Das VP-Grüne-Regierungsprogramm - ein kommentierter Überblick gegliedert nach den Bereichen Budgetpolitik, Arbeit und Soziales, Wohnen, Demokratie und Menschenrechte, Klima und Verkehr, Klima und Energie, Natur- und Umweltschutz, Landwirtschaft und Tierschutz, Sicherheits- und Militärpolitik, Außenpolitik, Außenwirtschaft und Freihandel, Bildung und Wissenschaft, Überwachung, Digitales.

Überblick

  1. Budgetpolitik
  2. Arbeit und Soziales
  3. Wohnen
  4. Demokratie, Menschenrechte, Justiz
  5. Klima und Verkehr
  6. Klima und Energie
  7. Natur- und Umweltschutz
  8. Landwirtschaft und Tierschutz
  9. Sicherheits- und Militärpolitik
  10. Außenpolitik
  11. Außenwirtschaft und Freihandel
  12. Bildung und Wissenschaft
  13. Überwachung
  14. Digital
  1. Budgetpolitik
  • Bekenntnis zur Fortsetzung der Austeritätspolitik und den restriktiven Vorgaben des EU-Fiskalpakts bzw. der diversen EU-Verordnungen: Nulldefizit, Senkung der Schuldenquote auf die Maastricht-Vorgabe von 60% des BIP. Die Erreichung des Maastricht-Schuldenziel von 60% verschärft den Druck auf den Sozialstaats erheblich, da derzeit Österreich einen Schuldenstand von 74% am BIP und die EU einen jährlichen Schuldenabbauplan vorgibt (Zwanzigstel-Regelung), deren Nicht-Einhaltung Sanktionen auslösen kann. Um die Bereitschaft zur völligen Unterordnung unter die EU-Budgetvorgaben zu zelebrieren, fordert die Regierung ausdrücklich „Sanktionen“ für all jene EU-Staaten ein, „die sich nicht an diese Regeln halten“ (S. 175). Gleichzeitig aber verspricht die neue Regierung, unabhängig davon, die notwendigen Klima- und Zukunftsinvestitionen sicherzustellen“ (S. 69). Diese grundsätzlich positive Ankündigung wird aber wieder relativiert, wenn es heißt, dass „ökologischer und nachhaltiger Infrastrukturprojekte und Sanierungsmaßnahmen sowie deren Finanzierung unter Einhaltung des innerösterreichischen Stabilitätspaktes“ (S. 72) zu erfolgen haben. Dieser „Stabilitätspakt“ ist die österreichische Variante der im EU-Fiskalpakt geforderten „Schuldenbremse“. Was das unter dem Strich letztlich heißt, ist unklar.
  • Insgesamt soll die Staatsabgabenquote von 42,6% (2018) auf 40% des BIP gesenkt werden. Da gleichzeitig die restriktiven Vorgaben der EU in Bezug auf Budgetdefizit und Verschuldung eingehalten werden sollen, muss das als Kampfansage an den Sozialstaat aufgefasst werden. Eine Absenkung der Staatsabgabenquote um 2,6% bedeutet (gemessen am BIP 2019) Mindereinnahmen von 10 Milliarden Euro – jährlich! Zum Vergleich: Das ist fast das 7-Fache der jährlichen Ausgaben für die Notstandshilfe bzw. deutlich mehr als die Hälfte aller Bildungsausgaben in Österreich (von der Volksschule bis zur Universität), was hier jährlich des Staatshaushalt genommen werden soll.
  • Das Absenken der Staatseinnahmen beschleunigt zugleich die Umverteilungspolitik zugunsten von Konzernen und Wohlhabenden:
    • Die geplante Absenkung der Körperschaftssteuer (Gewinnsteuer für Kapitalgesellschaften) von 25% auf 21% beschert den Konzernen Steuergeschenke von 1,5 Milliarden jährlich. Auch der Gewinnfreibetrag wird auf 100.000 Euro ausgeweitet.
    • Die Befreiung von Kursgewinnen von „Wertpapieren und Fondsprodukten“ von der Kapitalertragssteuer nach einer gewissen Behaltefrist wird vor allem Aktionäre freuen.
    • Die Tarifstufen bei der Einkommenssteuer sollen abgesenkt werden: Für die 1. Stufe von 25% auf 20%, für die 2. Stufe von 35% auf 30%, für die 3. Stufe von 42% auf 40%. Der Spitzensteuersatz von 55% für Einkommen über einer Million jährlich läuft aus. Was heißt das unterm Strich: Ein/e Arbeitnehmer/In mit weniger als rund 14.000 brutto im Jahr hat einer Steuerersparnis von 0 Euro. Wer rund 20.000 Euro brutto im Jahr verdient, erspart sich etwas über 100 Euro Lohnsteuer im Jahr; wer 50.000 Euro im Jahr brutto verdient, hat eine Steuerersparnis von 900 Euro; wer 100.000 Euro jährlich verdient, darf sich über mehr 1.200 Euro Steuerersparnis jährlich erfreuen. Besonders krass wäre die Steuerersparnis, wenn - wie ursprünglich vorgesehen - der Spitzensteuersatz von 55% für Einkommensmillionäre ab 2020 auslaufen würde. Ein Spitzenmanager mit 2 Millionen Euro Jahreseinkommen könnte sich dann mit einer jährlichen Steuerersparnis von 50.000 Euro gleich eine neue Luxuskarosse anschaffen. Von diesem aufreizenden Steuergeschenk für Spitzeneinkommen dürfte die Regierung jedoch unter dem Druck der Öffentlichkeit nun abgerückt sein. Insgesamt wird diese Senkung der Einkommenssteuer 3,9 Milliarden im Jahr kosten. Das untere Drittel hat davon gar nichts, Hauptprofiteure sind gut Verdienende.
    • Auch die verteilungspolitische Schieflage beim Familienbonus wird nicht repariert, sondern verschärft: Der Familienbonus wird von 1.500,- auf 1.750,-. angehoben. Da es sich um einen Absetzbetrag handelt, profitieren davon in vollem Umfang nur solche, die auch entsprechende Steuerzahlungen leisten; für geringverdienende AlleinerzieherInnen bzw. AlleinverdienerInnen wird der Bonus von 250,- auf 350,- je Kind deutlich geringer angehoben.
  • Das Resultat ist eine doppelte Umverteilung von unten nach oben: Jene, die von der Steuerentlastung wenig bis gar nicht profitieren, werden die Hauptverlierer des Sozialabbaus sein, der durch die Austrocknung der Staatseinnahmen droht.
  • Die Steuergeschenke an Konzerne und Wohlhabende kommen sofort, für eine „ökosoziale Steuerreform“ heißt es dagegen „Bitte warten“ – zumindest bis 2022: Mit dem zweiten Schritt dieser ökosozialen Steuerreform sollen aufkommensneutral klimaschädliche Emissionen wirksam bepreist und Unternehmen sowie Private sektoral entlastet werden.“ (S. 79). Das konkrete Konzept bzw. wieviel sozial im öko steckt, ist unklar. Das soll eine „Task Force ökosoziale Steuerreform“ klären.

