Im neuen Regierungsprogramm von ÖVP, SPÖ und Neos findet sich – nicht sofort ersichtlich – ein Frontalangriff auf Neutralität und Staatsvertrag. Ein Coup, der aber noch lange nicht über die Bühne gegangen ist.
Zunächst wollte ich die Inhalte des 210-seitigen-Regierungsprogramms von ÖVP, SPÖ und Neos „Jetzt das Richtige tun – für Österreich“ zusammentragen und kommentieren. Da hätte es vieles gegeben, worüber zu schreiben sich lohnen würde:
- die Untertänigkeit, mit der die Spardiktate der EU-Kommission als höhere Weisheit akzeptiert und in Kürzungen bei PensionistInnen, Arbeitslosen, Klimaschutz usw umgesetzt werden
- den verzweifelte Versuch, da und dort eine sozialdemokratische Handschrift – z.B. bei Mieten und Kindergärten – in einem durchgehend neoliberalen Programm zu hinterlassen
- die Unverschämtheit, mit der freiheitliche Politik auch ohne die FPÖ realisiert wird und das Asylrecht in Österreich de facto außer Kraft gesetzt wird, väterlich beglückwünscht durch einen grünen Bundespräsidenten, der zum „gelungenen Kompromiss“ gratuliert.
- die Kaltschnäuzigkeit, mit der eine der ökologischen Errungenschaften von Klimabewegung und Klimaministerin Leonore Gewessler abgeräumt und angekündigt wird, die Lobau-Autobahn nun zügig zu bauen.
- Die Gefahren, die in diesem Programm lauern, wenn im Namen des Kampfes gegen „den Extremismus“ immer mehr demokratische Grundrechte angenagt werden
- die – wenig überraschende – Chuzpe, die Neutralität Österreichs zu beschwören, um dann ein Programm der Militarisierung und Aufrüstung vorzulegen: von Milliarden für Sky-Shield, der Verdoppelung des Anteils der Militärausgaben am BIP bis zum Bekenntnis, bei der „Schnellen Eingreiftruppe der EU“ immer und überall mitzumarschieren.
Wie gesagt, das wollte ich tun. Doch dann stieß ich auf einen Satz, der mich irritierte: „Österreich tritt weiterhin für ein starkes, geeintes, solidarisches, sicheres und reformfähiges Europa ein und wird sich für die Einleitung einer Vertragsreform auf Basis der Ergebnisse der Zukunftskonferenz stark machen.“ (1) Neugierig googelte ich, worum es sich bei den „Ergebnissen der Zukunftskonferenz“ handelte. Dann war mir klar. Diese Regierung setzt nicht einfach die Politik bisheriger Regierungen fort, scheibchenweise und allmählich die Neutralität zu entsorgen, diese Regierung will das offene Ende der 2. Republik, will den vollständigen Bruch mit einem „unabhängigen und demokratischen Österreich“, wie es der Staatsvertrag vorsieht, will das finale Ende der Neutralität und ihr Aufgehen in einer Supermacht EU.
Denn zu den „Ergebnissen der Zukunftskonferenz“ der EU, die im Mai 2022 publiziert wurden, zählt – man höre und staune (2):
- „Gemeinsame Streitkräfte“, mit denen die „Übernahme einer führenden Rolle beim Aufbau der Weltsicherheitsordnung nach dem Krieg in der Ukraine, aufbauend auf dem kürzlich gebilligten Strategischen Kompass der EU“ gelingen soll. „Außerhalb der europäischen Grenzen“ sollen diese Streitkräfte „vorzugsweise auf der Grundlage eines rechtlichen Mandats des UN-Sicherheitsrats und somit im Einklang mit dem Völkerrecht eingesetzt“ werden (Seite 72). Aber nur „vorzugsweise“, denn wenn ein solchen Mandat eben nicht zu haben ist, dann führt man eben Krieg wie seinerzeit Bush oder jetzt Putin, der nicht „im Einklang mit dem Völkerrecht“ steht. Völkerrechtswidrig eben.
- „Alle Angelegenheiten, die bislang einstimmig beschlossen werden müssen, sollten künftig mit qualifizierter Mehrheit beschlossen werden (Seite 90). … Wir schlagen vor, dass die EU ihre Fähigkeit verbessert, insbesondere im Rahmen der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) zügig wirksame Entscheidungen zu treffen, und dass sie mit einer Stimme spricht, als wahrhaft globaler Akteur auftritt, eine positive Rolle in der Welt einnimmt und bei der Reaktion auf Krisen etwas bewirkt, und zwar durch: Maßnahmen: 1. eine Änderung dahingehend, dass es zum Regelfall wird, dass künftig insbesondere im Bereich der GASP mit qualifizierter Mehrheit über Angelegenheiten entschieden wird, über die derzeit einstimmig entschieden wird; 2. Zugrundelegung des kürzlich gebilligten Strategischen Kompasses in der sicherheits- und verteidigungspolitischen Zusammenarbeit und Nutzung der Europäischen Friedensfazilität; 3. Stärkung der Rolle des Hohen Vertreters, um sicherzustellen, dass die EU mit einer Stimme spricht“ (Seite 72).
