Die jahrzehntelange Umdeutung des antifaschistischen Verfassungsauftrages hat der bedingungslosen Solidarität mit einem jüdischen Apartheidsstaat auf geraubtem Land den Boden aufbereitet. 

Seit Monaten wird mit willkürlicher polizeilicher Repression gegen die Palästinasolidaritätsbewegung vorgegangen. Besonders auch in Österreich. Demonstrationen werden untersagt, Protestcamps mit vagen Behauptungen aufgelöst. Menschen, die sich in der Bewegung engagieren, werden festgenommen und unter dem Vorwurf der „Verhetzung“ verfolgt. Es ist unschwer zu erkennen, dass der Impuls für diese Repression von ganz oben kommt, direkt aus der Regierung. Sie verfolge damit einen verfassungsrechtlich und historisch gebotenen Auftrag: Kampf gegen Antisemitismus. (1)

Das gründe in der besonderen Verantwortung, die Österreich aufgrund seiner Verstrickung in die nationalsozialistischen Verbrechen habe. Diese Verantwortung erstrecke sich nicht nur auf seine jüdischen Mitbürger*innen, sondern auch auf den Staat Israel. Aufgrund dieser Verantwortlichkeit seien wir zur bedingungslosen Unterstützung Israels verpflichtet. Gegenüber Schüler*innen erklärte Bundespräsident Alexander Van der Bellen das im Herbst 2023 so: „Wenn bei uns wieder einmal alles schiefgeht“, dann brauchen die jüdischen Menschen eine sichere Heimstatt. Und die sei Israel. Die ganze Heuchelei, Ungeheuerlichkeit, aber auch Idiotisierung der Politik des herrschenden Establishments in Bezug auf Palästina ist in dieser Aussage des Bundespräsidenten zusammengefasst. Folgt man dieser Logik, so könne die Republik Österreich dauerhaft nicht den Schutz des Leibs und Lebens, des Eigentums unserer jüdischen Mitmenschen hier in Österreich garantieren. Deshalb erklären wir unsere bedingungslose Loyalität zu einem jüdischen Apartheitsstaat auf geraubtem Land. Man fühlt sich unwillkürlich an den Zynismus der Nazis erinnert, wenn man diese Gedanken des HBP zu Ende schwurbelt.

Mit was wir hier konfrontiert sind, ist jedoch nicht der Beginn, sondern das Ergebnis einer bereits jahrzehntewährenden Umdeutung des antifaschistischen Verfassungsauftrags.

 

Der „Opfermythos“

„Ich habe nur meine Pflicht getan.“ Mit diesen Worten verteidigte sich der Emporkömmling und Präsidentschaftskandidat der ÖVP, Kurt Waldheim, 1986 gegen die Beweise über seine Mittäterschaft beim Genozid an den Juden während der NS-Herrschaft. „So lange nicht erwiesen ist, dass Kurt Waldheim eigenhändig sechs Juden erwürgt hat, ist Kurt Waldheim unschuldig“, so verteidigte der damalige ÖVP- Generalsekretär Michael Graff Kurt Waldheim. Waldheim hat die Präsidentschaftswahlen gewonnen; auch aufgrund des teilweise offen antisemitisch geführten Wahlkampfs. Die Wende im offiziellen Selbstverständnis der Republik war dennoch eingeleitet. Bundeskanzler Vranitzky rückte die Mittäterschaft zigtausender Österreicher*innen am Judenmord in den Fokus. Österreich habe sich viel zu lange mit der Lüge, es sei selbst erstes Opfer der nationalsozialistischen deutschen Aggression gewesen, vor der Verantwortung für diese Mittäterschaft gedrückt. Das ist einerseits richtig und unabweisbar historisch erwiesen. Andererseits ist die Schlussfolgerung, Österreich sei kein Opfer der NS-deutschen Aggression gewesen, ein Kurzschluss. Kollaboranten, insbesondere am Judenmord, gab es in allen von NS-Deutschland besetzen Gebieten. Die Republik Österreich wäre gerade aufgrund dessen, weil es Opfer der NS-Aggression war, verpflichtet gewesen, mit aller Konsequenz juristisch gegen jene vorzugehen, die mit dem NS-Regime kollaboriert haben, insbesondere auch beim Massenmord an den Jüdinnen und Juden. Nicht der „Opfermythos“ hat dies verhindert, sondern der rasch einesetzende neue Grundkonsens: Antikommunismus. 

