Rede von Dr. Robert Eiter, OÖ Netzwerk gegen Rassismus und Rechtsextremismus, auf der Kundgebung „Nie wieder ist jetzt“ am Samstag, dem 16. März 2024, auf dem Oberen Stadtplatz in Braunau.


Liebe Freundinnen und Freunde!

Es ist mir eine Ehre, heute bei Euch sein zu dürfen. Ich möchte über den antifaschistischen Auftrag unserer Bundesverfassung sprechen.

Der Staatsvertrag, abgeschlossen 1955 zwischen der Republik Österreich und den Besatzungsmächten USA, Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich, hat im Bewusstsein der Österreicherinnen und Österreicher einen hohen Stellenwert. Zurückzuführen ist diese Beliebtheit allerdings auf die Tatsache, dass der Staatsvertrag die völkerrechtliche Grundlage für den Abzug der Besatzungsmächte war, also für die Wiedererlangung der vollen Souveränität. Das geht soweit, dass noch immer viele Bürgerinnen und Bürger unseres Landes in Umfragen 1955 als „Jahr der Befreiung“ nennen. Und nicht etwa 1945, als die Alliierten die nationalsozialistische Schreckensherrschaft stürzten und das von der Landkarte gelöschte Österreich als demokratische Republik wiederherstellten.

Was aber die konkreten Inhalte des Staatsvertrages betrifft und die damit verbundenen Verpflichtungen, herrscht weitverbreitete Unwissenheit. Auch an den Schulen und in den Medien sind diese Inhalte nur selten ein Thema – angesichts ihrer Bedeutung ist das schwer verständlich. Die Unwissenheit entspricht freilich der fehlenden Bereitschaft von Politik und Behörden, eingegangene Verpflichtungen auch zu erfüllen.

Man denke nur an den Artikel 7 des Staatsvertrages, der die Rechte der slowenischen und kroatischen Minderheiten in Kärnten, der Steiermark und im Burgenland festschreibt. Mehr als fünf Jahrzehnte hat es gedauert, bis wenigstens ein größerer Teil dieser Rechte – etwa auf zweisprachige Ortstafeln – verwirklicht wurde. Ungeachtet dessen kann von einer ausreichenden Förderung der Minderheiten, etwa durch Sprachunterricht, noch immer keine Rede sein. Der Anpassungsdruck der Mehrheit hat sie beinahe schon verschwinden lassen, was Österreich um einen wichtigen Teil seiner kulturellen Vielfalt zu bringen droht.

Dieser massive Druck wurde lange Zeit organisiert und gezielt ausgeübt – vor allem durch den deutschnationalen Kärntner Heimatdienst, der systematisch gegen die slowenische Minderheit hetzte. Eigentlich heißt es ja im Artikel 7 ganz eindeutig: „Die Tätigkeit von Organisationen, die darauf abzielen, der kroatischen oder slowenischen Bevölkerung ihre Eigenschaft und ihre Rechte als Minderheit zu nehmen, ist zu verbieten.“ Zu einem Verbot kam es trotzdem nicht. Vielmehr haben Politik und Behörden den Kärntner Heimatdienst auch nach seinem kriminellen Ortstafelsturm im Jahr 1972 hofiert.

Ganz ähnlich wie um die Rechte der beiden Volksgruppen steht es um den antifaschistischen Auftrag, den der Staatsvertrag erteilt. Zwar hat schon das erste Gesetz der Zweiten Republik, das ebenfalls im Verfassungsrang stehende Verbotsgesetz, nicht nur die NSDAP und alle ihre Organisationen für aufgelöst erklärt, sondern auch jede Art der Betätigung im nationalsozialistischen Sinn unter schwere Strafen gestellt. Doch der Staatsvertrag formuliert den Auftrag breiter und programmatischer. Und er verankert ihn völkerrechtlich. Artikel 9 bestimmt unter anderem: „Österreich wird auch die Bemühungen fortsetzen, aus dem politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Leben alle Spuren des Nazismus zu entfernen ... Österreich verpflichtet sich, alle Organisationen faschistischen Charakters aufzulösen, die auf seinem Gebiete bestehen.“ Artikel 4 verbietet außerdem „großdeutsche Propaganda zugunsten der Vereinigung mit Deutschland“ sowie Organisationen, die solche Propaganda betreiben.