Gemeinsame Streitkräfte und Mehrheitsentscheidungen in der GASP heißt: „Mit einer Stimme sprechen“ und „mit einer Faust zuschlagen“. Der norwegische Friedensforscher Johan Galtung meinte dazu bereits 1993 (!): „Das ist die Politik, mit der man einen Superstaat macht. Diese Idee halte ich für totalitär und undemokratisch. Denn Demokratie hat mit Vielfalt zu tun“ (3) Seit damals verfolgen die EU-Machteliten diese Idee. Doch es kam immer wieder Sand ins Getriebe. Und keine österreichische Regierung wagte es, sich offen dazu zu bekennen, denn das wäre das vollkommene Ende eines kleinstaatlichen und neutralen Österreichs gewesen. Viele Akteure in Österreich wollten das, aber niemals hat eine Regierung das offen ausgesprochen. Zu offensichtlich wäre das eine Politik in den Fußstapfen des historischen Rechtsextremismus, dem die 2. Republik und mit ihr Staatsvertrag und Neutralität schon immer verhasst waren. Das freiheitliche Urgestein Andreas Mölzer brachte es einmal auf den Punkt, als er schwärmt, dass mit dem EU-Beitritt „der biedere Angehörige der ‚österreichischen Nation’ zur Kenntnis nehmen (muss), dass das angeblich primäre Kriterium seiner Identität, eben diese Neutralität, auf dem Misthaufen der Geschichte landen dürfte.“ Denn: „Das Gegenteil der neutralen ‚Kleinstaaterei’ ist der Reichsgedanke... Das neue Europa…kann nur an den alten Reichsgedanken anknüpfen. Neutralität, Neutralismus oder schlechthin der Typus des Neutralen werden für dieses Europa uninteressant, ja unverträglich sein.“ (4)
4. Reich statt 2. Republik, lautete die Agenda rechtsaußen. Doch die Rechtsextremen wussten das - zumeist - geschickt zu verbergen und das liberale Zentrum war nicht minder daran interessiert, die Übernahme dieser Agenda zu verschleiern. Der spätere Bundespräsident Van der Bellen murmelte zwar manchmal im Stil von Andreas Mölzer, dass mit der „Kleinstaaterei“ aufgeräumt werden müsse, aber im Großen und Ganzen hielt man sich an die „Platter-Doktrin“, benannt nach dem früheren Verteidigungsminister Günther Platter, der 2003 zynisch erklärte: „Die Neutralität ist tief im Herzen der Österreicher. Man muss behutsam sein und darf das nicht herausreißen. Es ist besser, eine Operation vorzubereiten, um das vorsichtig herauszuoperieren“ (5).
Doch mit der „Zuckerlkoalition“ ist das nun anders. Nun muss am offenen Herzen operiert werden. Das könnte manches erklären: Das plötzliche Nichtzustandekommen von blau-schwarz, die überfallsartige Geschwindigkeit der schwarz-roten Einigung und die Vehemenz mit der plötzlich die Neos in die Regierung drängen und gedrängt werden und mit dem Außenministerium belohnt werden. Just Beate Meindl-Reisinger, die als erste in Österreich die Chance erkannt hat, die ein ebenso ekel- wie tölpenhafter Trump einem „Make Europe great again“ verschafft. Aber wir wollen nicht zuviel hineingeheimnissen, auch Herrschende werden bislang durch die Winkelzüge der Geschichte überrascht. Der Ukraine-Krieg öffnet der EU die Tür für ihre lang gehegten Weltmachtambitionen und für eine unglaubliche Militarisierungsbonanza. Es muss jetzt schnell gehen. Gelegenheiten verstreichen auch wieder, wenn die Gunst der Stunde nicht genutzt wird. In Deutschland wird soeben der Weg für eine unbeschränkte Aufrüstung der Bundeswehr gelegt und ein EU-Aufrüstungsprogramm soll zusätzliche 800 Milliarden für die Beschaffung von Kriegsgerät mobilisieren. Speed kills. Und die österreichische Regierung will dabei sein. Um jeden Preis.
Doch es gibt Unwägbarkeiten: Wie werden die Blauen reagieren, wenn sie sehen, dass ihre ureigenste Agenda so unverschämt von schwarz-rot-pink gekapert wird. Wie werden sich die Menschen in Österreich verhalten, sobald sie begreifen, dass sie in ihrer Mehrheit die Leidtragenden sein werden, wenn die Neutralität der 2. Republik zugunsten einer hemmungslosen Aufrüstung in einem 4. Reich entsorgt werden soll. Wird Widerstand entstehen, eine neue Friedensbewegung? Ganz so sicher ist sich die Regierung auch nicht. Immerhin hat sie ihr strategisches Interesse im Regierungsprogramm so verpackt, dass es viele nicht verstehen, wahrscheinlich nicht einmal alle ihre Minister. Mit dieser Regierung, mit diesem Regierungsprogramm ist jedenfalls ein Coup gelungen, über die Bühne gegangen ist er noch lange nicht. Doch wir müssen aufwachen und ihnen einen Strich durch die Rechnung machen. Jetzt das Richtige tun – für eine neutrales Österreich, für eine friedliche Welt.
Gerald Oberansmayr
(5.3.2025)
Anmerkungen:
- Regierungsprogramm 2025 - 2029 von ÖVP, SPÖ und Neos, Seite 122
- Konferenz zur Zukunft Europas – Bericht über das endgültige Ergebnis, Mai 2022
- Johan Galtung, Vortrag auf dem Symposium „Europas Sicherheit im Umbruch“, 14.5.1993, Volkshaus Dornach/Auhof, Linz
- Servus Österreich – Der lange Abschied von der zweiten Republik, Andreas Mölzer, Berg 1996
- Günther Platter, als damaliger Verteidigungsminister, in: Die Presse, 5.12.2003