Die deutsche Spitzenpolitik kündigt an, „nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung“ wieder militärische „Führungsmacht“ in Europa zu werden. Eine gefährliche Drohung.

Am 18. Juli 2022 veröffentlichte die Frankfurter Allgemeine Zeitung einen Gastbeitrag des deutschen Kanzlers Olaf Scholz mit dem Titel: „Nach der Zeitenwende“. Einleitend heißt es:

„Der Imperialismus ist zurück in Europa. Viele hatten die Hoffnung, enge wirtschaftliche Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeiten würden zugleich für Stabilität und Sicherheit sorgen. Diese Hoffnung hat Putin mit seinem Krieg gegen die Ukraine nun für alle sichtbar zerstört. Die russischen Raketen haben nicht nur in Charkiw, Mariupol und Cherson massive Zerstörung verursacht, sondern auch die europäische und internationale Friedensordnung der vergangenen Jahrzehnte in Schutt und Asche gelegt.“

An diesem Absatz ist nahezu alles falsch.

Die Rückkehr des Imperialismus

Nicht mit dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Putins kam der Imperialismus nach Europa zurück. Sollte er jemals verschwunden gewesen sein, so kam er spätestens mit den NATO-Bomben auf die BR Jugoslawien im Jahr 1999 zurück. Ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg, mit dem die westlichen Großmächte vor aller Öffentlichkeit das Recht des Stärkeren demonstrieren wollten, dem das Recht gleichgültig war, weil ein den Krieg völkerrechtlich legitimierendes UN-Mandat im Sicherheitsrat nicht durchsetzbar war. Die deutschen Machteliten waren die treibende Kraft hinter diesem Krieg und dessen Hauptprofiteure. 2001 meldete die deutsche „Welt“ in einer Art und Weise Vollzug, die tatsächlich eine „Zeitenwende“ signalisierte, weil sie unmissverständlich die Rückkehr eines imperialistischen Deutschlands signalisierte:

„Wenn demnächst auf die eine oder andere Weise Mazedonien noch dazukommt, wird die gesamte Region ein unerklärtes Protektorat der Europäischen Union sein. …. Ja, der Balkan ist unser Hinterhof. Ja, wir haben dort Interessen, für die wir einstehen wollen. Ja, militärische Macht gehört in letzter Konsequenz eben doch zu den Mitteln, diese Interessen und Werte durchzusetzen. Franzosen und Briten war dieser selbstbewusste Kanon vielleicht nicht neu, doch auch sie blieben auf dem Balkan ohne Macht – bis die Deutschen sich besannen, zögerlich noch unter der Regierung Kohl, zur Entschlossenheit gezwungen unter der Regierung Schröder. So hat sich Europa verändert, weil vor allem die Deutschen sich verändert haben. … In diesem Selbstbewusstsein haben die Europäer die politischen Regeln des Westens in Südosteuropa durchgesetzt. … Wer Stärke zeigt, wer Interessen hat und sie durchsetzen will – der haftet lange.“ (Die Welt, 30.06.2001)

Räuberische Handelsverträge

Auch der nächste Satz über die enttäuschte Hoffnung, „enge wirtschaftliche Verflechtung und gegenseitige Abhängigkeiten würden zugleich für Stabilität und Sicherheit sorgen“, trieft vor Heuchelei: Die EU hat gegenüber der osteuropäischen Peripherie oder den angrenzenden Staaten im Mittelmeer vor allem räuberische Freihandelsabkommen exportiert, die eben nicht von gegenseitigen, sondern von zutiefst einseitigen Abhängigkeiten zugunsten des westeuropäischen Zentrums und dessen Konzerne geprägt waren. Diese neoliberalen Freihandelsabkommen mündeten in soziale Spaltungen, Gewalt und Krieg. Nicht zuletzt das neoliberale EU-Ukraine-Assoziationsabkommen, das von EU und USA mit Gewalt und rechtsextremer Hilfestellung in Kiew durchgepeitscht wurde, brachte die ukrainische Tragödie ins Rollen.

„In Schutt und Asche“

Besonders abenteuerlich ist der letzte Satz, dass die russische Aggression gegen die Ukraine „die vergangene internationale Friedensordnung in Schutt und Asche“ gelegt hätten. Wer so einen Unfug schreibt, muss – sofern er redlichen Gemüts ist - die letzten drei Jahrzehnte als Eremit in völliger Weltabgeschiedenheit verbracht haben. Denn die internationale Friedensordnung wird nicht erst seit dem russischen Überfall auf die Ukraine, sie wird bereits seit Jahrzehnten „in Schutt und Asche“ gelegt – vor allem durch die Kriege westlicher Großmächte gegen Irak, Jugoslawien, Afghanistan, und Libyen. Friedensforscher kommen zu dem Schluss, dass die westlichen Kriege, die oftmals als „War on Terror“ firmierten, vier bis fünf Millionen Menschen das Leben gekostet haben könnten (sh. Werkstatt-Blatt 3/2021), Abermillionen wurden zur Flucht gezwungen, Staaten wurden völlig zerrüttet, Bevölkerungen ins Elend getrieben.

