Österreich ist in Bezug auf die Todeszahlen und Erkrankungen im Vergleich zu anderen Staaten bisher relativ glimpflich durch die Coronakrise gekommen. Unabhängig ob jemand an oder mit Corona gestorben ist, lässt sich das anhand der sehr unterschiedlichen Entwicklung der Übersterblichkeit in den verschiedenen Staaten ablesen. Das gilt es anzuerkennen. Gleichzeitig lief und läuft vieles schief. Und es gilt Lehren aus dieser Krise zu ziehen. Wir stellen daher einige Fragen an die Regierung:


1. Warum hat die Regierung so lange nichts gemacht?

China informierte bereits Ende Dezember die WHO vor einer neuen Viruserkrankung. Ab Jänner wurde für die Öffentlichkeit immer deutlicher, welche Gefahr sich zusammenbraut. Trotzdem ist zwei Monate kaum etwas unternommen worden. Noch Mitte März landeten Flugzeuge aus Hochrisikoländern in Wien-Schwechat. Vergleichsweise harmlose frühzeitige Maßnahmen hätten möglicherweise geholfen, sich drastische spätere Maßnahmen zu ersparen. Das zeigt das Beispiel Taiwan, das schon ab 31 Dezember 2019 (!) Einreisende aus China auf Symptome einer Lungenentzündung untersuchte und damit die Erkrankungen extrem niedrig halten konnte. Freilich ist diese Frage auch an die Opposition und die Initiativen der Zivilgesellschaft (uns eingeschlossen) zu richten - niemand drängte auf rasche Maßnahmen, obwohl man bei einiger Aufmerksamkeit wissen hätte können, was auf uns zukommt.

2. Warum lässt die Regierung so viele Notleidende zurück?

Die Regierung hat angekündigt „niemanden zurückzulassen“. De facto lässt sie viele zurück: Viele der versprochenen Hilfen kommen – insbesondere bei Klein- und Mittelunternehmungen - nicht oder zu spät an. Warum sucht die Regierung noch immer bei jeder Beihilfe untertänig bei der EU-Kommission um Genehmigung an, ob wir mit unserem Geld den Menschen in Österreich helfen dürfen. Es sind schon etliche Beispiele bekannt, wo der Einspruch aus Brüssel zu Verzögerungen und Verringerungen von Hilfszahlungen geführt hat. Gerade jetzt erleben wir das wieder bei der Verlängerung des Fixkostenzuschusses. Für viele Unternehmen und viele Selbstständige bedeutet das wirtschaftliche Aus. Wann ist die Regierung endlich bereit, KMUs und EPUs ausreichend zu unterstützen, ohne sich von Brüssel gängeln zu lassen. Völlig zurückgelassen werden nach wie vor hunderttausende Arbeitslose, die auf eine viel niedrige Nettoersatzrate von 55% zurückfallen. Das bedeutet Massenarmut! Die Rechtfertigung von Bundeskanzler Kurz für dieses niedrige Arbeitslosengeld, dass man damit die Löhne in vielen Branchen (Tourismus, Erntehelfer…) niedrig halten könne, ist skandalös. Wann ist die Regierung endlich bereit, ihre Ankündigung „niemanden zurückzulassen“ ernst zu nehmen und Arbeitslosengeld und Notstandshilfe deutlich und dauerhaft anzuheben, statt Arbeitslose durch Einmalzahlungen abzuspeisen.

3. Ist die Regierung bereit, die „Deckelung“ der Gesundheitsausgaben zu beenden?

Wir haben eingangs erwähnt, dass wir respektieren, dass die Regierung einiges richtig gemacht hat, um die Corona-Todeszahlen niedrig zu halten. Das ist auch gelungen, weil im vergangenen Jahrzehnt nicht in dem Ausmaß im Gesundheitswesen gekürzt wurde, wie es die EU-Kommission in ihren ständen „Empfehlungen“ im Rahmen des „Europäischen Semesters“ eingemahnt hat. Aber: Auch in Österreich wurde im Gesundheitsbereich gekürzt: Im letzten Jahrzehnt ist die Zahl der Akutbetten um 4.550 gesunken, wurde 19 öffentliche Krankenanstalten geschlossen und hunderte Kassenarztstellen abgebaut. Eine AK-Studie hat ergeben, dass 40% der im Gesundheits- und Pflegebereich Arbeitenden burn-out gefährdet sind, weil es hinten und vorne an Personal fehlt. Viele Menschen müssen unerträglich lange auf medizinische Behandlungen warten. Hintergrund dafür ist die sog. „Deckelung der Gesundheitsausgaben“, die von Österreich eingeführt wurde, um von der EU-Kommission 2012/13 aus dem „Defizitverfahren“ entlassen zu werden. Corona hat gezeigt, wie wichtig ein gutes Gesundheitssystem ist, das nicht schon im Normalbetrieb an der Grenze arbeitet. Daher fragen wir Sie: Sind sie bereit, endlich die „Deckelung“ der Gesundheitsausgaben zu beenden, damit sich die Gesundheitsausgaben wieder am menschlichen Bedarf und nicht an technokratischen Obergrenzen ausrichten können? Diese „Deckelung“ ist in einer 15a-Vereinbarung zwischen Bund und Ländern festgehalten. Diese läuft noch bis 2021. Sind Sie bereit, diese „Deckelung“ 2021 auslaufen zu lassen, statt sie zu verlängern?