Kaum war die Tinte der Signaturen unter dem Staatsvertrag trocken, wurden diese Bestimmungen auch schon ignoriert. Im Schatten der geschichtsvergessenen, aber sehr bequemen These, Österreich sei das erste Opfer Hitler-Deutschlands gewesen, machte sich eine rege rechtsextreme Szene breit: Burschenschaften, Kameradschafts- und Turnerbünde, der schon erwähnte Kärntner Heimatdienst und viele mehr. Ihren parlamentarischen Arm fanden die Unbelehrbaren in der von hochgradigen Nationalsozialisten gegründeten FPÖ. Deren erster Bundesobmann, der SS-General und rechtskräftig verurteilte NS-Verbrecher Anton Reinthaller aus Mettmach bei Ried, brachte seine Geisteshaltung mit einem derben Spruch auf den Punkt: „Ich eigne mich zum Politiker der Demokratie wie der Igel zum Arschabwischen.“

Jahrzehntelang blieb der antifaschistische Auftrag der Bundesverfassung unbeachtet. Es kam kaum mehr zu Verurteilungen nach dem Verbotsgesetz. Die 1945 eingerichteten, spezialisierten Volksgerichte wurden abgeschafft. Die nun zuständigen Geschworenengerichte fällten in Verfahren gegen alte und vermehrt auch neue Nationalsozialisten Freisprüche, die sich weder aus der Sach- noch aus der Rechtslage begründen ließen. Selbst Massenmörder wie Franz Murer, der „Schlächter von Wilna“, kamen ungeschoren davon. Die Stimmung in der Bevölkerung war für die Täter und Wiederbetätiger günstig. Nicht nur in vielen öffentlichen Ämtern, sondern auch auf vielen Geschworenenbänken saßen alte Nationalsozialisten.

Fast drei Jahrzehnte veränderte sich diese Situation nicht. Der Umschwung begann in den 1980er Jahren, betrieben durch antifaschistische Organisationen und Juristen wie den Wiener Anwalt Georg Zanger. Zuerst bescheinigte das Landesgericht für Strafsachen Wien in einem Verfahren wegen Übler Nachrede der „Bundesturnzeitung“ des Österreichischen Turnerbundes eine „nationalsozialistische Schreibweise“.

Dann setzte sich der Verfassungsgerichtshof mit den Umtrieben der Neonazi-Organisationen „Nationaldemokratische Partei“ und „Aktion Neue Rechte“ auseinander. Er entschied nicht nur, dass die antifaschistischen Bestimmungen des Staatsvertrages „self-executive“, also unmittelbar und damit auch ohne Durchführungsgesetze anzuwenden seien. Sondern er traf vor allem folgende Feststellung: „Die kompromisslose Ablehnung des Nationalsozialismus ist ein grundlegendes Merkmal der wiedererstandenen Republik. Ausnahmslos jede Staatstätigkeit hat sich daran zu orientieren.“

Prüfen wir nun anhand einiger Beispiele, wie ernst dieser klare antifaschistische Auftrag der Bundesverfassung heute genommen wird. Vor wenigen Tagen hat das Innenministerium – keineswegs von sich aus, sondern in Beantwortung einer Anfrage der SPÖ – mitgeteilt, dass die Zahl rechtsextremer Straftaten ein neues Rekordhoch erreicht hat: Bundesweit ist sie in nur einem Jahr von 928 auf 1.208 gestiegen, also um 30 Prozent! In Oberösterreich nahm sie sogar um 35 Prozent zu. Mit jetzt 252 einschlägigen Delikten liegt unser Bundesland an zweiter Stelle – knapp hinter Wien, das allerdings eine halbe Million mehr Einwohner hat.