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  1. Arbeit & Soziales
  • Grundsätzlich gilt: Keine der unsozialen Grauslichkeiten der türkis-blauen Regierung wird zurückgenommen, z.B. 12-Stundentag/60-Stundenwoche, vermehrte Wochenendarbeit, Zerstörung der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, Verschärfungen bei Mindestsicherung/Sozialhilfe (Der VfGH hat festgestellt, dass das türkis-blaue Sozialhilfegesetz nicht verfassungskonform ist, da Familien für ihre Kinder unterschiedlich hohe Leistungen bekommen. Entsprechenden Korrekturen finden sich jedoch keine in diesem Regierungsprogramm).
  • Das groß angekündigte Programm zur Armutsbekämpfung (insbesondere von Kindern) hält nicht, was es verspricht: Außer der Einrichtung eines bundesweiten Kältetelefons bleibt unter dem Strich nicht viel übrig. Es ist bezeichnend, dass in diesem Kapitel vor allem die Einkommenssteuerreform hervorgehoben wird, die gerade dem unteren Drittel der Gesellschaft wenig bis gar nichts bringt aber durch den dadurch angestoßenen Sozialabbau vieles kosten kann.
  • Pensionen:
    • Regierungsprogramm fordert einmal mehr „die Heranführung des faktischen an das gesetzliche Pensionsantrittsalter“, schweigt sich aber zu Details aus. ÖVP und Grüne haben aber bereits durchblicken lassen, dass sie 2019 beschlossene Regelung, wonach Männer nach 45 Beitragsjahren mit 62 abschlagsfrei in Pension gehen können („Hacklerregelung“), wieder rückgängig machen wollen. Dass dieser Sozialabbau von grüner Seite auch noch frauenpolitisch argumentiert wird (sh. Kogler), ist ein Hohn: Frauen werden aufgrund der Anhebung des Frauenpensionsalters bald in der selben Situation wie Männer sein; vor allem könnten sofort Maßnahmen ergriffen werden, die Frauenpensionen unterstützen – zum Beispiel kräftige Anhebung der Mindestlöhne und der Ausgleichzulage. Doch dazu findet sich nichts im türkis-grünen Regierungspapier.
    • Privatpensionen sollen gefördert werden: „Ergänzend zur staatlichen Pensionsvorsorge auch entsprechende Rahmenbedingungen für die private Pensionsvorsorge schaffen“ (S. 71). Ein Schelm, wer dabei an die Initiative der EU-Kommission zu PEPP denkt.
  • Löhne und Gehälter
    • Erleichterung des Lohndumpings durch Ausweitung der Mängelberufsliste (z.B. alle Pflege-Berufe, Tourismus).
    • Einrichtung eines sog. „Produktivitätsrats gemäß der EU-Ratsempfehlung“ (S. 91). Gemäß dieser EU-Ratsempfehlung haben diese Produktivitätsausschüsse „Inputs für die nationale Debatte im Bereich der Produktivität und Wettbewerbsfähigkeit liefern“ (sh. EU-Rat, 13.6.2016), um unter anderem „die Flexibilität der Arbeitsmärkte“ zu forcieren. Keine gute Nachricht für ArbeitnehmerInnen und Gewerkschaften.
  • Arbeitslose:
    • Erfreulich ist, dass das Vorhaben der türkis-blauen Regierung, die Notstandshilfe abzuschaffen, zunächst vom Tisch ist. Allerdings sind Anläufe in diese Richtung nicht ausgeschlossen. Immerhin findet sich folgender Passus im Regierungsprogramm: Weiterentwicklung des Arbeitslosengeldes mit Anreizen, damit arbeitslose Menschen wieder schneller ins Erwerbsleben zurückkehren können“ (S. 259). Wieder einmal werden Arbeitslose selbst für die Arbeitslosigkeit verantwortlich gemacht und nicht die Tatsache, dass sich in Österreich selbst im Hochkonjunkturjahr 2019 fast fünf Arbeitslose um eine offene Stelle anstellen mussten.
    • Die Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitslose mit Kinderbetreuungspflichten soll verschärft werden. In Hinkunft soll diesen eine 20 Stundenarbeit (bisher 16 Stunden) zumutbar sein - „bei Vorhandensein von adäquaten Kinderbetreuungsmöglichkeiten“ (S. 260). Das Regierungspapier verspricht diese quantitativ und qualitativ auszubauen.
    • Der AMS-Algorithmus, der seit kurzem Arbeitslose selektiert (in solche, die förderungswürdig sind bzw. solche, die auf dem arbeitsmarktpolitischen Abstellgleis landen), wird nicht in Frage gestellt, sondern soll „evaluiert, adaptiert und weiterentwickelt werden“ (S. 259).
  • Gesundheit/Pflege:
    • Die in den Jahren 2012 und 2017 beschlossene bzw. verschärfte „Deckelung“ der Gesundheitsausgaben hat dazu beigetragen, dass es im Gesundheitsbereich an allen Ecken und Enden fehlt und sich die Zwei-Klassen-Medizin und der Pflegenotstand verschärft hat. Im türkis-grünen Regierungsprogramm wird an dieser „Deckelung“ nicht gerüttelt.
    • Die von Gewerkschaft und Arbeiterkammer dringend geforderte Aufstockung des Personals im Gesundheits- und Sozialbetreuungsberufen um mindestens 20% ist nicht zu finden. Das Regierungsprogramm ist diesbezüglich selbst ein „Notfallpatient“, kritisiert die Gewerkschaft vida (OTS, 9.1.2020).
    • Von der großspurig angekündigten Pflegeversicherung findet man nur vage Andeutungen („Bündelung und Ausbau bestehender Finanzierungsströme“, S. 245), keine Rede mehr von der Einbeziehung der Pflege in die Sozialversicherung, wie es die ÖVP noch im Wahlkampf propagierte.
    • Begrüßenswert ist das Vorhaben eines substanziellen, stufenweisen, bedarfsorientierten Ausbaus der Sachleistungsversorgung bis 2024 im Bereich der psychischen Gesundheit, Ziel: Bedarfsdeckung“ (S. 266). Ob angesichts des „Gesundheitsdeckels“ dieses Ziel erreicht wird, kann zumindest bezweifelt werden. Erfreulich ist auch die Ankündigung, dass es zu „keiner Ausweitung von Selbstbehalten für Arztbesuche im ASVG“  (S. 266) kommen soll.

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  1. Wohnen
  • Türkis-blau will die Umwandlung von Mietwohnungen in Eigentumswohnungen fördern. „Mietkauf als sozial orientierter Start ins Eigentum“ (S. 42) heißt die türkis-grüne Abwandlung von Marie Antoinettes Ausspruch, der Pöbel solle halt Kuchen essen, wenn er kein Brot hat. Eine Maßnahme gegen horrende Wohnungsmieten ist das nicht.
  • Die wirksamste Maßnahme zur Linderung der Wohnungsnot und Eindämmung der Mieten, eine soziale Wohnbauoffensive, sucht man dagegen vergeblich, denn das könnte mit den sakrosankten Vorgaben des EU-Fiskalpakts in Konflikt geraten.
  • Positiv: Die Regierung will „im Rahmen des Finanzausgleichs darauf Einfluss nehmen, dass die Einnahmen und Rückflüsse der Wohnbauförderung wieder für Wohnen zweckgewidmet“ und „Leerraum mobilisieren“ (S. 43). Mit der „Einführung des Bestellerprinzips“ (S. 43) sollen Maklerprovisionen für MieterInnen im Rahmen einer Mietrechtsreform abgeschafft werden, die allerdings erst für das Ende der Legislaturperdiode (2024) geplant ist.

