David Stockinger nahm an den Feierlichkeiten zum 80-jährigen Jubiläum der Befreiung Belgrads teil. Ein Jubiläum vor dem Hintergrund geopolitischer Brüche - und eine emotionale Begegnung mit einem 100-jährigen Partisanen.
Ich hatte die Ehre und Freude auf Einladung des „Belgrader Forums für eine Welt der Gleichen“, der serbischen Partnerorganisation der Solidarwerkstatt Österreich im Weltfriedensrat, an den Veranstaltungen und Feierlichkeiten zum 80-jährigen Jubiläum der Befreiung der seinerzeitigen jugoslawischen, heute serbischen Hauptstadt Belgrad im Oktober 1944, teilzunehmen.
Hierfür markiert der 20. Oktober den Tag, an dem Belgrad durch die Jugoslawische Volksbefreiungsarmee unter dem Befehl von Peko Dapčević und der Roten Armee unter dem Befehl von Fjodor Tolbuchin und Wladimir Schdanow von der deutsch-faschistischen Okkupation befreit wurde. Die sogenannte „Belgrader Operation“ dauerte insgesamt mehrere Wochen und stellte einen wichtigen Schritt zur endgültigen Befreiung ganz Jugoslawiens dar, weil gleich nach Vertreibung der Okkupanten die neue jugoslawische Regierung ihre Geschäfte in der Hauptstadt aufnehmen und so auch ein wichtiges moralisches Signal für die weiteren Kämpfe senden konnte. Die Opfer der jugoslawischen Zivilbevölkerung waren enorm. Genau wie gegen die Sowjetunion wurde in Jugoslawien ein Vernichtungskrieg gegen „slawische Untermenschen“ seitens der deutschen Faschisten geführt. Ganz perfide unter Ausnutzung der politisch-ethnischen Bruchlinien zwischen den südslawischen Völkern, was auch zur Etablierung des faschistischen „Unabhängigen Staates Kroatien (NDH)“, inklusive dessen Genozid am serbischen Volk, Roma und Juden führte. Besonders im direkt von der deutschen Wehrmacht verwalteten Serbien zeichnete sich die Besatzung durch große Verbrechen an der serbischen Zivilbevölkerung aus, wie uns u.a. die Massaker von Kragujevac und Kraljevo vor Augen führen. Jugoslawien verlor im 2. Weltkrieg ca. eine Million Menschen.
Politische und persönliche Dimension des Gedenkens
Als Friedens- und Neutralitätsaktivist, der gerade durch die völkerrechtswidrige NATO-Aggression gegen die damalige Bundesrepublik Jugoslawien- damals als junger Sozialist- stark politisiert wurde und seither gerade mit den Serbinnen und Serben (u.a. im Kosovo) in einem solidarischen und humanitären Austausch steht, war es mir besonders wichtig, in diesen Tagen in Belgrad zu sein. Zumal bei mir auch eine starke persönliche Dimension mitspielt. Mein Großvater, der im Jänner 2025 seinen 98. Geburtstag feiert, war als blutjunger 17-jähriger Soldat der deutschen Wehrmacht im besetzten Jugoslawien von November 1944 bis Mai 1945 im Fronteinsatz. Als Angehöriger des Gebirgsjäger-Reserveregiments 139 war er an den Rückzugsgefechten beteiligt und wurde Anfang Mai 1945 bei Karlovac von Partisanen gefangen genommen. Er verbrachte daraufhin 3 Jahre in jugoslawischer Kriegsgefangenschaft, u.a. in Pula, Skopje und schließlich in Belgrad (sh. Foto: Bescheinung des Lagers Skopje). Er musste im Wiederaufbau und in der Landwirtschaft arbeiten. Immer wieder erwähnt er, dass ihn die Jugoslawen korrekt behandelt hätten, er lernte auch die serbische Sprache. Seine Lehre aus dieser Zeit: Nie wieder Krieg, es war genug! Diesen Auftrag, besonders für gute Beziehungen zwischen Österreichern und Serben einzutreten, nahm und nehme ich mir sehr zu Herzen.
Berücksichtigt man die gemeinsame blutige Geschichte des 1. und 2. Weltkriegs, so müssen wir heute alles daransetzen, dass unsere Völker als gute Nachbarn gemeinsam an einer friedlichen und souveränen Zukunft bauen. Somit war diese Reise auch eine gute Gelegenheit, symbolisch „Danke“ für die korrekte Behandlung meines Großvaters zu sagen. Wäre es anders gewesen, wäre ich heute wahrscheinlich nicht auf der Welt.