Was den Westen am russischen Krieg empört, ist nicht, dass dieser völkerrechtswidrig und neoimperialistisch ist, sondern dass sich Moskau anmaßt, zu jenen verbrecherischen Mitteln zu greifen, die NATO und EU bisher als ihr exklusives Privileg betrachteten.

Quantensprung für alte Agenda

Das macht den Krieg Putins nicht besser, lässt aber das von Olaf Scholz in den einleitenden Sätzen aufgebaute Kartenhaus einknicken und alles Folgende als das erkennen, was es ist: die beschleunigte Fortsetzung einer alten Agenda, die mit der Gründung der Europäischen Union (Vertrag von Maastricht) Anfang der 90er Jahre begonnen wurde: Die EU muss militärische Supermacht werden und Deutschland deren Führungsmacht.

Der damalige Generalinspekteur der deutschen Bundeswehr, Vier-Sterne-General Klaus Naumann, formulierte das 1993 zackig: „Es gelten nur mehr zwei Währungen in der Welt: wirtschaftliche Macht und militärische Mittel, sie durchzusetzen.“ (Spiegel-Interview, 18.1.1993). Diese „Zeitenwende“ begann vor drei Jahrzehnten, zunächst schleichend, mit dem Jugoslawien- und Afghanistankrieg erhielt sie um die Jahrtausendwende einen Schub, wurde ab der Wirtschaftskrise 2008 ff wieder schleppend, bekam mit der EU-Globalstrategie 2016 frischen Wind unter den Flügeln und soll nun mit dem „Strategischen Kompass“ zum „Quantensprung“ (O-Ton, EU-Rat)ansetzen: hunderte Milliarden für neue Rüstungspakete, Aufbau von Streitkräften unter zentralem Brüsseler Kommando für weltweite Kriegseinsätze, uniforme EU-Außenpolitik. Diese Pläne wurden seit langem entwickelt. Der Ukraine-Krieg war der willkommene Anlass, sie aus der Schublade zu holen.

Preußischer Kommandoton

Unter diesem Blickwinkel ergeben dann die weiteren Ausführungen von Olaf Scholz im FAZ-Artikel einen beklemmenden Sinn: Scholz unterstreicht, dass die EU „geopolitischer Akteur“ werden müsse. Das erfordere vor allem eines: „Geschlossenheit“. Ab hier verfällt Scholz in preußischen Kommandoton: „Unser Ziel muss es sein, … unsere Reihen zu schließen. … Schluss mit den egoistischen Blockaden europäischer Beschlüsse durch einzelne Mitgliedstaaten. Schluss mit nationalen Alleingängen, die Europa als Ganzem schaden.“ Dann kommt Scholz zum Punkt: „Nationale Vetos, etwa in der Außenpolitik, können wir uns schlicht nicht mehr leisten“ (FAZ, 18.6.2022). Nicht auszudenken, wenn ein Land (gar ein neutrales?) sich „mit einer egoistischen Blockade“ bei EU-Kriegseinsätzen querlegen würde.

Fürs Kriegführen braucht man aber nicht nur den zentralisierten politischen Willen, sondern auch die entsprechenden Mittel. Scholz kündigt an, mit dem 100 Milliarden Sondervermögen für die Bundeswehr werde „Deutschland in Europa bald über die größte konventionelle Armee im Rahmen der NATO verfügen.“ Deutschland werde daher „den Kern“ der ab 2025 einsatzbereiten EU-Eingreiftruppe übernehmen. Um „eine klare Führungsstruktur“ sicherzustellen, solle die Truppe für globale Militärmissionen „aus einem echten EU-Hauptquartier“ befehligt werden.

Weitere deutsche SpitzenpolitikerInnen meldeten sich nach dem Chef zu Wort: Die deutsche SPD-Verteidigungsministerin Christine Lambrecht führte aus, dass mit diesem 100-Milliarden-Sondervermögen, das über Kredite finanziert wird, das Militärbudget Deutschlands sofort auf 2% des BIP klettern werde. Dieses Sondervermögen reiche aber nur bis 2026. Um den 2%-Anteil langfristig abzusichern, müsse ab dann der reguläre Militärhaushalt schlagartig um 35 Milliarden erhöht werden, aber nicht mehr über Kredite, sondern – so Lamprecht - „über Umschichtung im Haushalt“ zu Lasten „anderer Mittel der staatlichen Daseinsvorsorge“ (Rede Lambrecht, 12.9.2022). Im Klartext: Bald müssen die Leute den Gürtel enger schnallen, um die deutsche Hochrüstung zu finanzieren.

Der neue SPD-Vorsitzende Lars Klingbeil ergänzte kurz und knackig: „Nach knapp 80 Jahren der Zurückhaltung hat Deutschland heute eine neue Rolle im internationalen Koordinatensystem. […] Deutschland muss den Anspruch einer Führungsmacht haben. Friedenspolitik bedeutet für mich, auch militärische Gewalt als ein legitimes Mittel der Politik zu sehen.“

Wenn die deutsche Spitzenpolitik ankündigt, „nach knapp 80 Jahren“ die militärische Zurückhaltung aufzugeben, dann sollten bei Friedensbewegten alle Alarmglocken läuten.

Gerald Oberansmayr
(Oktober 2022)

(Werkstatt-Blatt 3/2022, Oktober)