Noch viel bedenklicher als das ausgewiesene Rekordhoch an brauner Hasskriminalität ist aber der Widerspruch zu den gut belegten Daten des Justizministeriums. Letzteres hat für das Vorjahr 2.451 Verfahren nach Verbotsgesetz erfasst! Warum sich die Zahl der einschlägigen Fälle auf dem Weg vom Innen- zum Justizministerium verdoppelt, weiß niemand. Innenminister Karner konnte es mir nicht erklären: Ich habe ihn gefragt. Tatsächlich deutet alles darauf hin, dass auch die immer höheren Zahlen seines Ministeriums noch viel zu niedrig sind.

Bei den rechtsextremen Delikten handelt es keineswegs „nur“ um NS-Propaganda und Verhetzung. Sämtliche Gewalttaten sind vertreten. Beispielsweise wurde die KZ-Gedenkstätte Mauthausen in elf Jahren 33 Mal geschändet – ohne dass die Sicherheitsbehörden ein einziges dieser Verbrechen aufgeklärt hätten! Auch die Terrorgefahr ist hoch: Seit Juli 2019 wurden österreichweit 40 rechtsextreme Waffenlager entdeckt.

Nicht zuletzt wegen des antifaschistischen Auftrags der Bundesverfassung wären längst wirksame Gegenmaßnahmen geboten. 2016 kündigten der damalige Innenminister Wolfgang Sobotka und der damalige Landeshauptmann Josef Pühringer nach einem Brandanschlag auf ein Flüchtlingsheim in Altenfelden auch einen „Nationalen Aktionsplan gegen Rechtsextremismus“ an. Minister Sobotka führte dazu noch ein sehr konstruktives Gespräch mit dem Mauthausen Komitee – worauf das Vorhaben einfach schubladiert wurde. Wohl auch aus Rücksicht auf die dann folgende schwarz-blaue Koalition.

Im Juni 2021 beschlossen alle Parteien im Nationalrat – außer der FPÖ – die Forderung nach dem „Nationalen Aktionsplan“. Doch wer meint, dass das Innenministerium seither einen solchen vorgelegt hätte, irrt. Als ich im März 2023 Innenminister Karner auf das Thema ansprach, meinte er allen Ernstes, ich solle nicht so ungeduldig sein – sieben Jahre nach der ersten Ankündigung!

Ein anderes Beispiel: In Deutschland hat das völkische Geheimtreffen von Potsdam, bei dem der „Identitäre“ Martin Sellner seine menschenverachtenden „Remigrations“- oder eigentlich „Deportations“-Konzepte präsentierte, breiten Abscheu und eine Massenbewegung hervorgerufen. In Oberösterreich konnten schon vorher zwei sogenannte „Remigrations-Touren“ stattfinden – einmal durch die Freiheitliche Jugend und einmal durch die „Identitären“ – ohne dass die Landespolitik und die Behörden irgendetwas dagegen unternommen hätten. Überhaupt werden die demokratiefeindlichen Umtriebe der „Identitären“ – von gelegentlichen Lippenbekenntnissen abgesehen – geduldet. Zum rechtsextremen Mediencluster hierzulande, der im gesamten deutschsprachigen Raum Aufsehen erregt, gibt es nicht einmal Lippenbekenntnisse. Auch diesbezüglich spielt Schwarz-Blau eine wesentliche Rolle. Gerade erst hat die FPÖ eine Gruppe von „Identitären“ und rechtsextremen Medienmachern ins EU-Parlament eingeschleust.

Ein drittes Beispiel: In zahlreichen Städten und Gemeinden Österreichs existieren noch immer die im Staatsvertrag angeführten „Spuren des Nazismus“. So hat Braunau – ganz konträr zum ebenso absurden wie sündteuren Versuch, das Hitler-Geburtshaus zu „neutralisieren“ – bis heute den Ehrenbürger Josef Reiter, der ein Hitler-Vertrauter und glühender Nationalsozialist war. Nach Reiter, der davon träumte, auf den Ringstraßenbäumen in Wien Juden aufzuhängen, ist hier in der Stadt auch eine Straße benannt. Dasselbe gilt für einen weiteren üblen Judenhetzer, den SA-Obersturmführer Franz Resl. Ich appelliere an den Bürgermeister und an den Gemeinderat von Braunau, diesen Unsäglichkeiten rasch ein Ende zu bereiten!