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  1. Demokratie, Menschenrechte, Justiz
  • Es sollen Maßnahmen geprüft werden, um das „freien Spiel der Kräfte im Parlament“ in den Vorwahlphasen einzugrenzen. Denn da kommen doch glatt immer wieder Mehrheiten im Parlament auf die verwegene Idee, Maßnahmen zu beschließen, die einen Mehrheitswillen der Bevölkerung zum Ausdruck bringen (z.B. Verbot von Glyphosat, Rücknahme von Verschlechterungen bei der Pension). Das soll beendet werden. Die neue Regierung will unter Einbeziehung aller Parlamentsparteien, Maßnahmen prüften, um in Vorwahlzeiten nachhaltiges und verantwortungsvolles Handeln im Parlament sicherzustellen“ (S. 19).
  • Bemerkenswert ist auch, dass selbst die völlig unzureichenden Ansätze zur Stärkung der direkten Demokratie, die sich im Programm der Vorgängerregierung gefunden haben, ersatzlos beerdigt wurde.
  • Im türkis-grünen Regierungsprogramm finden sich zwei Punkte, die einen Großangriff auf den Rechtsstaat darstellen:
    • So soll eine sog. „Sicherungshaft“ (S. 199) eingeführt werden. Im Klartext: Jemand kann hinter Gitter kommen, obwohl er keinen Rechtsbruch begangen hat. Es reicht die Vermutung, dass er einen solchen im Sinn haben könnte. Zuletzt gab es eine solche „Sicherungshaft“ in Zeiten des Austrofaschismus und des Nationalsozialismus. Entsprechend begeistert zeigt sich die FPÖ. FP-Obmann Norbert Hofer hat angekündigt, den Grünen einer „Ehrenmedaille für das Umsetzen freiheitlicher Ideen zu verleihen.“ (ORF, Runder Tisch, 3.1.2020).
    • Und ergänzend dazu – bislang wenig beachtet: „Enthaftung von untergebrachten Rechtsbrechern, ausschließlich wenn durch Gutachten angenommen wird, dass keine weitere gleichartige Straftat begangen wird (S. 37). D.h. jeder mit Gefängnis geahndete Rechtsbruch kann – unabhängig von der Dauer der Gefängnisstrafe – im schlimmsten Fall lebenslänglich bedeuten, wenn es der/die GutachterIn so will. Das öffnet der Gesinnungsjustiz Tür und Tor!
  • „Künstliche Intelligenz (soll) zur Unterstützung gerichtlicher Entscheidungen“ (S. 29) herangezogen werden. Lest man das vor dem Hintergrund der Einführung der „Sicherheitshaft“ und einem zunehmend ausufernden Überwachungsstaat (sh. Punkt 13), nehmen dystopische Science-Fiction-Visionen („Precrime“) eine beklemmend reale Gestalt an.
  • Ebenfalls wird die FPÖ freuen, dass sich unter dem Kampfbegriff „politischer Islam“ ein rassistischer Generalverdacht gegenüber MuslimInnen durch das türkis-grüne Programm zieht, der nicht hinter den der türkis-blauen Vorgängerregierung zurückfällt: Eine „unabhängige staatlich legitimierte Dokumentationsstelle für den religiös motivierten politischen Extremismus (politischer Islam)“ (S. 220) soll eingerichtet und eigene Straftatbestände auf den „politischen Islam“ zugeschnitten werden. Auch die unselige Kopftuchdebatte (Kopftuchverbot in Schulen bis 14) erfährt ein Rivival. In der Vergangenheit haben sich solche Kulturkampfdebatten immer bestens geeignet, um von Sozialabbau abzulenken.
  • Asylpolitik: Länder, die die Dublin-Verordnungen der EU, die de facto das nationale Asylrecht aushebeln, nicht strikt umsetzen, droht Österreich mit „wirksamen Sanktionen“ (S. 178). Die Kickl-Idee, NGOs durch die Einrichtung einer „Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen“ aus dem Asylverfahren (z.B. Rechtsberatung) rauszudrängen, soll umgesetzt werden. Die nächste „Ehrenmedaille“ für die Grünen liegt wohl bereits griffbereit in Hofers Schublade.
  • Die neue Regierung will „Maßnahmen setzen, um Vereine, die staatsfeindliches Gedankengut (so wie die Identitären) verbreiten, wirksam zu bekämpfen.“ (S. 220). Der Verweis auf die Identitären ist heimtückisch. Denn gerade diese rechtsradikale Gruppierung könnte (und sollte endlich!) aufgrund der existierenden antifaschistischen Gesetze in Österreich wirksam bekämpft werden. Genau das aber will die Regierung nicht, könnte sich doch herausstellen, dass die österreichfeindliche Europa-Propaganda der Identitären („Europa verteidigen!“) keine politischen Lichtjahre vom Eliten-Mainstream entfernt ist. Vielmehr sollen die „Identitären“ als Projektionsfläche verwendet werden, um anstelle der einer antifaschistischen eine anti-oppositionelle Gesetzgebung mit leicht zu missbauchenden Gummiparagraphen („staatsfeindliches Gedankengut“) zu etablieren.