Der Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Österreich ist ebenso Faktum, wie die Tatsache, dass er von hunderttausenden Österreicher*innen begrüßt wurde. Doch nicht nur in Österreich; in vielen europäischen Ländern gab es politische Kräfte, die die NS-Herrschaft begrüßten und kollaborierten. Die Bedeutung der Rede vom Opfermythos geht über den Sachverhalt im engen Rahmen hinaus. Mit ihr verflüssigen sich die Fundamente der bisherigen Analyse des historischen Faschismus. Sie wurden auf die Frage des Judenmords verengt und dieser damit gleichzeitig aus dem historischen Kontext gerissen. Damit einher ging die Zerstörung der notwendigen Verknüpfung des antifaschistischen Kampfes mit dem Kampf um weltweite Befreiung und gegen Imperialismus, für den Frieden und gegen Militarismus, für eine soziale Demokratie und gegen radikalliberalen Sozialdarwinismus. Antifaschismus wurde so zum dekorativen Beiwerk einer sogenannten „Liberalen Demokratie“. Nicht nur das: Er wird zur Legitimationskulisse, wenn es darum geht, diese mit Repression nach Innen und Feuer und Schwert nach Außen durchzusetzen. Konsequent zu Ende gedacht verwandelt sich diese pervertierte Form von Antifaschismus in eine Form der Wiederbetätigung.

Nationalsozialistischer 

    Antisemitismus

Die Judenverfolgung im Dritten Reich übersteigt in ihrer Grausamkeit alles, was die Menschheit bisher an Grausamkeit hervorgebracht hat. Eines darf dabei aber nicht übersehen werden: Es ging den Nazis nicht bloß um ein judenreines Deutschland, es ging ihnen um Weltherrschaft. „Heute gehört uns Deutschland, morgen die ganze Welt!“ war die Losung der 1930er Jahre. Und es war eben die Überzeugung, dass das „Weltjudentum“ diesen natürlichen Anspruch auf Weltherrschaft seit Jahrhunderten usurpieren würde, die den Judenmord legitimieren sollte. Noch vor dem Galgen war Hermann Göring davon überzeugt, mit dem Judenmord der Welt einen Dienst erbracht zu haben. Der nationalsozialistische Antisemitismus war nicht voraussetzungslos. Antisemitismus war zum belastbarsten Bindemittel der Anbindung der Deklassierten an den Herrschaftswillen der Eliten geworden. 

Xenophobe Ressentiments, Rassismus gab und gibt es in vielerlei Gestalt. Der Antislawismus der Nazis war ebenso grausam wie ihr Antisemitismus: Millionen Russen, Ukrainier, Polen, Serben, Roma und Sinti u.a. sind dessen Opfer geworden. Die Zahl dieser Ermordeten übersteigt die Zahl der Jüdinnen und Juden. Und dennoch hat die Ermordung der Juden eine exzeptionelle Bedeutung. Antisemitismus war der ideologische Kleister, der die ganze Mordmaschinerie zusammenhielt. Ohne Bündnis mit dem deutschen Finanzkapital, ohne Kollusion mit dem auf Revanche lüsternen deutschen Militarismus, hätte die NS-Herrschaft in Deutschland nicht etabliert werden können. Rabiater Antikommunismus, Demokratieverachtung, Vergötzung der Gewalt bilden für sich ein sozialreaktionäres politisches Programm. Wir finden es nicht nur in Deutschland. Mit dem Vernichtungsantisemitismus der Nazis bekommt dieses Programm nicht nur ein pseudowissenschaftliches Fundament, er liefert den Treibstoff, um es in Gang zu setzen. 

Wie können wir uns diese besondere Bedeutung des Antisemitismus für den historischen Faschismus vor allem, aber nicht nur für Deutschland erklären? Mit Sicherheit nicht aus den Objekten. Viele Opfer der nationalsozialistischen Judenverfolgung wurde erst durch die Verfolgung gewahr, dass sie Juden waren. Rassistische Ressentiments gab und gibt es vielfach. Sie entzünden sich entlang äußerer Merkmale, der Hautfarbe, der Kleidung, der Sprache, der Religion, der Gebräuche und werden in den meisten Fällen entlang sozialer Kastengrenzen virulent. Und sind dabei beileibe nicht harmlos. Unendliche Grausamkeiten finden in ihnen ihre Begründung.

Antisemitismus ist jedoch nicht bloß ein Ressentiment gegen Juden, sondern eine Welterklärung. In einer Welt von Widersprüchen, Krisen und Verwerfungen sichert Antisemitismus den scheinbaren Haltegriff einer letzten Erklärung. Einer Erklärung, die den Einzelnen von der quälenden Auseinandersetzung mit den materiellen Grundlagen der Krisen enthebt. Wir kommen hier nicht ohne Psychologie aus. Animismus oder Animatismus, die Vorstellung eines Geistes in den Dingen und den materiellen Erscheinungen bilden eine spontane und notwendige Hervorbringung menschlicher Erkenntnistätigkeit. In der Erkenntnis der oder des Wesens in den Erscheinungen eröffnet sich uns eine scheinbare Bewältigungsstrategie einer widrigen Wirklichkeit. Wenn wir von einem Ding einen Begriff haben, können wir es ergreifen. Unsere Gedanken erscheinen plötzlich allmächtig. Diese scheinbare Allmacht wird auf die Objekte projiziert. Diese Objekte könne Verhältnisse sein, oder Dinge. Fatal und letal kann es werden, wenn es Lebewesen sind, gar Menschen. Die pseudowissenschaftliche Rassenlehre der Nazis lässt sie einerseits modern erscheinen, andererseits verdeckt sie den geradezu antimodernen Sachverhalt in ihrem und ihrer Gefolge virulenten Denken. Wir nehmen an, animistisches Denken sei von religiösem und dieses von wissenschaftlichem Denken abgelöst worden. Aus der mehrfachen Aufhebung in der materialistischen Dialektik wissen wir jedoch, dass Altes in anderer Form immer im Neuen weiterlebt. So besehen ist der Antisemitismus der Nazis, aber nicht nur dieser, eine Form des Geisterglaubens, eine Vorstellung über eine verhexte Wirklichkeit, hervorgebracht von verhexten Menschen.