Zurück zum Grundsätzlichen. Warum ist der antifaschistische Auftrag der Bundesverfassung wichtiger denn je? Der heutige Rechtsextremismus, der direkte Abkömmling des Faschismus, ist eine permanente Kriegserklärung an unsere demokratische Gesellschaft, die er aufzuhetzen und zu spalten versucht.

Er betrifft uns deshalb alle. Und er findet einen guten Nährboden vor: Autoritäre Gesinnungen und dumpfe Vorurteile sind reichlich vorhanden. Durch Krisen nehmen sie noch drastisch zu. Wer sich fürchtet, sucht oft Sündenböcke. Da bieten sich besonders die „üblichen Verdächtigen“ an: Fremde und Juden. Schnell wird auch die Demokratie abgelehnt und nach einem geschrien, der mit harter Hand scheinbar einfache Lösungen durchpeitschen soll.

Solche Stimmungen werden systematisch geschürt und gezielt ausgebeutet. In Österreich vor allem durch die FPÖ. Ich möchte eine simple Wahrheit aussprechen, die gerne totgeschwiegen oder verschämt umschrieben wird: Die FPÖ ist eine rechtsextreme Partei. Nicht von allen ihren Wählern und nicht einmal von allen ihren Funktionären her, aber aufgrund ihrer Wurzeln, ihres Gedankenguts und ihrer Propaganda. Ich erinnere an die unzähligen „Einzelfälle“, etwa das „Rattengedicht“, und an die NS-Begriffe, deren sich Herbert Kickl ständig bedient – etwa „Systemparteien“, „Systempolitiker“, „Volksverräter“ und „Fahndungsliste“.

Politikerinnen und Politiker der demokratischen Parteien sollten wissen: Es genügt nicht, an antifaschistischen Gedenktagen Betroffenheit zu bekunden. Erforderlich ist vielmehr der Mut zu konkreten Maßnahmen und klaren Grenzziehungen. Erforderlich ist es, auf opportunistische Machtarithmetik zu verzichten und Koalitionen mit der FPÖ auszuschließen. Demokratisch sein heißt nämlich nicht nur, wie manche meinen, bei Wahlen zu kandidieren und Stimmen zu bekommen, demokratisch sein heißt vor allem, die Menschen- und Minderheitenrechte zu achten und zu schützen.

Ob Herbert Kickl mit seiner ewiggestrigen Truppe bei der Nationalratswahl stärkste Kraft wird, ist offen. Die Gemeinderatswahlen in Salzburg haben gezeigt, dass die Freiheitlichen ohne weiteres auf die hinteren Plätze verwiesen werden können. Doch sollte der blaue Führer erfolgreich und eine andere Partei umnachtet genug sein, ihn zum „Volkskanzler“ zu machen, wäre die Gefahr einer Entwicklung wie in Ungarn groß.

Verhindern kann dies die auch in Österreich entstehende neue Massenbewegung, die dem antifaschistischen Auftrag der Bundesverfassung folgt. Die heutige Demonstration ist ein starkes Zeichen dafür!

Wenn wir uns gemeinsam und konsequent engagieren, werden wir den Rechtsextremismus nicht nur stoppen, sondern zurücktreiben. Ich lade Euch zu diesem Engagement ein, zum Beispiel im OÖ. Netzwerk gegen Rassismus und Rechtsextremismus und im Mauthausen Komitee Österreich, jenen beiden großen überparteilichen Zusammenschlüssen, für die ich heute hier sprechen darf.

Liebe Freundinnen und Freunde! Es ist unsere Aufgabe, die demokratischen Parteien immer wieder an ihre Programme und ihre Verpflichtungen zu erinnern. Und es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, dass jedenfalls die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung den Rechtsextremismus als das erkennt, was er ist: keine sinnvolle Antwort auf aktuelle Probleme, sondern, mit den Worten des Literaturnobelpreisträgers Thomas Mann, „das Letzte an Niedrigkeit, entarteter Dummheit und blutiger Schmach“.

Lösen wir diese Aufgaben! In einem jüdischen Partisanenlied heißt es: „Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt?“

Ich danke für Eure Aufmerksamkeit!