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  1. Klima und Verkehr
  • In Österreich sind in den nächsten 5 bis 10 Jahren der Ausbau von Autobahnen, Schnellstraßen und neuen Flugpisten in der Höhe von rund 20 Milliarden Euro geplant – ein Großangriff auf Klima- und Umweltschutz. Dazu gehören u.a.: 3. Piste am Flughafen Wien/Schwechat, Lobau-Tunnel, Waldviertel-Autobahn, neue Autobahnen im Raum Linz, neue Schnellstraßen in der Steiermark und Vorarlberg etc. Viele dieser Autobahnen und Flugpisten gehören zu den „Transeuropäischen Netzen“ der EU, werden also entsprechend rechtlich und finanziell privilegiert. Die Verhinderung dieses fossilen Großprojekte ist die Nagelprobe für jede ernsthafte Klima- und Umweltschutzpolitik. Im Regierungsprogramm findet sich dazu: nichts. Im Klartext: Die neue Regierung gibt im wahrsten Sinn des Wortes grünes Licht für diese klimafeindlichen Megaprojekte. Trotz einiger positiver Maßnahmen im Verkehrsbereich (sh. weiter unten), fährt damit die Verkehrspolitik noch immer mit hoher Geschwindigkeit in die falsche Richtung.
  • Statt endlich energisch den Automobilismus zurückzudrängen, soll der Autoindustrie durch das türkis-grüne Programm ein zweiter Frühling verschafft werden – einerseits durch den massiven Ausbau der Straßeninfrastruktur (sh. oben), andererseits in Form der umfassenden Förderung von Elektroautos. Der deutsche Verkehrsexperte Winfried Wolf hat ausführlich dargelegt, warum Elektro-Autos ein Weg in die Sackgasse sind – aus vielen, nicht zuletzt klimapolitischen Gründen. Das türkis-grüne Regierungsprogramm steuert energisch in diese Sackgasse. Auch die im Regierungsprogramm beschworene Förderung von Biotreibstoffen bedient die Interessen der Automobilindustrie – eine Obszönität angesichts der Notwendigkeit, wertvollen Ackerboden für die Nahrungsmittelproduktion zu sichern, statt für unnachhaltige Mobilität zu verfeuern. Es geht nicht darum, alternative Antriebsformen zu verteufeln, es geht um eine Prioritätensetzung: Wer ernsthaft eine Klima- und Verkehrswende erreichen will, muss den absoluten Vorrang darauf legen, den Autoverkehr massiv zu reduzieren. Der Anteil des MIV am Modalsplit liegt in Österreich derzeit bei über 60%, wir müssen ihn auf maximal 10 bis 15% reduzieren; dieser Rest kann durchaus auf E-Mobilität umgestellt werden. Die türkis-grüne Regierung geht den umgekehrten Weg: Die Autoindustrie soll unter dem Feigenblatt E-Mobilität ein neuer Aufschwung erfahren. Ob unter diesen Voraussetzungen das ambitionierte Regierungsziel, Österreich bis 2040 klimaneutral zu machen, gelingt, ist kaum vorstellbar.
  • Tempo 140 – ein Projekt der Vorgängerregierung – soll beendet werden. Soweit so gut. Eine längst überfällige flächendeckende Temporeduktion – z.B. 100 km/h auf Autobahnen, 80 km/h auf Bundesstraßen, 30 km/h im Stadtgebiet - wird nicht angedacht, obwohl eine solche Maßnahme rasch und billig Menschenleben retten, den Schadstoffausstoß reduzieren und die Attraktivität des ÖV steigern könnte.
  • Die Regierung will auch die Verlagerung des Gütertransports von der Straße auf die Schiene fördern. Das ist begrüßenswert, steht aber im auffallenden Kontrast dazu, dass für den LKW-Verkehr neue milliardenteure Transitautobahnen (z.B. Lobau-Tunnel, Waldviertel-Autobahn, Osttangente Linz) im Rahmen der „Transeuropäischen Netze“ (TEN) errichtet werden sollen. Auch die Erweiterung der Flughäfen (z.B. 3. Piste Flughafen Wien/Schwechat) wird nicht zuletzt mit der Förderung des besonders umweltschädlichen Aircargo-Geschäfts begründet. Zudem verbleiben die vorgeschlagenen Maßnahmen vage bzw. abhängig davon, ob diese überhaupt auf EU-Ebene erlaubt bzw. durchsetzbar sind. So soll der Schienengüterverkehr bis zur EU-genehmigten Höhe“ gefördert werden, man will sich „proaktiv für eine EU-Wegekosten-Richtlinie II“ (S. 132) einsetzen usw. Vor allem aber: Die Vorschläge gehen am Wesentlichen vorbei. Wohl bis zu zwei Drittel des Güterverkehrs ist überflüssiger Verkehr, der verhindert und nicht verlagert werden muss. Doch dazu verliert das türkis-grüne Programm kein Wort, zu offensichtlich wäre der diametrale Gegensatz zum neoliberalen EU-Binnenmarktregimes. Mit dem Bekenntnis zur Ausweitung von Freihandelsabkommen soll dieser Gütertransport sogar noch weiter angekurbelt werden (sh. Punkt 11).
  • Der klimafeindliche Flugverkehr wird nicht zurückgedrängt, sondern gefördert. Die Flugticketabgabe je Passagier wird auf 12,- pro Flug vereinheitlicht, d.h. für Kurzstreckenflüge (derzeit 3,50 Euro) und Mittelstreckenflüge (derzeit 7,50) wird sie zwar erhöht, für Langstreckenflüge (derzeit 17,50) wird sie absurderweise jedoch abgesenkt. Freilich ist das eher symbolisch. Wirklich verheerend ist der geplante Ausbau der Flughäfen (z.B. in Wien-Schwechat und Klagenfurt), der im Programm mit keiner Silbe kritisiert oder in Frage gestellt wird. Im Gegenteil: Das VP-Grün-Regierungspapier fordert das Vorantreiben des „Einheitlichen Europäischen Luftraums“ (S 134), der darauf hinausläuft, durch Liberalisierung und Privatisierung der Luftraumüberwachung in der EU die Kosten des Flugverkehrs auf dem Rücken der Beschäftigten zu senken. Erklärtes Ziel der EU-Kommission ist es, mit Hilfe des „Einheitlichen Europäischen Luftraums“ „die Luftraumkapazitäten zu verdreifachen“ (https://www.europarl.europa.eu). Sofort wirksame Maßnahmen, wie etwas das Verbot von Kurzstreckenflügen, sucht man dagegen vergeblich.
  • Freilich finden sich gerade im Bereich Öffentlicher Verkehr und sanfte Mobilität auch viele positive Ankündigungen. Vieles davon sind jedoch Überschriften oder Absichtserklärungen. Einige sind aber konkret und abrechenbar:
    • Die wohl konkreteste und positivste ist die Einführung eines 1-2-3 Tickets im Öffentlichen Verkehrs, d.h. ein 365-Euro Jahresnetzkarte zur Benutzung des Öffentlichen Verkehrs in einem Bundesland, ein 730-Euro-Jahresticket für zwei benachbarte Bundesländer und ein 1.095 Euro Jahresticket für den Öffentlichen Verkehr im gesamten Bundesgebiet.
    • Erfreulich ist auch die Ankündigung, eine Nahverkehrsmilliarde für den ÖPNV in Ballungsräumen und eine Öffi-Milliarde für den Regionalverkehr bereitzustellen. Da dafür aber kein Zeitraum angegeben wird und auch unklar ist, ob die Kosten des 1-2-3-Tickets hier eingerechnet werden, ist es schwierig einzuschätzen, welcher finanzieller Spielraum sich dadurch wirklich für den Öffentlichen Verkehr auftut. Hier gilt es jedenfalls in den Bundesländern und Gemeinden anzuknüpfen, um den ÖPNV in den Städten zu attraktivieren und den Ausbau von regionalen Schienen zu forcieren (z.B. Mühlkreisbahn, Summerauer Bahn, Pyhrnbahn) und stillgelegte Bahnlinien zu revitalisieren (z.B. Donau-Uferbahn).
    • Wie im Programm der Vorgängerregierung findet sich auch in diesem Programm das Ziel, den Anteil des Radverkehrs von 7% auf 13% bis 2025 zu erhöhen. Das ist ambitioniert. Konkrete Schritte, wie man dorthin kommt, fehlen zwar weitgehend, aber es ist ein wichtiger Ansatzpunkt, um den Druck in diese Richtung zu erhöhen.
  • EU-Bahnliberalisierung: Als gefährliche Drohung für die Beschäftigten und die BenutzerInnen des Öffentlichen Verkehrs könnte sich die im Regierungsprogramm angekündigte Vorbereitung auf die bevorstehende europaweite Liberalisierung des Bahnverkehrs und die damit verbundene wettbewerbliche Vergabe von Leistungen“ (sh. S. 128) entpuppen. Über 50% des Umsatzes der ÖBB im Personenverkehr stammt aus öffentlichen Aufträgen. Ein Abgehen von den Direktvergaben an die ÖBB würde Schritt für Schritt zur Privatisierung des Eisenbahnverkehrs und zur regelrechten Enteignung der ÖBB zugunsten große EU-Konzerne führen. Die Folgen der Privatisierung im Eisenbahnverkehr können in anderen Staaten bereits studiert werden: Zerstörung eines einheitlichen, aufeinander abgestimmten Gesamtnetzes, Rosinenpicken, kurzfristige Gewinnmaximierung zulasten der langfristigen Versorgungssicherheit, Sozialdumping, Vernichtung tausender Arbeitsplätze. Trauriges Beispiel dafür ist der österreichische Bussektor, der bereits dem EU-Ausschreibungszwang unterliegt. Hier wird schon seit Jahren Wettbewerb auf dem Rücken der ArbeitnehmerInnen ausgetragen, da in der Praxis Ausschreibungen über Personalkosten gewonnen oder verloren werden.
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  1. Klima und Energie
  • Ziel ist es, die Stromversorgung bis 2030 auf 100% (national bilanziell) Ökostrom bzw. Strom aus erneuerbaren Energieträgern umzustellen und sukzessive aus fossilen Energieträgern bei der Raumwärme auszusteigen. Dafür wird der ambitionierte Ausbau von Photovoltaik, Wasserkraft, Windenergie, Biomasse, Geothermie, Biomethan aber auch Maßnahmen zum Energiesparen (z.B. Investitionen in die thermische Sanierung) versprochen. Das ist sicherlich positiv, muss freilich auch den „Nulldefizit“-Ankündigungen standhalten - und wird durch die Förderung von Elektrofahrzeugen konterkariert, die den Strombedarf massiv in die Höhe treiben werden.
  • Atompolitik: Auf Seite 115 finden wir: „Fortsetzen der konsequenten Anti-Atomkraft-Linie: keine öffentlichen Gelder für Atomkraft“. Da wird Sand in die Augen gestreut, denn Österreich finanziert über EURATOM, die EU-Atomgemeinschaft, sehr wohl die Atomlobby mit Beträgen jenseits von 100 Millionen Euro jährlich. Und ein Ausstieg aus EURATOM wird auch im VP-grünen-Regierungsprogramm nicht in Erwägung gezogen. Man werde sich aber für eine „Reform des EURATOM-Vertrags“ (S. 115) einsetzen – eine Placebo-Forderung, weil Österreich es zwar in der Hand hätte auszusteigen, aber Vertragsänderungen der Einstimmigkeit bedürfen. Vollkommen ausgeblendet wird, dass beim EU-Gipfel im Dezember 2019 – mit Unterstützung Österreichs – der Atomenergie ein Persilschein als „grüne Energie“ ausgestellt wurde, sie also als Beitrag zum Kampf gegen den Klimawandel anerkannt wird.
  • Aber nicht nur der Ausstieg aus EURATOM fehlt, jedes Programm, das Klimaschutz und Anti-Atom Priorität einräumt, müsste auch den Ausstieg aus der „Energie-Charta“ sofort auf die Tagesordnung setzen. Die Energie-Charta beinhaltet einen Investor-Staat-Streitbeilegungs-Mechanismus. Dieser ermöglicht es ausländischen Konzernen im Energiesektor, Regierungen aufgrund neuer Gesetze – wie etwa den Ausstieg aus fossiler oder atomarer Energie – vor geheimen internationalen Schiedsgerichten auf Schadenersatz zu verklagen.
  • Betont wird im Programm auch „der Schutz des Wassers als zentrales Element der Daseinsvorsorge“, insbesondere versichert die Regierung, dass „kein Ausverkauf der Ressource Wasser“ (S. 145) zugelassen werde. Leider schweigt das Programm dazu, dass die EU-Kommission im Jahr 2019 einen gefährlichen Angriff auf die österreichische Wasserkraft gestartet hat. Über ein Vertragsverletzungsverfahren soll Österreich gezwungen werden, die wasserrechtlichen Genehmigungen für Wasserkraftwerke zu liberalisieren, um damit dem Ausverkauf der mehrheitlich in öffentlichem Eigentum befindlichen Wasserkraftwerke an große EU-Konzernen die Tür zu öffnen. Mehr noch: „Dieses Ausschreibungsverfahren könnte außerdem auf alle Wassernutzungsarten einschließlich der Trinkwasserversorgung und Abwasserentsorgung angewendet werden“ (A&W-Blog, 13.11.2019).