Junge Bewahrer des antifaschistischen Geistes
In den Tagen rund um den 20. Oktober gab es eine Vielzahl an Gedenkveranstaltungen, Konferenzen und Feierlichkeiten von staatlichen Institutionen, Verbänden, Vereinen und Kulturorganisationen. In der „Grundschule 20. Oktober“ in Novi Beograd organisierten die Schülerinnen und Schüler gemeinsam mit dem Lehrkörper und dem Verband der Kämpfer und Antifaschisten (SUBNOR) Novi Beograd ihre traditionelle Gedenkveranstaltung, in der die Kinder in Theaterstücken, Musikbeiträgen und Gedichten die Zeit der Okkupation der Stadt und deren Befreiung darstellten. Es war sehr beeindruckend, wie engagiert und begeistert die Kleinen hier wirkten. In meinem Gespräch mit dem Hauptorganisator des Projekts „Kultur der Erinnerung Novi Beograd“ Ranko Spalevic erfuhr ich viele Details der Arbeit der Vereinigung in Novi Beograd und über das großartige ehrenamtliche Engagement der Beteiligten. Ranko sagte mir stolz: „Wir, und besonders diese Schule, sind die Bewahrer des antifaschistischen Geistes! Leider gibt es jedoch nicht mehr viele Schulen in Serbien, die diesem Auftrag nachkommen.“
Kampf gegen Geschichtsfälschung
Eine wissenschaftliche Konferenz höchsten Ranges - unter Beteiligung serbischer Ministerien, des Historischen Instituts Belgrads, der Akademie der Wissenschaften der Russischen Föderation und des Beoforums - fand im Russ. Kulturinstitut in Belgrad statt. Unter dem Titel „Erinnerungskultur und Pflege der historischen Wahrheit“ sprachen Politikwissenschaftler, Historiker, ehemalige Diplomaten und Militärs zur Bedeutung der „Belgrader Operation“, der antifaschistischen Traditionspflege, der sich seit einigen Jahren in Europa vollziehenden Geschichtsverdrehung und der nötigen Verteidigung der historischen Wahrheit über den 2.Weltkrieg.
Konkret wurde auch auf den von EU-Institutionen betriebenen Geschichtsrevisionismus eingegangen. Laut eines Beschlusses des EU-Parlaments von 2019 hätten ja Nazi-Deutschland und die UdSSR gleichermaßen Schuld am 2. Weltkrieg, Faschismus und Realsozialismus/Kommunismus seien gleichermaßen als „totalitär“ abzulehnen. Gegen diese Narrative und politisch-bedingte Geschichtsverdrehung sprachen sich alle Rednerinnen und Redner vehement aus. Es dürfe nicht sein, dass die Befreier von Auschwitz und Jasenovac und deren Betreiber, Verteidiger sowie Freiheitskämpfer einerseits und Okkupanten und Imperialisten andererseits gleichgesetzt werden, wie es Zivadin Jovanovic, ehemaliger Außenminister der Bundesrepublik Jugoslawien und Präsident des Beoforums, formulierte. Unterstrichen wurde das antifaschistische Erbe, das gerade für das serbische wie auch russische Volk eine Verpflichtung darstelle. Bei dieser Konferenz spiegelten sich die zunehmenden Unterschiede zwischen „Ost und West“, sowohl was die Geschichtsauffassung als auch deren politisch motivierte Neuinterpretation als Teil realpolitischer Auseinandersetzungen im Hier und Heute betrifft, wider.
Zwischen rotem Stern und orthodoxem Kreuz
Der 20. Oktober startete mit einer Kranzniederlegung serbischer Regierungsstellen und den Botschaften der GUS-Länder beim „Denkmal für die Befreier Belgrads“ (sh. Foto). Das Denkmal wurde für die vielen Gefallenen der Jugoslawischen Volksbefreiungsarmee und der Roten Armee errichtet. Kränze westlicher diplomatischer Vertretungen, auch der österreichischen oder deutschen, wären mir nicht aufgefallen. Einige tausend Menschen versammelten sich nach dem offiziellen Teil der Delegationen und zogen im Rahmen des „Unsterblichen Regiments“, mit Bildern von Vorfahren, die im Rahmen der Befreiung des Landes gekämpft haben, durch die Innenstadt zum Platz der Republik. Hierbei kam es zu durchaus bemerkenswerten Szenen. Nachfahren von Partisanen gingen mit alten jugoslawischen Fahnen mit dem roten Stern und Partisanenkappen im gleichen Demozug wie klerikal orientierte Menschen, die sich durch die Orthodoxie mit Russland verbunden fühlen.
