ImageWIFO-Ökonom Stephan Schulmeister ruft in einem Artikel im Falter zum Widerstand gegen den EU-Fiskalpakt auf: "Juris­ten nen­nen Nor­men, wel­che nicht mehr anwend­bar sind, „totes Recht“. Beim Fis­kal­pakt han­delt es sich um eine „Tot­ge­burt in spe“. Aller­dings: Bis zur Aus­stel­lung des Toten­scheins kann die­ser Unsinn enor­men Scha­den anrich­ten. Seine Rati­fi­zie­rung in den natio­na­len Par­la­men­ten zu ver­hin­dern, ist der Bür­ge­rIn­nen erste Pflicht."


Stephan Schulmeister

EU-Fiskalpakt: Das programmierte Desaster


Als die 25 StaatenlenkerInnen den EU-Fiskalpakt unterzeichneten, haben sie seine Folgen nicht begriffen. Das Ziel war doch so klar - Schluss mit dem Schuldenmacherei! – und die Regeln doch so einfach:

 • Jeder Vertragsstaat darf nur mehr ein strukturelles (konjunkturbereinigtes) Haushaltsdefizit von maximal 0,5% des BIP aufweisen (Defizitkriterium).

• Jedes Jahr muss die Staatsschuld um ein Zwanzigstel der Differenz zwischen der aktuellen Schuldenquote und dem Zielwert von 60% abbauen (Schuldenkriterium).

• Jedes Vertragsland kann ein anderes beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) wegen Regelverletzung anzeigen, dieser prüft und verhängt Strafen.

Die Folgen: Nach dem Defizitkriterium muss etwa Spanien sein Defizit von 8,5% des BIP so rasch wie möglich beseitigen. Vereinbart sind mit der Europäischen Kommission Zielwerte von 5,4% (2012) und 3,0% (2013). Angesichts der schweren Rezession (das BIP schrumpft heuer um 2%) und extrem hoher Arbeitslosigkeit verschlimmert das Sparen die Lage immer mehr.

Annahme: Eine Defizitreduktion um einen BIP-Prozentpunkt reduziert das BIP in gleichem Ausmaß (Multiplikator = 1), gleichzeitig kommt die Inflation zum Stillstand (nicht zuletzt infolge sinkender Löhne). Dann wird das nominelle BIP durch die Sparpolitik 2012 und 2013 um jeweils 5% schrumpfen. Wird das Sparziel (dennoch) erreicht, so müsste Spanien nach dem Defizitkriterium des Fiskalpakts nicht weiter sparen, obwohl das Gesamtdefizit noch immer 3% beträgt.

Grund: Das aktuelle BIP läge 2013 um mehr als 5% unter dem Potentialoutput (wegen des durch die Sparpolitik vertieften Wirtschaftseinbruchs), die Konjunkturkomponente des Gesamtdefizits wäre zumindest 2,5%, das konjunkturbereinigte („strukturelle“) Defizit also kleiner als 0,5% des BIP.

Nun aber entfaltet das Schuldenkriterium seine Wirkung. 2012 und 2013 steigt die spanische Staatsschuldenquote (Relation der Schulden zum BIP) von 70% auf fast 90% (!). Dazu tragen die Budgetdefizite 8,4 BIP-Prozentpunkte bei (5,4 plus 3,0). Noch stärker ins Gewicht fällt die Schrumpfung des BIP (des Nenners) um 10%. Folge: Nach dem Schuldenkriterium muss Spanien jetzt 20 Jahre lang Jahr 1,5% des BIP einsparen (1/20el von 90% minus 60%).

Verordneter Weg in die Depression

Fazit: Die „Verzahnung“ von Defizit- und Schuldenregel im Fiskalpakt verordnet (fast) allen EU-Ländern den „griechischen Weg“ in die Depression. Sparmaßnahmen reduzieren zwar das Defizit, aber gleichzeitig das BIP, die Staatsschuldenquote steigt, und das erzwingt ein (nahezu) permanentes Sparen. Der europäische Sozialstaat wird so konsequent stranguliert. Das hat der EZB-Chef Draghi richtig erkannt.