Das führt gleich zur nächsten Frage:

4. Ist die Regierung auch in anderen Bereich bereit, unserer Gesundheit stärker zu schützen?

Die Coronapandemie hat gezeigt, wie stark unsere Gesundheit auch von politischen Entscheidungen abhängig ist. Das gilt aber nicht nur für Viruserkrankungen. Einige Beispiele:

  • Laut AUVA sterben in Österreich Jahr für Jahr 1.800 Menschenan Krebs, der durch die Arbeit verursacht wurde. Diese Zahl könnte deutlich reduziert werden, wenn in Vorbeugung und Früherkennung investiert werden würde. Ist die Regierung daher bereit, die massiven Kürzungen im Bereich der Unfallversicherung zurückzunehmen, um solche Maßnahmen zu ermöglichen.
  • In Österreich scheiden nach wie vor rund 1.300 Menschen Jahr für Jahr durch Selbstmord aus dem Leben. Depressionen und Angsterkrankungen sind zu einer Volkskrankheit geworden. Ist die Regierung bereit, endlich Psychotherapie auf Krankenschein anzubieten, damit es nicht länger eine Geldfrage bleibt, ob jemand rechtzeitig Zugang zu professioneller Hilfe bekommt.
  • In Österreich verunglücken jährlich über 400 Menschen im Straßenverkehr, über 6.500 Menschen sterben jährlich vorzeitig an Erkrankungen, die durch Luftverschmutzung verursacht werden. Auch aus Gesundheitsgründen brauchen wir daher endlich eine umweltfreundliche Verkehrswende, denn ein Großteil der Luftverschmutzung stammt aus dem Autoverkehr! Studien haben zudem gezeigt, dass es eine Korrelation zwischen hoher Luftverschmutzung und erhöhter Mortalität durch Corona gegeben hat. Trotzdem plant die Regierung, in den nächsten Jahren, rund 20 Milliarden in den Aus- und Neubau von Megastraßen und Flugpisten zu investieren. Ist die Regierung bereit, dieses Geld in den Ausbau von Bahn, Bus, Bim, Rad und Fuß umzuleiten?
  • Österreich hat einen enormen Pflegenotstand. Viele Menschen können sich eine gute Pflege nicht leisten, für viele Menschen und ihre Angehörigen wird Pflege zur Armutsfalle bzw. zur familiären Zerreißprobe. Das schwächt auch unsere Gesundheit, gerade ältere Menschen, werden dadurch für Viruserkrankungen besonders anfällig. Wie kann es daher sein, dass der Gesundheitsminister eine Pflegeversicherung für diese Legislaturperiode „mit Sicherheit ausschließt“? Wir brauche endlich sofort die Einbeziehung der Pflege in die Sozialversicherung, damit alle Menschen Anspruch auf gute Pflegeleistungen unabhängig von ihrem sozialen Hintergrund haben.
  • Alle arbeitsmedizinischen Untersuchungen bestätigen: Überlange Arbeitszeiten schwächen unser Immunsystem, erhöhen Krankheitsrisiko und Unfallgefahr. Wann beendet die Regierung daher endlich das Experiment mit unserer Gesundheit namens 60-Stunden Arbeitswoche, 12-Stunden Arbeitstag und Aufweichung der Arbeitsruhe?
  • Wir gehören sicher nicht zu jenen, die daran glauben, dass sich das Corona-Virus durch 5G verbreitet. Aber es gibt viele Mediziner, die davor warnen, dass 5G negative Auswirkungen auf unsere Gesundheit haben kann und es noch viel zu wenig wissenschaftliche Forschung gibt, die es erlauben würden, hier grünes Licht zu geben. Selbst eine Studie, die vom österreichischen Parlament 2019 in Auftrag gegeben wurde, kommt nun zu diesem kritischen Ergebnis. Aus diesem Grund hat z.B. Slowenien ein 5G-Moratorium erlassen, bis die Frage der Auswirkungen von 5G auf unsere Gesundheit ausreichend wissenschaftlich untersucht wurde. Sind Sie bereit, dem Beispiel Sloweniens zu folgen?
  • Die Vorgängerregierung hat die Selbstverwaltung der ArbeitnehmerInnen in ihrer eigenen Krankenversicherung zerschlagen und „Reformen“ beschlossen, die die soziale Krankenversicherung finanziell aushungern. Sind Sie bereit, diesen Fehler der Vorgängerregierung zu korrigieren?
  • Armut macht krank. Arme leben im Durchschnitt deutlich kürzer als Reiche. Menschen, die in prekären Arbeits- und Wohnverhältnissen leben, sind auch von Pandemieerkrankungen am härtesten betroffen. Das führt wieder zu Frage 2 zurück (Soforthilfen, Erhöhung des Arbeitslosengeldes) und darüber hinaus: Wir brauchen anständige Mindestlöhne, von denen man leben kann, eine existenzsichernde Mindestsicherung statt „Sozialhilfe neu“, eine soziale Wohnbauoffensive, die Bekämpfung prekärer Arbeitsverhältnisse uvm.

