Die 40. Folge aus der Rubrik "Rhythmus" von Raimund Boris Lechthaler-Zuljevic im Werkstatt-Blatt 1/2021. 

Rhythmus (40)
Raimund Boris Lechthaler-Zuljevic

"Gebeugt erst, zeigt der Bogen seine Kraft."
Franz Grillparzer

Die Sehnsucht nach der Apokalypse und die Liebe zur menschlichen Gesellschaft

Ja, wahrlich wir leben in Krisenzeiten. Während die eine vielleicht noch gar nicht richtig angekommen scheint, überholt sie schon die nächste. Einmal ist es der Klimawandel, der, so die Menschheit nicht umkehrt, uns in den Abgrund führen wird. Dann ist es ein Virus, das den stärksten Rückgang in der Geschichte der Weltwirtschaft seit dem II. Weltkrieg verursacht. Dahinter, etwas verborgen, ist auch noch eine der typischen kapitalistischen Allokationskrisen abgelaufen. Manche Interpretatoren verstiegen sich sogar zur Vermutung, die mit dem Coronavirus einhergegangenen Lockdowns seien nur verordnet worden, um von dieser Konjunkturkrise abzulenken. Sie sei eben nicht bloß eine Konjunkturkrise, sondern Menetekel des Untergangs, Ausdruck einer fundamentalen Verwertungskrise des Kapitals gewesen.

Sogenannte linke, gesellschaftspolitische Debatte mutet gelegentlich tatsächlich wie ein Ausflug in den Krisenzoo oder eine Fahrt mit der Geisterbahn an. Noch brauchen wir uns nur zu erschrecken. Erst eines nicht mehr allzu fernen Tages kommt die wirkliche Gefahr für unser Leib und Leben. Unentrinnbar werden sich die multiplen Krisen zu dem einen großen Untergang verdichten. Die Bewältigung der Klimakrise und die kapitalistische Verwertungsökonomie würden einen unauflöslichen Widerspruch bilden, der nur gelöst werden kann, indem entweder der Kapitalismus untergeht oder die Erde verbrennt. Die Propheten dieser Verkündigung agieren in einer Haltung der tieferen Einsicht. Das gemeine Volk würde nur die oberflächlichen Erscheinungen wahrnehmen. Es bedürfe ihrer jeweiligen Röntgenbrille um die Dinge in ihrem tiefen inneren Zusammenhang zu erkennen. Und so scheinen die Erklärung des Untergangs aus der fundamentalen Verwertungskrise des Kapitals und seine Deduktion aus der Verschwörung des Ehepaars Gates wie durch eine unsichtbare Kette praktisch verbunden.

Derweil agieren die Herrschenden. Und das nicht zu knapp. Der schon vielfach totgesagte Nationalstaat greift plötzlich großflächig in völlig ungekannter Weise in unseren Alltag ein. Dort wo vor wenigen Jahren noch in feierlichen Reden erklärt wurde, hier werde nie wieder ein Grenzbalken sein, werden Gesundheitstests von Beamten kontrolliert. Dieselben, die noch vor kurzer Zeit, automatische Schuldenbremsen oktroyierten, öffnen jetzt alle budget- und geldpolitischen Schleusen. Immer schärfere Klimaschutzziele werden beschlossen. Und auch wenn Skepsis gegenüber der Umsetzung notwendig ist, können wir nicht davon ausgehen, dass alles Schall und Rauch sei. Eigentlich eine tolle Zeit, in der wir leben. Wir können nach Jahrzehnten des Rückbaus wieder echte sozialpolitische Fortschritte, wie die Erhöhung des Arbeitslosengeldes, durchsetzen. Wir können klimapolitische Steinzeitprojekte, wie den Bau neuer Autobahnen, verhindern.

Derlei Aktivitäten werden von Krisenpropheten gelegentlich milde belächelt. Ja, freilich begrüßt man solches Begehr des Volkes, treibt es dieses doch in unversöhnliche Widersprüche und damit in die Arme der eigenen Welt(krisen)erklärung. Richtig froh werden die Propheten damit nicht. Würden populäre Bewegungen tatsächlich etwas durchsetzen und die Gemengelage verändern, wäre das doch gewissermaßen ein Beweis wider die eigene Geschäftsgrundlage. Nach der muss zunächst einmal einiges zusammenbrechen. Erst dann wenden sich die Leute den rettenden Ideen der Propheten zu.

Jede dieser Welt(krisen)erklärungen hat ihre Systematik, ihre eigene innere Logik. Selten sind sie frei erfunden. Obwohl auch das vorkommt. In der Regel vermitteln sie uns jedoch Facetten der Wirklichkeit.  Wir können das studieren! Wenn wir Zeit haben. Jetzt sollten wir handeln. Und uns fragen, welche Praxis dazu führt, dass Theorien geboren werden, die in die Handlungsunfähigkeit führen.  Die Krisenbeschwörung ist einerseits höchst praktisch. Mit ihr kann der Mitläufer im Zentrum, die Fruchtlosigkeit linkssektiererischen Handelns an den Rändern huldigen, ohne dass dies irgendwelche praktische Konsequenz für sein alltägliches Handeln hätte. Mehr noch: Die Krisenbeschwörung wird aus dem Zentrum befeuert, um wirkungsvolles Eingreifen von den Rändern zu blockieren. Die Handlungsanleitungen der Weltuntergangspropheten folgen der Logik einer narzisstischen Kränkung. Der Weltenlauf werde die menschlichen Objekte zur Liebe zwingen.

Die Welt wird untergehen. Was heißt untergehen, vertrauen wir den Astronomen, so müssen wir davon ausgehen, dass unsere Erde eines Tages einfach verschwinden wird. Jetzt gibt es Leute, die hoffen bis dorthin werden wir uns mittels Raumschiff Enterprise in andere Galaxien gerettet haben, so richtig überzeugend ist das dennoch nicht. Ja, wir werden untergehen. Aber bis dorthin könnten wir doch noch die Kreativität der menschlichen Gesellschaft genießen. 3.5 Mrd. Basenpaare bilden die Struktur des menschlichen Genoms und die Zahl der möglichen Verbindungen im menschlichen Gehirn übersteigt die Zahl der Teilchen im Universum. Ja freilich, wollen wir verstehen, wohin ein Mensch in einer Million Jahren seinen Schritt setzt. Aber wir sollten darüber nicht vergessen, selbst einen nächsten Schritt zu setzen. Wir brauchen die Liebe zur menschlichen Gesellschaft. Ihrer Stärke, ihren Schwächen.

Im Rhythmus wird der Bogen gespannt. Entwickeln wir politisches Handeln aus der Mitte unseres zwischenmenschlichen Alltags. Denn gebeugt erst, zeigt der Bogen seine Kraft.

Ersterscheinung: Werkstatt-Blatt 1/2021