ImageRegierung, Industriellenvereinigung und Medien bejammern Budgetlöcher und explodierende Staatsausgaben. Ein Realitätscheck zeigt: Explodiert ist etwas ganz anderes.

 

Angesichts der skurrilen Debatte um das „Budgetloch“ können wir es uns zunächst leicht machen. Wir zitieren, was wir vor den Wahlen geschrieben haben: „Laut Strategiebericht (des Finanzministeriums, Anm. d. Red.) soll die öffentliche Ausgabenquote am BIP in Österreich von 2010 bis 2017 um 4% sinken. Zur Veranschaulichung: Minus 4% heißt minus 13 Milliarden, die jährlich an öffentlichen Leistungen fehlen. Das entspricht in etwa der Hälfte der öffentlichen Gesundheitsausgaben. Gleichzeitig beteuern die beiden ‚Pinoccios’ Faymann und Spindelegger im Vorwahlinterview, dass es ‚mit uns kein Sparpaket’ geben wird (OÖN, 28.06.2013). Eine dauerhafte Absenkung um 4% bzw. 13 Milliarden, das bedeutet Sparpakete Jahr für Jahr – ohne ein Ende in Sicht.“ (zit. nach Werkstatt-Blatt 2/2013)

Im besagten „Strategiebericht des Finanzministeriums zum Bundesfinanzrahmengesetzt 2014-2017“, der bereits im April 2013 vom Nationalrat abgesegnet wurde, steht auch wortwörtlich zu lesen, warum bei den öffentlichen Leistungen die Axt angelegt werden soll: Weil es die neuen EU-Vorschriften so gebieten. Feinsäuberlich werden diese im Strategiebericht aufgelistet: Fünf Richtlinien und eine Verordnung des sog. EU-Sixpack (2010), der EU-Fiskalpakt (2012) und zwei Verordnungen des EU-Twopack (2013).

Die „Budgetloch“-Debatte hat also einen wohlkalkulierten Zweck: das Weichklopfen der Bevölkerung für das, was man vor den Wahl bereits tun, aber mit Rücksicht auf die negative PR-Wirkung nicht laut sagen wollte.

Keine explodierenden Staatsausgaben

Was ist nun wirklich dran am Wehklagen von Regierung, Industriellenvereinigung und Medien über die angeblich explodierenden Staatsausgaben. Wir werfen einen Blick in das Datenmaterial der Statistik Austria. Besonders ins Visier sind z.B. die Bundeszuschüsse zu den Pensionen gekommen. Ja, diese tatsächlich angestiegen, von 3,9 Mrd. im Jahr 1995 auf 7,3 Mrd. im Jahr 2012. Klingt viel, sagt aber wenig aus, wenn man es nicht ins Verhältnis zur Wirtschaftsleistung des Landes setzt. Tun wir das, stellen wir verblüfft fest: Der angeblich so explodierende Pensionsbeitrag ist von 2,21% (1995) auf 2,37% (2012) gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) gestiegen. Zwischenzeitlich ist er sogar deutlich zurückgegangen auf 1,6% (2007). Explosion schaut anders aus. Oder die öffentlichen Gesundheitsausgaben, die ja angeblich ebenfalls aus dem Ruder laufen. Deshalb wurde ja sogar eine eigene „Gesundheitsreform“ zu Beginn des Jahres beschlossen, um diese – per Staatsvertrag zwischen Bund und Länder – zu „deckeln“. Die Zahlen der Statistik Austria sprechen eine andere Sprache: Ein moderates Wachstum von 7,2% (1994) auf 8,2% (2011) gemessen am BIP innerhalb von 17 Jahren. Ein weiterer großer Brocken sind die Bildungsausgaben. Deren Anteil am BIP soll nach dem Willen des „Strategiebericht des Finanzministeriums“ bis 2017 BIP zurückgeschraubt werden. Sind vielleicht die Bildungsausgaben in den letzten Jahren „explodiert“? Mitnichten: Ihr Anteil am BIP ist gefallen, von 6,2% (1995) auf 5,6% (2012). Schauen wir uns einen weiteren Posten an, der für viele von uns sehr wichtig ist: Die Investitionen der Gemeinden. Hier handelt sich es um Leistungen, die wir tagtäglich brauchen und schätzen: Schulgebäude, Kindergärten, Müllabfuhr, Öffentlicher Nahverkehr, Pflegedienste, Kultur- und Sporteinrichtungen, uvm. Wir reiben uns die Augen. Diese sind noch deutlicher gesunken: Von 1,42% (1994) auf 0,5% (2011) am BIP. Auch die Ausgaben für Umweltschutz sind gefallen: von 1,2% (1995) auf 0,56% (2012). Die Summe alle Sozialausgaben schrumpfte von 21.9% (1995) auf 21,1% (2012). Addieren wir alle Posten, so sehen wir: Die gesamten Staatsausgaben sind gemessen am BIP seit dem EU-Beitritt um rd. 5% nach unten gegangen.