5. Warum spielt die Regierung den Schutz unserer demokratischen Grundrechte gegen den Gesundheitsschutz aus?

Schon im April haben wir kritisiert: Die Regierung befreite zwar die Wirtschaft aus dem Lockdown, unsere Grund- und Freiheitsrechte wollte sie aber in selbigem belassen. Es erforderte viel Engagement, dass sich die Zivilgesellschaft ab Mai das Recht auf Versammlungsfreiheit wieder zurückerkämpfen konnte. Doch bis heute bleibt die Lage prekär. Neue Gesetzesbestimmungen schaffen Raum für willkürliche Entscheidungen. So etwa hat der Linzer Bürgermeister mit Verweis auf die novellierten Bestimmungen im Epidemiegesetz erst vor Kurzem eine mobile Klimademonstration untersagt. Covid diente ihm als Vorwand, um Proteste gegen den klimafeindlichen Autoverkehr abzuwürgen. Eine Beraterin von Bundeskanzler Kurz kündigte schon vor dem Sommer an, dass uns Maßnahmen „an den Grenzen des demokratischen System“ ins Haus stünden. Dazu gehört offensichtlich auch das geplante Covid-19 Gesetz, das dem Gesundheitsministerium eine bedrohliche Machtfülle verschaffen soll, das Versammlungsrecht in hohem Maß willkürlich einzuschränken, ja auszuhebeln. Wir brauchen sowohl Freiheitsrechte als Gesundheitsschutz. Die Erfahrung zeigt: Bei Einhaltung bestimmter Regeln ist das möglich. Daher: Mundschutz (wo sinnvoll) ja – Maulkorb nein!

6. Welche Lehren zieht die Regierung aus dem Versagen der EU?

Um den tiefen wirtschaftlichen Einbruch und die sich ausbreitende Sozialkrise zu rechtfertigen, wird die Coronakrise mittlerweile mit einem Weltkrieg verglichen. Mit Verlaub: Das ist völliger Unsinn. Wenn rund 20 bis 30% der Wirtschaft für 1 ½ bis 2 Monate in den Lockdown gehen, dann hat das mit einem Krieg, wo unendlich viel dauerhaft zerstört und ausgelöscht wird, gar nichts zu tun. Es sagt aber viel über die Beschaffenheit von Gesellschaft und Politik aus, wenn sie nicht in der Lage ist, diesen kurzzeitigen Einbruch rasch und entschieden aufzufangen und umzukehren. Eine Politik, die über das volle Instrumentarium einer souveränen Wirtschaftspolitik – v.a. Fiskal-, Geld-, Industrie-, Außenwirtschaftspolitik – verfügt, könnte dazu jedenfalls in der Lage sein. Die EU-Staaten verfügen über diese Souveränität nicht. Das ist ein wesentlicher Grund, warum sich diese Pandemie in vielen EU-Staaten zu einer wirtschaftlichen und sozialen Katastrophe auswächst. Der sog. EU-Wiederaufbaufonds („Next Generation Fonds“) ist bestenfalls ein Feigenblatt für die tiefen Wunden, die die Währungsunion in Ländern wie Italien geschlagen hat und weiter schlagen wird. Länder wie Italien können dadurch bestenfalls auf 1% bis 2% jener Gelder hoffen, die sie zuvor durch die fatalen Auswirkungen der Währungsunion in den letzten beiden Jahrzehnten verloren haben. Dieses Feigenblatt dient dazu, diese EU-Fehlkonstruktion beizubehalten. Mehr noch: Dieser WAF stärkt erst recht die Macht der EU-Technokratie, die mit ihren neoliberalen Vorgaben die Gesundheitssysteme etlicher EU-Staaten regelrecht ruiniert hat.

Die Coronakrise hat schonungslos offengelegt: Die EU ist ein Projekt, das den permanenten Wirtschaftskrieg einzementiert hat. Das führt zu einer immer größeren Ungleichheit zwischen den Mitgliedsstaaten und innerhalb dieser. Dieses Konkurrenzregime spaltet statt zu verbinden. Das hat die EU-Staaten und ihre Gesundheitssystem verletzlich für diese Krise gemacht, das hat in der Krise ein widerlich unsolidarisches Verhalten zwischen ihnen provoziert, das raubt ihnen die Fähigkeit, einen sozialen, ökologischen und demokratischen Ausweg aus der Krise zu finden. Die Ungleichheit wird sich beschleunigen.

Die Frage, welche Konsequenzen aus diesem fundamentalen EU-Versagen zu ziehen ist, richtet sich freilich nicht nur an die Bundesregierung.

Lesetipp:
Broschüre: "Coronakrise - Gefahren, Lehren & Ausblicke"
Hg.: Solidarwerkstatt Österreich
Weiterlesen