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  1. Umwelt- und Naturschutz
  • Etliche erfreuliche Vorhaben finden sich im Bereich Umweltschutz und Abfallvermeidung, z.B. die „Forcierung von langlebigen, reparierbaren und wiederverwertbaren Produkten“, ein „Aktionsplan gegen Lebensmittelverschwendung“, Reduktion von Einwegplastikverpackungen (S. 142). Gleichzeitig wird aber mit keinem Wort die zwangsweise flächendeckende Einführung von digitalen Strommessgeräten (Smart Metern, sh. Kapitel Digitales) in Frage gestellt, obwohl das zu einem Elektromüllproblem ersten Ranges führen wird. Während nämlich die bisher verwendeten analogen Ferraris-Zähler ein halbes Jahrhundert und länger halten, müssen in Zukunft über 5 Millionen Smart Meter alle 8 bis 10 Jahre ausgetauscht werden. Eine Goldgrube für die Industrie, ein Waterloo für den Umweltschutz.
  • Im Kapitel Naturschutz finden sich ebenfalls viele richtige und wichtige Vorgaben, vom Schutz der Biodiversität über die Schaffung/Erweiterung von Nationalparks bis hin zum besonderen Schutz der Alpenregion. Dass freilich die schwarz-grüne Landesregierung in Tirol genau das Gegenteil betreibt, dazu schweigt das türkis-grüne Programm. Die Tiroler Landesregierung will durch die Verbindung der Gletscher-Skigebiete Ötztal und Pitztal das weltweit größte Gletscherschigebiet aus dem ewigen Eis stampfen. Dafür sollen Berggipfel weggesprengt und hunderttausende Kubikmeter Gestein, Erde und Eis abgetragen werden und mit 9.000 LKW-Ladungen abtransportiert werden; die Fläche von 116 Fußballfeldern soll in dieser sensiblen Naturregion dauerhaft verbraucht werden. Ob das verhindert  wird, ist eine der Nagelprobe, ob für die Regierungsparteien der Naturschutz mehr als nur ein Lippenbekenntnis ist.

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  1. Landwirtschaft und Tierschutz
  • Auch hier finden sich neben einigen unterstützenswerten Ankündigungen (z.B. Schredderverbot von lebendigen Küken) viele blumige Erklärungen mit bescheidener Substanz: Vieles bleibt bei unverbindlichen Absichtsbekundungen, weil es seine Grenze in Vorgaben des EU-Binnenmarktregime findet, etwa das Verbot von gentechnisch manipulierten Futtermitteln oder die Einschränkung der grausamen Tiertransporte.
  • Symptomatisch dafür auch, wie mit dem Gesetz zum Verbot von Glyphosat umgegangen wird, das im Sommer 2019 im Nationalrat beschlossen wurde. Bundeskanzlerin Bierlein verhinderte bekanntlich das Inkraft-Treten des Gesetzes, weil dieses der EU-Kommission nicht vorab zur Begutachtung vorgelegt worden war. Die türkis-grüne Regierung versetzt nun dem Gesetz den Todesstoß, indem sie klarlegt, dass in Hinkunft „nationale Bestimmungen zu Pflanzenschutzmitteleinsatz“ nur mehr „im Einklang mit der EU-Gesetzgebung erlassen werden“ (S. 160). Damit ist das Glyphost-Verbot weg vom Tisch. Was der EU-Kommission nicht passt, wird von türkis-grün nicht angefasst.

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  1. Sicherheits- und Militärpolitik
  • Schon der Beginn des entsprechenden Programmteils verheißt wenig Gutes. So wird Europäische Union als „eine der größten Errungenschaften des 20. Jahrhunderts und das erfolgreichste Friedensprojekt unseres Kontinents“ (S. 174) verklärt. Das ist absolut kontrafaktisch: Schon der Startschuss für die EU – der Vertrag von Maastricht Anfang der 90er Jahre – verhinderte nicht den Krieg, sondern brachte den Krieg auf den europäischen Kontinent zurück. Der Maastricht-Vertrag wurde ausdrücklich mit der Anerkennung der einseitigen Sezessionen in Jugoslawien junktimiert - ohne politische Verhandlungen zwischen den Konfliktparteien, ohne Klärung von Minderheitenrechten, ohne Respekt vor dem Völkerrecht. Jeder wusste, dass das zum Krieg führen musste. Und so kam es. Die Blutspur am Balkan trägt von Anfang an die Handschrift der EU. Viele weitere Kriege wurden von der EU geführt bzw. direkt oder indirekt unterstützt: in Libyen, in Afghanistan, in der Ukraine, in Zentralafrika, in Syrien. Nach den USA zählen die EU-Staaten zu den weltweit größten Waffenexporteuren. Die EU hat – weltweit wohl einzigartig – in ihrem Grundlagenvertrag die Verpflichtung aller Mitgliedsstaaten zur permanenten militärischen Aufrüstung (Artikel 42, Abs. 3, EU-Vertrag) verankert. Mit der „Ständig Strukturierten Zusammenarbeit“ (EU-SSZ/Pesco) wird diese Aufrüstungspflicht konkretisiert und seit einigen Jahren eine regelrechte Rüstungslawine ins Rollen gebracht. EU-Kampftruppen (Battlegroups) stehen für Militäreinsätze vorrangig in den rohstoffreichen Regionen Nord- und Zentralafrikas, der Nahen und Mittleren Ostens Gewehr bei Fuß, um – wie es die EU-Globalstrategie (2016) festhält – „offener Märkte“, „offener Schifffahrtsrouten“ und den „Zugang zu natürlichen Rohstoffen“ notfalls mit Gewalt sicherzustellen.
  • Seit dem EU-Beitritt tun die österreichischen Machteliten alles, um bei jedem Schritt der EU-Militarisierung voll und ganz mitzumachen. Die in der österreichischen Verfassung verankerte Neutralität wird immer weiter ausgehöhlt. Das reicht vom Kriegsermächtigungsartikel 23 j B-VG über die Novellierungen im Kriegsmaterialgesetz, die Teilnahme an EU-Rüstungsagentur und Battlegroups bis hin zu Teilnahme an Militäreinsätzen bzw. Besatzungsmissionen (z.B. Afghanistan, Bosnien, Kosovo, Mali). Der letzte Paukenschlag war die Teilnahme an der EU-SSZ/Pesco, die zum Aufbau einer zentralen EU-Armee hinführen soll. Jede bisherige Regierung – egal ob schwarz, rot oder blau – hat größten Wert, auf die Teilnahme Österreichs an jedem weiteren Schritt der EU-Militarisierung gelegt. Diese schrittweise Demontage der Neutralität wurde freilich mit unablässigen Lippenbekenntnissen zu selbiger weggelogen. Die Beteiligung der Grünen ändert an dieser unseligen Tradition nichts. Im Gegenteil: Wir müssen mit weiteren Dammbrüchen rechnen.
  • Zunächst bekräftigt das Regierungsprogramm die „Sicherstellung der Erfüllung der eingegangenen internationalen Verpflichtungen, insbesondere EU-Verpflichtungen, einschließlich der Leistung eines militärischen Solidarbeitrags im Rahmen der gesetzlichen Bestimmungen“ (S. 228). D.h. nicht zuletzt die Umsetzung der EU-SSZ/Pesco, die Österreich mittelfristig zu einer Verdreifachung der Militärausgabe und zur Teilnahme an globalen EU-Militäreinsätzen verpflichtet; d.h. auch weiter EU- und NATO-Kriegsmaterialtransporte durch Österreich und den Ausbau von „panzerfitten Transportwegen“ uvm.
  • Auslandseinsätze sollen zu einem der Schwerpunkte des österreichischen Bundesheeres werden. „Mindesten 1.100 Soldaten“ sollen „als Dauerleistung für Auslandseinsätze“ bereitstehen (S. 228). Für diese Auslandseinsätze wird „ein gesamtstaatliches Auslandseinsatzkonzept unter Einbindung aller relevanten Ministerien erstellt und umgesetzt werden, um den gesamten Konfliktzyklus (Krisenprävention, Konfliktlösung, Mediation bis hin zur Friedenskonsolidierung) besser zu berücksichtigen.“ Das ist NLP vom Feinsten: Denn mit „gesamten Konfliktzyklus“ ist tatsächlich alles gemeint: vom Aufbauen der Drohkulisse über den Schießkrieg bis hin zur Besatzungsmission, um den Regimechange abzusichern.
  • Für diesen „gesamten Konfliktzyklus“ soll das Bundesheer mit der „Weiterentwicklung aller Teilstreitkräfte Land, Luft, Spezialeinsatzkräfte und der Cyberkräfte“ fit gemacht werden (S. 227). Die im Regierungsplan besonders angeführten Aufrüstungsprojekte – z.B. Drohnenkrieg, Cyberdefence, ABC-Abwehr – deckt sich weitgehend mit den Verpflichtungen, die Österreich im Rahmen der EU-SSZ/Pesco übernommen hat. Im 2. Halbjahr 2020 stehen bereits wieder über 600 österreichische SoldatInnen im Rahmen der EU-Battlegroups unter der Führung der deutschen Bundeswehr Gewehr bei Fuß, um auf Zuruf des EU-Rats innerhalb weniger Tage in Auslandseinsätze zu ziehen. Angepeilter Einsatzradius: 6.000 km rund um Brüssel.
  • Das Bundesheer soll auch verstärkt im Inneren „zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit“ (S. 227) eingesetzt werden. Einsätze gegen Streiks und Demonstrationen werden vom Heer ja bereits geübt („Crowd and riot control“).
  • Die österreichische Regierung wird sich auch für die massive Aufrüstung der FRONTEX-Einheiten zur Bekämpfung von Flüchtlingen im Mittelmeer einsetzen (S. 194). Menschenrechtsanwälte werfen Frontex vor, in den letzten Jahren für den Tod von 10.000 Flüchtlingen verantwortlich zu sein und das Mittelmeer zur tödlichsten Migrationsroute der Welt gemacht zu haben.
  • Die bisherigen Instrumente und Organisationen der EU-Militärpolitik sind der neuen Bundesregierung zu wenig. Die Regierung will sich für eine „verstärkte Zusammenarbeit im Bereich Sicherheit und Verteidigung auf europäischer Ebene“ (S. 177) einsetzen. Wer weiß, dass Spitzenvertreter von ÖVP und Grünen immer wieder für die Einrichtung einer EU-Armee unter zentralem Brüsseler Kommando eingetreten sind, weiß die Zielrichtung diese Erklärung zu deuten.
  • Dass sich die Regierung im Rahmen von EU-SSZ/Pesco „unter anderem für Projekte zur zivilen Krisenprävention und Konfliktlösung einsetzen“ (S. 177) will, hat wohl hinter den Kulissen für so manchen Schenkelklatscher bei den ÖVP-Verhandlern gesorgt, wie erfindungsreich die Grünen das Aufrüstungsmonster EU-SSZ/Pesco im pazifistischen Kuschelzoo präsentieren wollen. Im Regierungsprogramm findet sich auch die Absicht, „die Einrichtung eines österreichischen zivilen Friedensdienstes im Rahmen des Außenministeriums zu prüfen“ (S. 181). Das ist dem unermüdlichen Engagement von FriedensaktivistInnen zu verdanken. Ob es gelingt, dass solche „Friedensdienste“ auch tatsächlich ihrem Namen gerecht und nicht zum Feigenblatt oder sogar Instrument einer zunehmend militarisierten Außenpolitik werden, wird nicht weniger Engagement erfordern.