Dividenden und Gewinnentnahmen rauschen in die Höhe

Wenn wir fündig werden wollen, wo tatsächlich etwas „explodiert“ ist, dürfen wir nicht mehr länger in der Rubrik „Öffentliche Ausgaben“ bei der Statistik Austria stöbern, sondern müssen in die Sparte „Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung“ wechseln. Hier offenbart sich rasch, was explodiert ist: die Dividendenausschüttungen bzw. Gewinnentnahmen der Kapitalgesellschaften. Diese sind von 9,7 Milliarden (1995) auf über 31 Milliarden (2012) nach oben gerauscht; unmittelbar vor Ausbruch der Wirtschaftskrise lagen sie sogar bei 36 Milliarden (2007). Gemessen am BIP bedeutet das ein Wachstum von 5,5% auf 10,1%. Zwischenzeitlich im Jahr 2007 waren es sogar 13,1% am BIP; seit der Krise ist dieser Wert zwar wieder zurückgegangen, doch seit 2011 nimmt der Kuchen, der an die Aktionäre wandert, wieder deutlich zu (sh. Grafik). Weitere Zahlen sind erhellend. 1995 machten die Gewinnentnahmen etwas über 15% der Lohn- und Gehaltssumme der Kapitalgesellschaften aus; 2012 sind es bereits fast 30%. Die Lohnquote selbst, also der Anteil der Löhne und Gehälter an der Wertschöpfung, ist seit 1995 um ca. 5% zurückgegangen, besonders die unteren Einkommen erlebten beträchtliche Reallohnverluste.

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Die Austrocknung der öffentlichen Budgets und die explodierenden Gewinnausschüttungen, also öffentliche Armut und privater Reichtum, sind vielfältig miteinander verbunden, z.B. durch die Senkung der Körperschaftssteuern für Konzerngewinne. Quantitativ gravierender ist ein anderer Zusammenhang. Die seit dem EU-Beitritt einsetzende Abkoppelung der Löhne und Gehälter vom Wirtschaftswachstum lässt die Einnahmen der öffentlichen Pensions- und Krankenkassen erodieren. Ein Vergleich: Wäre die Lohnquote auf dem Niveau von 1995 konstant geblieben, wären allein im Jahr 2012 2,7 Mrd. zusätzlich in die sozialen Kassen gespült worden. Akkumuliert ergibt sich auf Grund der Umverteilung von Arbeit zu Kapital seit 1995 ein Verlust für die Sozialversicherung von beachtlichen 33 Milliarden Euro. Die ganze Debatte um vorgeblich unfinanzierbare Pensionen und Gesundheitsleistungen würde sich ohne diesen schleichenden Raubzug an den sozialen Kassen in Luft auflösen.

Aggressives Exportregime und Krise

Es gibt aber noch andere Zusammenhänge: Explodierende Dividenden bedeuten einen massiven Umverteilungsprozess von unten nach oben, da sie in erster Linie an das oberster Zehntel wandern: Angesichts der stagnierenden Binnennachfrage gehen sie daher Hand in Hand mit einer aggressiven ökonomischen Außenorientierung, also Forcierung des Waren- und Kapitalexport. Diesbezüglich hat sich in Österreich seit den 90er Jahren ein wahres Feuerwerk ereignet. Der Anteil der Exporte am BIP stieg von knapp 35% auf über 57%; diese Exportquote übertrifft sogar noch die des Exportweltmeisters Deutschland. Der Anteil der Bestände von Direktinvestitionen österreichischer Unternehmen im Ausland ist seit Mitte der 90er Jahre von 3% auf über 51% (!) explodiert. In absoluten Zahlen von 3,6 Mrd. auf fast 165 Milliarden! Entsprechend rapid sind die Dividenden aus diesen Kapitalexporten gewachsen: und zwar um das 25-Fache von 309 Millionen (1996) auf 7,9 Milliarden (2012). So sehen Explosionen aus.

