Die EU-Kommission will eine neue Entmündigungs-Richtlinie durchsetzen. Beschlüsse von Parlamenten, Landtagen und Gemeinderäten, die Dienstleistungen betreffen, sollen vorab Brüssel zur Genehmigung vorgelegt werden müssen. Widerstand dagegen ist notwendig – ebenso die Enttabuisierung der Frage, wie wir aus dem autoritär-neoliberalen EU-Korsett ausbrechen können.

Die EU-Kommission will die Macht bekommen, dass ihr in Zukunft die nationalen Parlamente, Landtage und Gemeinderäte ihre Beschluss- und Gesetzesvorlagen vorab nach Brüssel rapportieren, um diese zu überprüfen, ob sie den neoliberalen Vorgaben der sog. „Bolkestein-Richtlinie“ (2006) entsprechen. Die Bolkestein-Richtlinie fordert die umfassende Liberalisierung und Deregulierung der Dienstleistungen. Sie ist ein wichtiges Instrument für große Dienstleistungskonzerne, demokratische, soziale, ökologische und regionalpolitische Regulierungen auszuhebeln und sich den Zutritt zu profitablen Märkten zu erzwingen. Ist nun die EU-Kommission der Meinung, dass Gesetze bzw. Beschlüsse diesen Vorgaben widersprechen, soll sie die Möglichkeit erhalten, diese von vornherein zu unterbinden. Die Auswirkungen einer solchen „Entmündigungs-Richtlinie“ wären weitreichend, insbesondere dadurch, dass diese Bolkestein-Richtlinie – wie so oft das EU-Recht - schwammig und dehnbar ist. Wer also die Definitionsmacht hat, kann hochgradig willkürlich bestimmen, wo und wie es lang geht. Willkürherrschaft ist aber bekanntlich das Gegenteil von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit.

Vorlage für Entmündigungsrichtlinie kommt von Konzernlobby

Angesichts der Nähe der EU-Kommission zu Konzernlobbys dürfte klar sein, wem diese Willkür dienen wird. Selbst die Vorlage für diese Entmündigungs-Richtlinie stammt aus der Feder von Business-Europe, einer der größten Konzernvereinigungen der EU, die sich u.a. massiv für Freihandelsabkommen wie TTIP und CETA engagiert hat. Die konzernkritische NGO „Corporate Europe Observatory“ verschafft im Beitrag „Bolkestein kehrt zurück“ einen ausgezeichneten Überblick über die Gefahren dieses weiteren Angriffs auf die demokratische Souveränität von Parlamenten, Landtagen und Gemeinderäten.

Neoliberale Wirtschaftsdiktatur

Alle demokratischen Kräfte haben also guten Grund, gemeinsam Widerstand gegen diesen autoritären Vorstoß der EU-Kommission zu leisten. Gleichzeitig dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass dieser Angriff nicht überschießendem Eifer geschuldet ist, sondern die rechtliche und institutionelle Verfasstheit der EU auf den Punkt bringt: Die EU ist so konstruiert, dass sie den Macht- und Konzerneliten als Instrument dient, eine neoliberale Wirtschaftsdiktatur durchzusetzen. Demokratisch gewählten Organen auf nationaler Ebene soll es verunmöglicht werden, eine Wirtschaftspolitik verfolgen, die vom neoliberalen Dogma abweicht. Dieses Dogma ist seit dem Maastricht-Vertrag (1992) im EU-Primärrecht verankert, wo es wörtlich heißt, dass die EU-Mitgliedsstaaten eine Wirtschafts- und Währungspolitik zu verfolgen haben, die „dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb verpflichtet ist“.

Seither wird diese Verpflichtung Schritt für Schritt in einem neoliberalen Korsett an Verträgen, Richtlinien und Verordnungen festgezurrt und einzementiert. Dadurch werden die Parlamente auf nationalstaatlicher Ebene entmündigt; die Macht geht zunehmend auf technokratische EU-Institutionen bzw. die Eliten der großen EU-Staaten, insbesondere die deutschen, über. Immer mehr Bereiche der Wirtschaftspolitik werden dadurch der demokratischen Kontrolle entzogen: Außenwirtschafts- und Handelspolitik, Geld- und Währungspolitik, Industriepolitik und – in rasantem Tempo – auch die Budgetpolitik, seit diese den Vorgaben des EU-Fiskalpakts und diverser EU-Verordnungen (Sixpack, Twopack) unterworfen wurde. Beim EU-Fiskalpakterkennen wir dasselbe Prinzip, wie es nun mit der neuen Entmündigungs-Richtlinie angestrebt wird: Die nationalen Parlamente müssen vorab ihre Budgetentwürfe nach Brüssel rapportieren, die EU-Kommission hat eine weitgehende Definitionsmacht darüber, ob sie einen Staat als „Defizitsünder“ brandmarkt. Und wenn sie das tut, stehen ihr eine Reihe von Sanktionen zur Verfügung, um neoliberale „Strukturreformen“ zu erzwingen. Besonders brutal wurde das in Griechenland vorexerziert. Doch auch in vielen anderen EU-Staaten geht eine Vielzahl von Sozialabbaumaßnahmen auf solche EU-Vorgaben zurück. Auch der jüngste Großangriff der türkis-blauen Regierung auf die Sozialversicherung wurde von der EU-Kommission ausdrücklich gelobt.

Das TINA-Prinzip

Bereits 2008 – also noch vor den EU-Fiskalpakt! - hat der deutsche Staatsrechtler Andreas Fishan folgendes Resümee über die EU-Konstruktion gezogen: “Die konstitutionellen Grundlagen der Europäischen Union schotten diese gegen eine sozialreformatorische Politik ab, lassen eine Umstellung in Richtung einer solidarischen Ökonomie nicht zu, weil diese mit den normativen Vorgaben des europäischen Primärrechts nicht übereinstimmt […] Die programmatischen Festlegungen des europäischen Primärrechts sind so eng, dass sie Politik nur in einer ganz besonderen, nämlich neoliberalen Weise zulassen“ (in: Herrschaft im Wandel, Köln, 2009). In der EU findet das TINA-Prinzip („There is no alternative!“) von Margarethe Thatcher seine rechtliche und institutionelle Verwirklichung. Wo es keine Alternativen gibt, gibt es freilich auch keine Demokratie. Kein Wunder daher, dass das Festzurren dieses autoritär-neoliberalen Korsetts Hand in Hand mit dem Aufstieg des Rechtsextremismus und der Militarisierung der EU nach außen und innen geht.

„Höchst subtile Form des Faschismus“

Mit seinem feinen Gespür für gesellschaftliche Entwicklungen hat der österreichische Zukunftsforscher Robert Jungk bereits 1992 (damals als Präsidentschaftskandidat der Grünen!) die EG/EU als „eine höchst subtile Form des Faschismus“ bezeichnet. Die Solidarwerkstatt sieht es als die zentrale Aufgabe fortschrittlicher und demokratischer Kräfte, den Ausbruch aus diesem autoritär-neoliberalen EU-Korsett zu organisieren. Das reicht von der Bekämpfung neuer antidemokratischer Vorstöße (wie dieser Entmündigungsrichtlinie) über die Verweigerung, bestehend EU- Verordnungen und Verträge umzusetzen (z.B. den EU-Fiskalpakts) bis hin zum Ringen um den Austritt Österreichs aus der EU. Erst dadurch wird der Raum frei für eine demokratische und solidarische Alternative, die wir so dringend brauchen.

Gerald Oberansmayr
(Jänner 2019)