 

Antiarabischer Rassismus ersetzt Antisemitismus

Es wäre unsinnig anzunehmen, diese Form der Wirklichkeitsaneignung und Bewältigung würde einfach verschwinden. Jegliche menschliche Erkenntnistätigkeit, auch die wissenschaftliche, ist gefordert, sich dieser Herausforderung immer wieder von neuem zu stellen. Wie geht das österreichische politische Establishment angesichts des Genozids in Palästina damit um? 

Die Jahrzehnte währende Umdeutung des Antifaschismus hat dafür das Feld bereitet. Der Antisemitismus der Nazis wurde aus dem historisch-gesellschaftlichen Zusammenhang gerissen. Nunmehr wird der Vorgang einfach umgedreht: Nunmehr sind nicht mehr wie bei Waldheim die Juden die Verhexten, die die Welt verhexen, böse Geister hätten vielmehr von den Nazis und ihrer Mitläufer Besitz ergriffen. Mit Bedauern beichtet man, man wäre dem auch selbst zeitweise erlegen. Der bequeme Vorteil solcher Bewältigungstechnik: Es ist ein leichtes zur eigenen Entlastung den bösen Geist in anderen zu entdecken.  Folgerichtig erkennt man im Umsetzungsbericht zur „Nationalen Strategie gegen Antisemitismus“ aus 2022: „Der rassistische Antisemitismus – die ideologische Grundlage nationalsozialistischer Judenvernichtung – steht heute nur mehr vereinzelt im Vordergrund der Agitation. Im Zentrum stehen vielmehr der sekundäre und antiisraelische / antizionistische Antisemitismus.“ (2) 

Es wird auf linken Antisemitismus verwiesen. Es mag Linke gegeben haben und geben, die zu Antisemiten regredierten, ein linker Antisemitismus ist jedoch eine condradictio in re. Sofern links sein, eine Bewältigung der Wirklichkeit in und entlang ihrer Widersprüchlichkeit bedeutet,  ist Links der Widerpart jeglichen Antisemitismus schlechthin. Daran ändert auch eine unversöhnliche Kritik an Besatzung, Apartheid und Krieg in Palästina nichts.

Vielfach ereifert man sich über den importierten Antisemitismus. Man muss nicht auf die niederösterreichische Liederbuchaffäre verweisen: Alle empirischen Daten belegen: Die weit überwiegende Zahl aller antisemitischen Straftaten kommt nach wie vor aus dem rassistisch-deutschnationalen Milieu. Die eigene Mittäterschaft an den nationalsozialistischen Verbrechen wird auf Menschen übertragen, die damit nichts zu tun hatten. Sie stehen halt gerade zur Verfügung. Wertekurse werden zum Tohuwabohu, bei dem diese Unseligen dem antisemitischen bösen Zauber entsagen müssen. Wir können getrost davon ausgehen, dass der Großteil des politischen Establishments intellektuell zu höheren Leistungen nicht in der Lage ist.

Und so zieht sich ein roter Faden von der Entdeckung des Opfermythos, der Diskreditierung der II. Republik, mit ihren demokratischen, sozialen, friedenspolitischen und ökologischen Errungenschaften, der Unterordnung unter eine Europäische Union, die sich als Imperium begreift, um weltweit wirtschaftliche Macht mit militärischem Eskalationspotential durchzusetzen, zur Kollaboration beim Genozid in Palästina und der damit verbundenen Stigmatisierung jener Menschen, die mit den Opfern mitfühlen.

Boris Lechthaler
(August 2024)

 

 

(1) Mittlerweile zeigt sich, dass die Justiz in den meisten konkreten Fällen ein echtes Korrektiv zum Regierungshandeln ist. Die Willkürentscheidungen von Polizei und Staatsanwaltschaften wurden in allen Fällen aufgehoben. Regierung und Exekutivbehörden halten dennoch an ihrem offenkundig rechtswidrigen Vorgehen fest, um die Palästinasolidaritätsbewegung zu drangsalieren.

(2) Umsetzungbericht 2022 – Nationale Strategie gegen Antisemitismus (parlament.gv.at) (S.37, Entwicklungen)