielt Giscard d’Estaing einige Wochen vor den Parlamentswahlen eine berühmt Rede, in der er sinngemäß sagte: „Wenn die vereinigte Linke die Wahlen gewinnt, gibt es keine Möglichkeit, eine Gesellschaftsveränderung zu verhindern.“ Niemand hat damals gelacht, denn es schien glaubwürdig. Heute würde eine solche Ankündigung niemand mehr glauben, denn das wäre im Rahmen der EU zu lächerlich. Es gibt derzeit keine wirkliche politische Alternative, weil es auf der Linken keine Partei gibt, die eine vernünftige und radikale Alternative vorschlägt. Die Kommunisten (PCF) und die Parti de Gauche reden von einem „anderen Europa“, trauen sich aber nicht, die EU grundsätzlich in Frage zu stellen. Solange aber die EU bzw. die Währungsunion nicht in Frage gestellt werden, kann es keine fortschrittliche Alternative geben. Dieses Versagen der Linken ist auch der Nährboden, auf dem sich die Front National ausbreiten kann.

Werkstatt-Blatt: Aber gibt es nicht gerade in Frankreich unter der Bevölkerung eine große Skepsis gegenüber der EU-Politik. Immerhin haben im Jahr 2005 55% der Franzosen gegen die EU-Verfassung gestimmt.

Pierre: Ja das ist richtig. Sieht man sich das Ergebnis der Volksabstimmung genauer an, so erkennt man, dass es eine klare Klassenwahl war. Vor allem die unteren sozialen Schichten haben in ihrer großen Mehrheit gegen die EU-Verfassung gestimmt. Bekanntlich wurde die EU-Verfassung dann trotzdem unter einem anderen Namen – Lissabon-Vertrag – von der Nationalversammlung abgesegnet. Die EU-Eliten haben unverschämt gezeigt: Wenn die Bevölkerung nicht so abstimmt, wie es die Machthaber wollen, dann wird das Ergebnis entweder ignoriert – wie in Frankreich und den Niederlanden – oder die Bevölkerung muss so oft abstimmen, bis das gewünschte Ergebnis rauskommt. Das ist den Iren und Irinnen schon zwei Mal passiert. Diese Ignoranz gegenüber dem demokratischen Prinzip hat tiefe Spuren in den Köpfen der Menschen hinterlassen. Ich mache immer wieder die Erfahrung, dass es gerade an der Arbeiterbasis eine starke Ablehnung der EU gibt, aber diese Haltung findet noch keinen organisierten Ausdruck.

Werkstatt-Blatt: Gibt es Anzeichen dafür, dass eine solche Organisierung gelingen kann?


Pierre: Wir versuchen mit unserer Zeitung eine Entwicklung in diese Richtung anzustoßen, indem sie jeden Monat Informationen und Analysen anbietet. Interessant finde ich, dass vor kurzem in einem Offenen Brief von französischen GewerkschafterInnen und Intellektuellen zum ersten Mal artikuliert wird, dass auch die Mitgliedschaft in der EU kein Tabu sein darf. Drei Fragen werden in diesem Offenen Brief aufgeworfen: 1) Ist die Bilanz der EU seit den Römerverträgen gut? 2) Ist es schon zu spät, die Union in Frage zu stellen? 3) Ist die Umorientierung auf eine „soziales Europa“ im EU-Rahmen überhaupt vorstellbar?


Werkstatt-Blatt: Was sind Deine Antworten auf diese Fragen?

Pierre: Dreimal nein. In aller Kürze ein paar Gedanken dazu. Zur ersten Frage: Die EU hat mit der Verankerung der neoliberalen Wirtschaftspolitik in ihren Verträgen – Primat von Freihandel und Kapitalverkehrsfreiheit - maßgeblich zur großen Wirtschaftskrise beigetragen. Und seit dem Ausbruch dieser Krise 2008/09 hat sie sich – unter deutscher Führung – als Instrument erwiesen, diese neoliberale Politik sogar noch zu radikalisieren. Wir erinnern uns: Fiskalpakt, Sixpack, Twopack. Die gewählten Parlamente werden dadurch entmündigt. Typisch für diesen autoritäre Politik ist der Ausspruch von Mario Monti, der quasi von der EU als Ministerpräsident in Italien eingesetzt wurde: „Wir dürfen uns nicht als Geisel der Parlamente verhalten.“ Dazu kommt, dass die EU nicht nur Sozialabbau und Entdemokratisierung vorantreibt, sondern auch der Hebel für imperiale Machtpolitik ist. So verherrlichte der Präsidentschaftskandidat Nicolas Sarkozy im Wahlkampf 2007 "in der Herausbildung eines europäischen Bewusstseins" den "zerbrochenen Traum Karls des Großen und des Heiligen Römischen Reiches, die Kreuzzüge, das große Schisma zwischen Orient und Okzident, den verflossenen Ruhm des Ludwig XIV und Napoleons", um schließlich zu erklären "Europa ist heute die einzige Kraft, (…) die ein Zivilisationsmodell vermitteln kann". Drei Jahre zuvor hatte sein Gegenspieler Dominique Strauss-Kahn erklärt, dieses "europäische Imperium" müsse sich "vom Eis der Arktis im Norden bis zum Sand der Sahara im Süden" erstrecken. Etwas später präzisierte er die historische Perspektive. "Dieses Europa, wenn es denn weiter existiert, wird das Mittelmeer wieder zum Binnenmeer machen und den Raum wieder gewinnen, den die Römer und in jüngerer Zeit Napoleon herzustellen versuchten".