Als Kenner des Landes und der Menschen fiel mir sofort auf, dass auch viele Parteigänger der Vucic-SNS zugegen sind. Die SNS kommt ursprünglich aus einer national-serbischen Tradition, die historisch ideologisch als Antipode zu den serbischen Kommunisten/Sozialisten stand. Vor dem Hintergrund der guten partnerschaftlichen Beziehungen zu Russland und der sowjetischen Rolle bei der Befreiung der Stadt, der neuen Teilung Europas, in der Serbien als letztes Land eine echte neutrale Position einnimmt und der Tatsache, dass weiterhin ein großer Teil der Bevölkerung Serbiens eine positive Assoziierung zu antifaschistischer Befreiung und auch sozialistischer Zeit hat, ist auch die SNS-dominierte Regierung mehr oder minder gezwungen, diesen Tag feierlich zu begehen und veranlasste Vucic sogar dazu, in den Medien über die Jugoslawische Volksbefreiungsarmee von „unserer Armee“ zu sprechen.
Trotz der auch in Serbien existierenden geschichtsrevisionistischen Tendenzen können solche Feierlichkeiten immerhin stattfinden und werden von offizieller Seite unterstützt, während in anderen osteuropäischen Ländern dies inzwischen leider tabu ist. Der Ausklang des „Unsterblichen Regiments“ fand dann am Platz der Republik mit einem großen Konzert statt. Gemeinsam mit meinem alten Freund, dem bekannten Philosophen Ljubodrag „Duci“ Simonovic und seiner Tochter, der sozialistischen Parlamentsabgeordneten Dunja Simonovic-Bratic, konnte ich mich sehr gründlich über ihre Einschätzungen zu Geschichtsrevisionismus und antifaschistischem Erbe unterhalten.
Emotionale Begegnung
Schlussendlich kam ich noch einer Einladung zur feierlichen Konferenz des Verbandes der Kämpfer des Volksbefreiungskrieges (SUBNOR) nach. In Belgrad leben aktuell noch 350 alte Partisanen, SUBNOR hat in Belgrad 15.000 Mitglieder. Nach der Konferenz hatte ich wahrscheinlich die letzte Möglichkeit, mit noch lebenden ehemaligen Partisanen zu sprechen. Einer von ihnen war der 100-jährige Ante Dadic (siehe Foto). Ante kämpfte bereits ab 1942 in den Reihen der Partisanenarmee und ist heut der letzte noch lebende Kämpfer der „1. Proletarischen Division“. Er kämpfte in den Schlachten an der Neretva und Sutjeska, wo er auch verwundet wurde, und schließlich bei der Befreiung Belgrads und an der Srem-Front. Ich erzählte ihm die Geschichte meines Großvaters, die ihn sehr berührte. Ich solle meinem Großvater seine „herzlichsten Grüße“ überbringen. Im Namen aller anständigen Österreicher dankte ich ihm nicht nur für seine Leistungen bei der Befreiung seines Landes, sondern auch für den Beitrag zur Befreiung Europas vom Faschismus.
In diesen Tagen in Belgrad konnten sich einige politische Annahmen meinerseits verfestigen: Trotz aller unterschiedlichen Interpretationen und Bewertungen der inneren jugoslawischen Entwicklung nach 1945 und trotz der Kritik an konkreten Entscheidungen Titos, die man auch bei kommunistisch/sozialistisch orientierten Menschen in Serbien immer wieder hört, stehen drei wesentliche Punkte außer Frage:
- Die (Selbst-)Befreiung Serbiens und Jugoslawiens ist maßgeblich der Volksbefreiungsarmee zu verdanken, Serbien hat das antifaschistische Erbe zu wahren.
- Der neue Staat schaffte nach der Befreiung ein bisher noch nie dagewesenes Sozialsystem und Mitbestimmung für die arbeitenden Klassen. Wertvolle Erfahrungen an denen heute im Kampfe für soziale Gleichheit angeknüpft werden kann.
- Der Weg der Unabhängigkeit und Blockfreiheit des alten Jugoslawiens ist ein konkret-nützliches Erbe, auf dem heute ein neutrales und selbstbestimmtes Serbien aufbauen kann.
David Stockinger
(November 2024)