Beispiel Italien: Die Staatsschuldenquote beträgt 120%, Italien müsste also 20 Jahre lang 3% des BIP einsparen, Jahr für Jahr…… Wichtig: Die für das Europäische Sozialmodell verheerende Wirkung des Fiskalpakts liegt nicht in der viel diskutierten Schuldenbremse nach deutschem Vorbild (= Defizitkriterium), sondern im Schuldenkriterium - über dieses ist kaum berichtet, geschweige denn öffentlich diskutiert worden. Danach müssen nämlich alle wichtigen EU-Länder permanent und gleichzeitig konsolidieren. Wer so etwas beschließt, hat das 1 mal 1 der Makroökonomie nicht begriffen.

Ein weiterer Fundamentalfehler: Die Zielgröße einer Schuldenquote von 60%. Dieser Wert hatte 1992 als Teil der Maastricht-Kriterien seine Berechtigung. Damals glaubte man, (nominelle) BIP würde langfristig um 5% pro Jahr steigen. In diesem Fall konvergiert die Staatsschuldenquote gegen den Wert von 60%, wenn das Budgetdefizit permanent bei der Maastricht-Obergrenze von 3% des BIP liegt (3/5=0,6).

Tatsächlich ist aber das nominelle BIP der Euroländer seit 1992 lediglich um 3,5% pro Jahr gestiegen. Daraus ergäbe sich ein höherer Grenzwert der Staatsschuldenquote, nämlich 86% (3/3,5). Soll aber das Gesamtdefizit mittelfristig nur 0,5% des BIP betragen wie im EU-Fiskalpakt vorgesehen, dann dürfte der Zielwert der Staatsschuldenquote nur bei 14% liegen (0,5/3,5). Italien müsste dann 20 Jahre lang seine öffentlichen Schulden um 5,3 BIP-Prozentpunkte pro Jahr abbauen.

Vernaderung als Solidaritätsbekundung

Komplettiert wird der Pakt durch den (Vernaderungs)Artikel 8: Demnach werden Strafverfahren gegen „Zuwenig-Sparer“ (nur) durch (wechselseitiges) Anzeigen der Vertragsländer beim EuGH initiiert. Das Gericht kann dann Strafen bis zu 0,1% des BIP verhängen (etwa 300 Mill. € im Fall von Österreich). Vernaderung als Solidaritätsbekundung.

Allerdings müssten die Richter ein mehrjähriges Ökonomiestudium nachholen, um die diffizilen Fragen überhaupt zu verstehen, die beim Versuch einer Quantifizierung von Potentialoutput und strukturellem Defizit auftreten. Die Wirtschaftswissenschafter haben dazu trotz jahrzehntelangem Bemühen keine einheitlichen Antworten finden können.

Endgültig als Farce erkennbar wird der Pakt daran, dass er ja gar nicht Teil des EU-Rechts ist (weil England und Tschechien nicht mitmachen). Daher können die 25 Partner auch keine EU-Institutionen wie EuGH oder Kommission mit Pakt-Aufgaben betrauen. Vielmehr müssten sich die 25 Länder als europäischer Sparverein konstituieren („Die 25-er“), der seine eigenen Organe bildet, etwa auch ein Schiedsgericht.

Totgeburt in spe

Juristen nennen Normen, welche nicht mehr anwendbar sind, „totes Recht“. Beim Fiskalpakt handelt es sich um eine „Totgeburt in spe“. Allerdings: Bis zur Ausstellung des Totenscheins kann dieser Unsinn enormen Schaden anrichten. Seine Ratifizierung in den nationalen Parlamenten zu verhindern, ist der BürgerInnen erste Pflicht.

Stephan Schulmeister ist Wirtschaftsforscher in Wien
(erschienen in FALTER, 12/2012)