Zur zweiten Frage: Die Mächtigen versuchen immer den Eindruck zu erwecken, dass es keine Alternative zur EU-Mitgliedschaft gibt. Für den Fall, dass ein Land den EU-Weg nicht mitbeschreitet, werden apokalyptische Szenarien an die Wand gemalt. Das war auch so, als die Schweden 2003 über die Teilnahme an der Währungsunion abstimmten. Die Schweden haben mit Nein gestimmt, die Apokalypse ist nicht eingetreten, im Gegenteil: sie sind heute wohl ziemlich froh, nicht beigetreten zu sein. Auch in Norwegen hat die Bevölkerung sich zwei Mal in Volksabstimmungen gegen eine EU-Mitgliedschaft ausgesprochen. Auch hier sind die prognostizierten Katastrophen nicht eingetreten. Norwegen nimmt beim Human-Development-Index Platz Nr. 1 in der Welt ein.

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Warum sollte man in einem Verein bleiben, dessen Grundsätze man bekämpft und dessen Regeln man nicht übernehmen möchte.

Zur dritten Frage: Es gibt eine enge Beziehung zwischen Inhalt und Struktur. Mit den Strukturen der Mafia kann man nicht das Rote Kreuz organisieren und der Bauplan eines Gefängnisses eignet sich nicht für eine Schule. Es ist ein Kardinalfehler zu glauben, die EU sei ein Art „neutrales Gefäß“, in das man beliebige politische Inhalte gießen kann. Die EU war von Anfang an eine Struktur zur Durchsetzung der Interessen des Großkapitals.

Werkstatt-Blatt: Oft kommt dann der Einwand, der Grund für diese negative Entwicklung sei nicht die EU, sondern dass die EU-Staaten mehrheitlich konservativ regiert werden.

Pierre: Man sollte aus der Erfahrung lernen: Es gab eine Zeit in den 90er Jahren, als 12 der 15 EU-Staaten sozialdemokratisch regiert wurden. Hat diese überwältigende sozialdemokratische Mehrheit die EU sozialer gemacht? Nein, überhaupt nicht, weil die EU eben eine Struktur ist, um die Kapitalinteressen vom Bevölkerungswillen maximal abzuschotten. Wenn etwas auf EU-Ebene beschlossen ist, gibt es faktisch kein Zurück mehr, was auch immer die Bevölkerungen wollen, wen auch immer sie wählen. Drei Zitate, warum die französischen Kapitaleliten die EU wollen und brauchen: Pascal Lamy, früherer EU-Kommissar und WTO-Generaldirektor: "Die französischen Unternehmer sind europäisch, denn sie haben zurecht verstanden, dass die Neugestaltung und die 'Marktisierung' der französischen Wirtschaft, wenn ich so sagen darf, von Europa, dank Europa und wegen Europa durchgeführt wurden." Ernest-Antoine Seillière, ehemaliger Chef des französischen Unternehmerverbandes Medef und späterer Präsident von Business Europe, resümiert: "Der europäische Zwang kommt voll zum Tragen, um unser Land auf eine bestimmte Form der Reform auszurichten". Und Denis Kessler, die Nr. 2 des Medef, hat, wie man so schön sagt, alles begriffen: "Europa ist eine Maschine, mit der man Frankreich trotz seiner selbst reformieren kann". 

Werkstatt-Blatt: Was sind Deine Schlussfolgerungen daraus?

Pierre: Warum sollte man in einem Verein bleiben, dessen Grundsätze man bekämpft und dessen Regeln man nicht übernehmen möchte. Freilich wird sofort die Angst geschürt, ein Land, das aus der EU austritt, würde in die Isolation geraten. Ich bin kein Prophet, aber ich kann mir sehr gut etwas ganz anderes vorstellen: Wenn die Bevölkerung eines Landes entscheidet, wir gehorchen nicht mehr, wir treten aus der EU aus, dann kann diese Idee auf die Menschen in anderen EU-Staaten überspringt und einen Schneeballeffekt auslösen wird. Das würde dann tatsächliche eine enorme Veränderungsdynamik einleiten. Davor haben die Eliten wirklich Angst. Deshalb versuchen sie, den Unmut der Menschen auf die Fiktion eines „anderen Europa“ hinzulenken. Denn sie wissen sehr gut, dass das gar nichts ändert, solange die Austrittsfrage tabuisiert wird.

Natürlich bin ich nicht dafür, dass sich die Länder gegenseitig verschließen. Wir brauchen Kooperation und die Solidarität der Arbeitenden auf europäischer Ebene und weit darüber hinaus. Aber dafür braucht man nicht die EU, diese ist dafür ein Hindernis. Ich bin für internationale Kooperation und die Freiheit jeden Landes, selbst darüber demokratisch zu entscheiden, wie es sich in diese Zusammenarbeit einbringt. Vergleichen wir doch, wie unterschiedlich Länder wie Island und Griechenland mit ihren dramatischen Finanzkrisen umgegangen sind bzw. umgehen konnten. Im Nicht-EU-Land Island konnte die Bevölkerung in zwei Volksabstimmungen über die Maßnahmen zur Krisenbekämpfung abstimmen. Mit großer Mehrheit wurde die Zurückzahlung der Schulden ihrer eigenen „Bankster“ abgelehnt, heute befindet sich Island wirtschaftliche auf dem Weg der Erholung. Das EU-Land Griechenland dagegen kam unter EU-Vormundschaft, das Volk wurde nie gefragt; in Folge dessen ist Griechenland in eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe geraten.

Die Veranstaltung mit Pierre Levy am 12. November 2013 in Linz wurde auf Dorf-TV aufgezeichnet. Siehe: www.solidarwerkstatt.at (Video- und Tondateien)