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  1. Außenpolitik
  • Der vielleicht größte Hammer findet sich im außenpolitischen Kapitel des türkis-grünen Regierungsprogramms. Zur Einstimmung wird mantraartig die Notwendigkeit eines „neuen EU-Vertrags“ wiederholt, um dann in einem Nebensatz die Katze aus dem Sack zu lassen, worum es der neuen Regierung dabei geht: „Annahme von Beschlüssen mit qualifizierter Mehrheit in zusätzlichen Bereichen (z.B. Außenpolitik)“. Die Einstimmigkeit im Bereich der Außenpolitik ist dem EU-Establishment insbesondere in Berlin und Paris schon seit langem ein Dorn im Auge. Denn klarerweise gilt: Eine imperiale Großmacht muss „mit einer Stimme sprechen und mit einer Faust zuschlagen können“. Der Leiter des EU-Think Tanks „Group on a grand Strategy“ und Berater des EU-Rats, James Rogers, hat die Quintessenz der EU auf eine knappe Formel gebracht: „Die Europäische Union muss ein Superstaat und eine Supernation werden, was sie dann wiederum in die Lage versetzt, eine Supermacht zu werden.“  Gleichberechtigung, Vielfalt und Kooperation stehen in EU-Europa nicht auf der Tagesordnung, sondern Zentralismus, Uniformität und Unterordnung. Das Vorbild für die „Vereinigten Staaten von Europa“ sind die „Vereinigten Staaten von Amerika“. Die EU-Mächtigen wissen: Ihrer Fähigkeit, andere Länder mit der geballten Wirtschafts- und Militärmacht erpressen und nötigenfalls bekriegen zu können, ist in der EU solange nicht voll entfaltet, solange das Einstimmigkeitsprinzip in der Außen- und Sicherheitspolitik nicht eliminiert ist. Dafür will sich die türkis-grüne Regierung nun auf die Schienen werfen. Sage niemand, die Grünen wären dabei von der ÖVP über den Tisch gezogen worden: Niemand geringerer als der eh. Grüne Langzeitchef und nunmehrige Bundespräsident Van der Bellen ist nie müde geworden, die „Vereinigten Staaten von Europa“ einschließlich einer zentralen EU-Armee zu fordern. Die von ihm unterstützte „Lubljana-Initiative“ ist ein abschreckendes Muster für eine solche autoritäre und waffenstrotzende EU-Weltmacht. Deshalb lässt Van der Bellen auch kaum eine Gelegenheit aus, eine eigenständige österreichische Außen- und Sicherheitspolitik als „Kleinstaaterei“ zu denunzieren. Präsident und Regierung wissen, dass ein souveränes und neutrales Österreich völlig unverträglich mit dem Mitmarschieren bei einer solchen EU-Großmacht ist. Jede ernsthafte Form der Neutralität erfordert politische Unabhängigkeit in der Außenpolitik. Diese ist schon jetzt mit den derzeitigen EU-Verträgen nicht mehr gegeben, mit der Aufhebung der Vetomöglichkeit in der Außenpolitik würde aber jede Form der Neutralität zu einer Farce verkommen.
  • Im Kapital Außenpolitik finden sich auch positive Ankündigungen, wie z.B. das Engagement für eine atomwaffenfreie Welt. Bei der Vorbereitung und Beschlussfassung des Atomwaffen-Verbotsvertrags im Jahr 2017 hat sich der damalige Außenminister Sebastian Kurz ja tatsächlich verdient gemacht. Doch gerade die Aufhebung des Einstimmigkeitsprinzips in der EU-Außenpolitik würde solche Initiativen in Zukunft unterlaufen. Österreich ist mit seiner Ablehnung von Atomwaffen in der EU ist einer klaren Minderheit. Die große Mehrheit der EU-Staaten hat gegen den Atomwaffen-Verbotsvertrag gestimmt; die Absicht der Eliten, die EU selbst zu einer Atomwaffenmacht zu machen sind unverkennbar. Die österreichische Regierung will sich also selbst entmündigen, um solche positiven Initiativen in Zukunft international nicht mehr lancieren zu können.
  • Wie ernst es der Regierung mit dieser Selbstentmündigung ist, unterstreicht folgendes Regierungsziel: „Innerhalb der Vereinten Nationen spricht die EU mit einer Stimme und erhält dazu auch einen gemeinsamen Sitz im UN- Sicherheitsrat“ (S. 179). Einen ärgeren Maulkorb kann man einer eigenständigen Friedens- und Neutralitätspolitik kaum umhängen. Dass sich die türkis-grüne Bundesregierung dazu bekennt, „die Sanktionen gegen Russland im europäischen Konsens“ mitzutragen (S. 182), unterstreicht den außenpolitischen Kotau gegenüber Brüssel, Berlin und Paris. Die Teilnahme an diesen EU-Sanktionen ist mit der Neutralität unvereinbar, verbaut Möglichkeiten einer aktiven Friedens- und Entspannungspolitik und sie ist voller Heuchelei und Doppelmoral.
  • Letzteres kennzeichnet auch die Haltung der neuen Regierung zum Israel-Palästina-Konflikt. Die Regierung setzt mehrfach Antisemitismus und Antizionismus auf eine Stufe. Wer das tut, verbaut nicht nur jede Aussicht auf einen gerechten Frieden in Israel/Palästina, er verwischt auch den Unterschied zwischen Rassismus und Anti-Rassismus. Zionismus unter den heutigen Machtverhältnissen läuft daraus hinaus, die Einrichtung eines dauerhaften israelischen Apartheidregimes zu legitimieren, in dem PalästinenserInnen dauerhaft zu BürgerInnen zweiter und dritter Klasse unter dem Stiefel einer dauerhaften Besatzungsmacht degradiert werden. Wer diese Politik unter dem Vorwand des Kampfes gegen den Antisemitismus rechtfertigt, schützt nicht das Judentum, sondern denunziert es. Der notwendige Kampf gegen den Antisemitismus wird damit ins Gegenteil verkehrt. Es ist kein Wunder, dass die rechtsextreme, in ihrem Kern zutiefst antisemitische FPÖ zu den größten Anhängern der israelischen Apartheidpolitik gegenüber den PalästinenserInnen gehört. Auf diese Weise kann der Holocaust auf den Schultern der PalästinenserInnen entsorgt, antimuslimische Herrenmenschendünkel bedient und Israel für die westliche Großmachtsinteressen im Nahen Osten instrumentalisiert werden.
  • Heuchelei und Doppelmoral finden wir auch an anderer Stelle im außenpolitischen Kapitel: So heißt es: „Derzeitiger Schwerpunkt bei der Humanitären Hilfe: Libyen, Jemen, Syrien und Nachbarländer“ (S. 188). Halten wir uns Augen: Österreich beteiligt sich an der EU-Mission EUNAVOR-Med „Sophia“ zur Unterstützung der libyschen Küstenwache, die zehntausende Flüchtlinge in libysche Flüchtlingslager unter Kontrolle von skrupellosen Warlords zurückschickt, in denen Folter, Vergewaltigung und Mord an der Tagesordnung sind. In Syrien unterstützt Österreich das drakonische Wirtschaftsembargo der EU, das dort zu Hungersnot und vielen Menschen das Leben kostet, weil lebensnotwendige Medikamente fehlen. Und in Jemen führt Saudi-Arabien einen grauenhaften Krieg, der eine humanitäre Katastrophe ersten Ranges ausgelöst hat – mit politischer Rückendeckung der EU und Österreichs, eingedeckt mit Waffen aus vielen EU-Staaten darunter auch Österreich. Nichts davon will die neue Regierung in Frage stellen. Das alles lässt auch die türkis-grüne Beteuerung, Österreich werde „sich für die Bekämpfung von Fluchtursachen vor Ort engagieren“ (S. 196) wenig glaubwürdig erscheinen.