Etwas vereinfacht formuliert hat sich in Österreich seit dem EU-Beitritt folgendes wirtschaftspolitische Regime etabliert, um im enthemmten EU-Binnenmarkt zu reüssieren: Aushungerung der Löhne und der Staatsnachfrage im Inneren, volle Konzentration auf den Waren- und Kapitalexport. Maximale Eigenkapitalrendite und hohe Dividenden sollten entsprechende Kapitalmassen anlocken, um diesen prekären Wirtschaftskreislauf am Laufen zu halten. Was Österreich im Kleinen praktizierte, machte Deutschland im Großen. Mit der Wirtschafts- und Finanzkrise seit 2008 sind diese Kreisläufe ins Trudeln geraten. Das war absehbar, da ein Wirtschaftsregime, das auf ständigen Exportüberschüssen zielt, weder verallgemeinerbar noch dauerhaft ist. Die Überschüsse des einen sind schließlich die Defizite der anderen, deren Finanzierung auf Pump bei den Überschussstaaten sich nicht endlos fortsetzen lässt. Die Leidtragenden der Krise sind die Arbeitenden und Arbeitslosen sowohl in den Überschuss- als auch in den Defizitländern. Die einen müssen den „Gürtel enger schnellen“, um die anderen niederkonkurrieren zu können. Die Niederkonkurrierten müssen spätestens dann die Hose runterlassen, wenn in ihren Ländern EU-Kommission und Merkel das Kommando übernommen haben. Massenarbeitslosigkeit und Arbeitshetze sind überall im Wachsen. Entsprechend skrupellos werden die VerliererInnen auf beiden Seiten gegeneinander ausgespielt. Das ganze nennt sich dann „europäische Solidarität“.

Womit wir zum Ausgangspunkt zurückkehren: zum ominösen Budgetloch. Denn durch die Krisenhaftigkeit dieses Wirtschaftsregimes, das auf dem Heißhunger auf Exportüberschuss und Dividende beruht, wurden tatsächlich gewaltige Löcher gerissen, über die medial nicht so gern geredet wird, weil sie sich zum Bashing von PensionistInnen nicht so recht eignen. Seit Mitte der 90er Jahre ist die Zahl der Arbeitslosen um fast 100.000 gestiegen. Das bedeutet nicht nur großes Leid für die Betroffenen, sondern auch beträchtliche Kosten. Die direkten und indirekten Kosten für die öffentlichen Haushalte durch diesen Anstieg der Arbeitslosigkeit belaufen sich jährlich auf rund 2,5 Milliarden Euro. Ein weiteres großes Loch haben die Bankenhilfspakete und der österreichische Mitgliedsbeitrag für den ESM (Europäischer Stabilitätsmechanismus) gerissen, durch den Gläubigerkonzerne schadlos und die Menschen in Schuldnerstaaten unter der Knute gehalten werden. Alleine 2012 wurden für diese beiden Posten 7,3 Milliarden Euro budgetiert. Das ist übrigens ziemlich genau die Höhe des Bundeszuschusses zu den Pensionen, der angeblich nicht mehr finanzierbar ist. So zahlen die Menschen die Zeche für das raubtiefhafte Exportregime.

Was wirklich unfinanzierbar ist

Wir können es Resümee ziehen: Es gibt keine Explosion der Staatsausgaben, es gibt eine Explosion der Ungleichheit, wie sie besonders aufreizend im exorbitanten Wachstum der Gewinnausschüttungen der Kapitalgesellschaften zum Ausdruck kommt. Der von der EU-Kommission verordnete Kurs der weiteren Senkung der öffentlichen Ausgaben wird diese Ungleichheit weiter verschärfen, denn den armen Staat können sich bekanntlich nur die Reichen leisten. Für einen Ausweg aus dieser Krise brauchen wir eine demokratische und solidarische Kehrtwende in der Wirtschafts- und Sozialpolitik: Kräftige Erhöhung vor allem der unteren Lohn- und Gehaltseinkommen und den massiven Ausbau der öffentlichen Kassen, um die gestiegene Produktivität nicht in Exportschlachten und Luxuskonsum für wenige zu verheizen, sondern über Wertschöpfungsabgaben in Lebensqualität für alle Menschen, auch die kommenden Generationen, zu lenken: Bildung, Gesundheit, Pflege, sozialer Wohnbau, kommunale Einrichtungen und Dienste, öffentlicher Verkehr, erneuerbare Energien, Kunst und Kultur, usw.

Konsequenzen ziehen!

Die Frage, ob wir uns das leisten können, ist falsch gestellt. Das Gegenteil – die Armut an sozialer, ökologischer und kultureller Infrastruktur – können wir uns nicht mehr länger leisten, wollen wir nicht unsere Zukunft aufs Spiel setzen. Nicht Pensionen und Gesundheitsversorgung sind unfinanzierbar geworden, sondern das EU-Konkurrenzregime, das dem Expansionsdrang der Industrie- und Finanzkonzerne alles andere unterordnet. Eine demokratische und solidarische Wende ist daher mit diesem Konkurrenzregime und seinen Zuchtmeistern in Kommission und Rat völlig unvereinbar. Wir sollten daraus die Konsequenzen ziehen.

Gerald Oberansmayr