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  1. Außenwirtschaft, Freihandel
  • Die Regierung bekräftigt das neoliberale EU-Freihandelsdogma:Unterstützung einer EU-Handelspolitik, die sich für umfassende internationale Handelsabkommen einsetzt. Österreich wirkt auf europäischer und internationaler Ebene protektionistischen Tendenzen entschlossen entgegen“ (S. 176).
  • Dazu gehört auch, dass die türkis-grüne Regierung die viel kritisierte Sonderjustiz zugunsten von Konzernen in Freihandelsabkommen nicht beseitigen, sondern in Form eines „multilateralen Investitionsgerichtshofs“ einzementieren will. Dafür will sich die neue Regierung „auf EU-Ebene in enger Abstimmung mit der EU-Kommission einsetzen“ (S. 90). Der Zweck dieser Paralleljustiz ist derselbe wie bei den privaten Schiedsgerichten: Ausländische Konzerne sollen die Möglichkeit haben, Staaten zu verklagen und zu Milliardenstrafzahlungen zwingen können, wenn sie sich durch soziale oder ökologische Maßnahmen in ihren Gewinnerwartungen enttäuscht sehen.
  • Freilich finden sich im Regierungsprogramm auch Bekenntnissen zu einer „fairen, ökologischen und sozialen Handelspolitik“. Doch dem Freihandel lassen sich nicht durch rhetorische Behübschungen die Giftzähne ziehen. Im Kern geht es beim Freihandel immer darum, dass die Schwachen gezwungen werden, mit den Starken in denselben Ring zu steigen – mit dem hinlänglichen bekannten Ergebnis.
  • Trotzdem deuten sich Änderungen in den Weltwirtschaftsbeziehungen an. Absehbar ist, dass unter dem Label „Klimaschutz“ die EU gegenüber anderen Wirtschaftsblöcken, vor allem China und den USA, zunehmend Handels- und Investitionsbarrieren errichten will. In diese Richtung zielt auch der „Green Deal“ der EU, der Ende 2019 proklamiert wurde. Es mehren sich die Anzeichen, dass die neoliberale Globalisierung in eine Phase globaler Blockkonfrontation driftet, wo darum gerungen wird, die imperialen Einflussräume wirtschaftlich und militärisch abzustecken. Auch das türkis-grüne Regierungsprogramm fordert den „Schutz europäischer Industrien“ ein.
  • Innerhalb des EU-Wirtschaftsraums bzw. gegenüber peripheren Staaten im Süden und Osten soll die Freihandelsknute aber ungehemmt weiter geschwungen werden. So verliert das türkis-blauen Regierungsprogramm auch kein Wort der Kritik an den verheerenden Freihandelsabkommen der EU mit afrikanischen Staaten (EPA, Tunesien, Marokko). Ebenfalls findet sich kein Wort zum EU-Vietnam- und EU-Singapur-Freihandelsabkommen, die brandgefährliche „Handelsausschüsse“ enthalten, mit denen diese Abkommen abseits der Parlamente im Konzerninteresse „weiterentwickelt“ werden können. Außerdem enthalten beide Abkommen Investitionsschutzabkommen, die noch in den nationalen Parlamenten – also auch im österreichischen Nationalrat – ratifiziert werden müssen.
  • Kritik wird ausschließlich am EU-Mercosur-Abkommen geübt, dem die Regierung „in der derzeitigen Form“ (S. 176) nicht zustimmen will. Eine Hintertür bleibt also offen. Außerdem muss dazu angemerkt werden, dass der Freihandelsteil dieses Abkommens keiner Einstimmigkeit auf EU-Ebene bedarf, also auch leicht gegen die Stimmen Österreichs durchgezogen werden kann.
  • Das türkis-grüne Regierungsprogramm setzt sich vehement für die Ausbau des Exports und die Stärkung der Exportindustrie ein. Damit werden die türkis-grünen Bekenntnisse zur Förderung von regionaler Kreislaufwirtschaft konterkariert.

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  1. Bildung und Wissenschaft
  • An der frühen Selektion im österreichischen Bildungswesen wird nicht gerüttelt, ebenso nicht am bestehenden System der Studiengebühren. Auch die gerade von den Grünen stark kritisierten getrennten Deutschklassen bleiben.
  • Eine wirkliche Verbesserung wäre, wenn das Versprechen der neuen Regierung schulisches Unterstützungspersonal (administrativ und psychosozial) bedarfsgerecht aufzustocken, damit sich Pädagoginnen und Pädagogen auf bestmöglichen Unterricht konzentrieren können“ (S. 235) in die Tat umgesetzt werden würde. Das gleiche gilt für die Ankündigung der Ausweitung der Nachmittagsbetreuung in den Schulen.
  • Die in den letzten Jahren immer stärker ausgeweiteten Zugangsbeschränkungen zu verschiedenen Studienrichtungen soll nicht zurückgenommen, sondern vielmehr „qualitätsvoll und fair weiterentwickelt werden, insbesondere in stark nachgefragten Studienrichtungen“ (S. 306)
  • Die Militarisierung von Hochschulen und Forschungseinrichtungen steht hoch oben auf der türkis-grünen Agenda
    • Verstärkte Zusammenarbeit des Militärs mit Bildungs- und Forschungseinrichtungen (S. 228)
    • „Beteiligung an europäischen Forschungsprojekten im Bereich der Verteidigungsforschung (z.B. European Defense Fund)“ (S. 228). Dieser EU-Rüstungsfonds ist mit 13 Milliarden Euro gespeist, 4,1 Milliarden dienen ausschließlich der Rüstungsforschung.
    • Gleichzeitig schreibt die EU-SSZ/Pesco vor, zumindest 2% der staatlichen Militärausgaben für Rüstungsforschung zweckzuwidmen.
  • Die Hierarchisierung der Hochschullandschaft soll durch die Herausbildung sog. „Exzellenzcluster“ und „Exzellenzinitiativen“ (S. 306) sowie „Austrian Chairs of Excellence“ (S. 308) weiter gefördert werden.

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  1. Überwachung
  • Sowohl unter der SP/VP- als auch unter VP/FP-Regierung kam es in den letzten Jahren zu einer deutlichen Ausweitung des Überwachungsstaats. Die Ankündigung auf Seite 10 "Wir wollen keine gläsernen Bürgerinnen und Bürger sondern einen gläsernen Statt" bleibt hohl. Zwar sollen etliche Schritte zu einem transparenteren Staat gesetzt werden, aber auch die Überwachungspolitik gegenüber den BürgerInnen setzt sich unter VP-Grün fort. Keine der Bespitzelungsmaßnahmen der Vorgängerregierung wird zurückgenommen, dafür weitere angekündigt:
    • So sollen die Behörden nach der Möglichkeit zur Bespitzelung von Personen in Räumlichkeiten und Wohnungen auch die Möglichkeit zur akustischen Bespitzelung von Personen in Fahrzeugen bekommen (S. 217).
    • Die Abfrage von Personen hinter einer spezifischen IP Adresse in Österreich soll künftig ohne Staatsanwalt oder Richtervorbehalt von der Polizei direkt erfolgen können: „Verpflichtung der Telekommunikationsanbieter, eine unverzügliche Abfragemöglichkeit des Anschlussinhabers durch die Polizei im Wege der Durchlaufstelle (BMVIT) jederzeit zu ermöglichen“ (S. 218), „Individualisierungspflicht für Netzbetreiber bei CG-NAT-Verwendung (Zuordnung einer eindeutigen IP Adresse) im Rahmen einer Anlassdatenspeicherung (Quick Freeze)“ (S. 218)
    • Vorratsdatenspeicherung für Zugewanderte: Im Rahmen des Visumsverfahrens sollen biometrische Merkmale (Fingerabdrücke, Gesichtsfotos, etc.) bis fünf Jahre nach Ausreise der Person gespeichert und für spätere Fahndung verwendet werden (S. 193).
    • Auch der vom Verfassungsgerichtshof gekippte „Bundestrojaner“ könnte eine Wiederauferstehung feiern: Prüfung der Schaffung einer verfassungskonformen Regelung zur Überwachung unter anderem für verschlüsselte Nachrichten im Internet unter Berücksichtigung des VfGH-Entscheids vom Dezember 2019“ (S. 216).
  • Festgehalten wird offensichtlich auch am Plan, dass die Polizei ab 2020 eine Gesichtserkennungssoftware nutzen kann, um Gesichter aus Videomaterial mit Bildern aus einer eigenen Referenzdatenbank im Nachhinein abzugleichen. In der Referenzdatenbank der Polizei sind lt. Sicherheitsbericht 2017 ca. 580.000 Personen erfasst. Die neue Gesichtserkennungs-Software ist auf bis zu 5 Millionen Bilder ausgelegt. Angesichts der zunehmenden Kameraüberwachung im öffentlichen Raum werden damit die Voraussetzungen für Massenüberwachung geschaffen. Shankar Narayan (American Civil Liberties Union) warnt: „Geschichtserkennung ist möglicherweise das perfekteste Werkzeug zur kompletten Regierungskontrolle in öffentlichen Räumen“.(Werkstatt-Blatt, 4/2019)
  • Kritisch zu sehen ist auch das Festhalten an der EDV-gestützten umfassende Bildungs- und Leistungsdokumentation über jede/n Bürger/in vom Kindergarten bis zum Ende der Schullaufbahn.
  • Ab 2020 will die Regierung auch die EU-Urheberrechtslinie umsetzen. Diese sieht u.a. sog. „Uploadfilter“ vor. Damit droht eine Einschränkung der Meinungsfreiheit und die Ausweitung von Überwachung im Netz, die dem Missbrauch für Zensur Tür und Tor öffnet. Freilich verspricht das Regierungsprogramm, bei der Umsetzung dieser EU-Richtlinie „auf den Schutz der Privatsphäre zu achten“ (S. 324). Der Datenschutzverein epicenter.works dazu lakonisch: Das ist ungefähr so, als würde die Bedienungsanleitung eines Flammenwerfers vor der Rauchentwicklung warnen. (https://epicenter.works)
  • Die Enthüllungen von Snowden haben gezeigt, dass die EU-Geheimdienste ihre BürgerInnen kaum weniger beschnüffeln als ihr US-amerikanisches Vis-a-vis. Da will die österreichische Regierung nicht draußen vor der Tür bleiben: Der internationale Informationsaustausch der Geheimdienste soll massiv ausgebaut werden (Stärkung und Ausbau der Interoperabilität der EU-Informationssysteme zur Steigerung der Sicherheit in Europa“, S. 221).
  • Unter dem Thema „Versammlungsfreiheit“ findet sich ein Passus, der – vorsichtig formuliert - in Richtung intensivierter Bespitzelung von sozialen Bewegung interpretationsoffen ist: „Einrichtung szenekundiger Beamtinnen und Beamten für soziale Bewegungen.“ (S. 214).

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14. Digitalisierung
  • Smart Meter: Der Rechnungshof hat Anfang 2019 in einem Bericht schonungslos aufgezeigt, wie sehr bei der Einführung der Zwangseinführung von des digitalen Strommessgeräts Smart Meter die Öffentlichkeit hinters Licht geführt und die Vielzahl von Risiken und Problemen unter den Tisch gekehrt wurden: z.B. Überwachung der StromkonsumentInnen, Verstoß gegen das Menschenrecht auf Privatsphäre, höhere Kosten, riesige Mengen Elektroschrott, Gefahr von Hackerangriffen. Mit der zwangsweisen Einführung von Smart Meter, die mittlerweile sogar mittels Stromabschaltungen durchgesetzt wird, wird das gesetzlich verbriefte Recht von Stromkunden auf ein echtes „Opting out“ mit Füßen getreten. Dieser Kritik des Rechnungshofes trägt das das türkis-grünen Regierungsprogramm in keiner Weise Rechnung getragen. Wieder einmal haben sich die Interessen Großindustrie durchgesetzt.
  • Die Regierung will die 5G-Vorreiterrolle weiter ausbauen und Anwendung für neue Technologien (autonomes Fahren, Internet of Things etc.) mit Telekom-Anbietern vorantreiben“ (S 317). Die Frage nach der gesellschaftlichen Sinnhaftigkeit dieses Milliardenprojekts und ob es nicht verantwortlicher wäre, vor der Einführung von 5G die gesundheitlichen Risiken und andere Nebenwirkungen umfassend zu beleuchten, wird nicht gestellt oder allenfalls am Rand gestreift. Bemerkenswerterweise wurde in der belgischen Hauptstadt Brüssel der 5G-Ausbau gestoppt. Die belgische Umweltministerin Céline Fremault von der christdemokratischen Zentrumspartei begründete das folgendermaßen: „Ich kann eine solche Technik nicht zulassen, wenn die Strahlungsstandards, die die Bürger schützen sollen, nicht beachtet werden – 5G hin oder her. Die Brüsseler sind keine Versuchskaninchen, deren Gesundheit ich aus Profitgründen verkaufen kann." (https://taz.de/Bruessel-bremst-5G-wegen-Strahlung/!5584878/). Was die christdemokratische Umweltministerin Belgien nicht kann, kann die neue christdemokratisch-grüne Regierung Österreichs mit rechts.
    (Jänner 2020)

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Quelle:
Aus Verantwortung für Österreich. Das Regierungsprogramm 2020 – 2024.