Erstaunlich wenig wird über einen der zentralen Auslöser gesprochen, der den Konflikt in der Ukraine ab 2013/2014 eskalieren ließ: das EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen. Eine Auswirkung des Abkommens zeigt sich derzeit besonders: Der Ausverkauf der fruchtbaren ukrainischen Schwarzerdeböden an westliche Investoren rauscht in die Höhe.
Die EU drängte auf dieses Abkommen, um die Ukraine wirtschaftlich und geopolitisch in den eigenen Vorhof hinüberzuziehen. Der „Spiegel“ fand dazu 2013 deutliche Worte: »Der Kampf um die Ukraine ist einer zwischen dem russischen Präsidenten und der deutschen Kanzlerin. (…) Fast 25 Jahre nach dem Ende des Kalten Krieges geht es darum, wer es schafft, die früheren Sowjetrepubliken der Region in seinen Einflussbereich zu ziehen. Es geht um Geopolitik, um das ›Grand Design‹, wie es die Experten gern nennen.« (Spiegel online, 26.11.2013).
„Es geht um Geopolitik“
Das Assoziierungsabkommen spielte dafür eine entscheidende Rolle. Offiziell ging es darum, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Marktwirtschaft zu fördern, ohne den Staaten aber eine realistische Beitrittsperspektive zu eröffnen. Letztlich aber wird darauf hingearbeitet, die Nachbarländer in eine großeuropäische Wirtschaftszone einzubeziehen und neoliberale »Reformen« zu forcieren: „Was nicht gesagt wird, ist, dass das Hauptmotiv der wirtschaftlichen Integration darin besteht, die Wettbewerbsfähigkeit der Europäischen Union zu stärken, Ökonomien in die expandierende Wirtschaft des Imperiums (der EU) einzugliedern und Zugang zu natürlichen Ressourcen in der ener¬giereichen Nachbarschaft zu erhalten. Die riesige Ansammlung von Wohlstand und wirtschaftlicher Macht der EU hat ihr einen Hebel gegeben, um marktfreundliche Reformen einschließlich Privatisierung, Handelsliberalisierung und die Übernahme der EU-Regulationsmechanismen durchzusetzen und gleichzeitig die weiterführenden Debatten in den peripheren Gesellschaften zu umgehen“ 1).
Neoliberalismus plus militärische Anbindung
Der damalige ukrainische Präsident Janukowitsch verweigerte 2013 die Unterschrift unter das EU-Ukraine-Assoziierungsabkommen. Die Bedenken waren nur zu berechtigt, dass die Ukraine mit diesem Abkommen ihre Neutralität zwischen Ost und West, die jahrzehntelang den Frieden gesichert hatte, verlieren und zum Spielball westlicher Konzerne werden würde. Denn dieses Assoziierungsabkommen sah die Verpflichtung auf eine „freie Marktwirtschaft“, die Abschaffung von Schutzzöllen und nicht-tarifären Handelshemmnissen, den Abbau staatlicher Subventionen sowie die Liberalisierung des Kapitalverkehrs vor. Das gefährdete nicht nur den engen wirtschaftlichen Austausch mit Russland, das musste letztlich zur Deindustrialisierung der Ukraine führen, die hinsichtlich Produktivität nicht mit den westlichen Konzernen Schritt halten konnte.
Dieses Abkommen beinhaltete aber nicht nur die neoliberale ökonomische Unterordnung der Ukraine unter die EU, sondern auch die militärische Anbindung. So heißt es unter anderem:
- Die EU und die Ukraine „intensivieren ihre Kooperation und fördern die stufenweise Konvergenz auf dem Gebiet der Außen- und Sicherheitspolitik …insbesondere in Hinblick auf die wachsende Teilnahme der Ukraine an EU-geführten zivilen und militärischen Krisenmanagementoperationen“ (neudeutsch für Kriegseinsätze) sowie „wichtige Übungs- und Trainingsaktivitäten, einschließlich derjenigen, die im Rahmen der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik ausgeführt werden.“ (Artikel 10) Unterm Strich bedeutet das die Einbindung in die EU-Schlachtgruppen („Battlegroups“).
- Auch rüstungsindustriell soll die Ukraine an- und eingebunden werden: „Die Ukraine und die Europäische Verteidigungsagentur werden enge Kontakte etablieren, um die Verbesserung der militärischen Kapazitäten zu diskutieren.“ (Artikel 10) Diese militär- und sicherheitspolitische Kooperation soll sich „bis in den Weltraum“ (Artikel 7) erstrecken.
- Als Ziel dieser militärischen Vereinbarungen des Assoziierungsabkommens wird die „immer tiefere Einbindung der Ukraine in die sicherheitspolitische Area der EU“ definiert (Artikel 4).
Staatsstreich mit rechtsextremen Hilfstruppen
Diese militärische Anbindung an die EU gefährdete die Neutralität der Ukraine nicht weniger als die NATO. Die Europäische Union reagierte auf die Ablehnung des Assoziierungsabkommens mit aller Brutalität. So unterstützte neben den USA auch die EU, vor allem Deutschland, offen rechtsextreme und antisemitische Gruppierungen, um einen prowestlichen Regime-Change herbeizuführen. Eine deutsche Nachrichtenagentur berichtete von einem Gespräch des deutschen Botschafters in Kiew mit dem Führer der Faschistenpartei „Swoboda“ Tjahnybok, in dem dieser versicherte, Swoboda werde „ihr Bestes geben, um den Weg für das Assoziierungsabkommen freizumachen“2). Was auch geschah. Im Februar 2014 putschten rechtsextreme Milizen mit Gewalt die demokratisch gewählte Regierung aus dem Amt.
Selbst ORF-Korrespondent Christian Wehrschütz machte rechtsextreme Kräfte maßgeblich für die blutige Eskalation im Februar 2014 in Kiew verantwortlich: „Oppositionelle haben in der vergangenen Nacht Waffenlager erbeutet. Diese Waffen wurden nach Kiew gebracht. Man hat Polizeikasernen gestürmt. Die Bewaffnung der extremistischen Opposition ist massiv. Heute Früh ist die neue Gewalt von diesen extremen Gruppen ausgegangen, die Scharfschützen auf die Straßen in Kiew geschickt haben. Die demokratische Opposition hat diese Gruppen nicht unter Kontrolle“ 3).
„Lieferant billiger Rohstoffe und Arbeitskräfte“
Nach dem Staatsstreich wurde umgehend eine neue westorientierte Regierung inthronisiert und das EU-Ukraine-Abkommen unterzeichnet. Es folgte eine Reihe neoliberaler Wirtschaftsreformen, die breite Teile der Bevölkerung verarmen ließen. Laut Angaben der Weltbank stieg die Zahl der Menschen in der Ukraine, die unterhalb der offiziellen Armutsschwelle leben, von 15 Prozent der Bevölkerung im Jahr 2014 auf 25 Prozent im Jahr 2018. Das Gesundheitssystem kollabierte. Die Industrieproduktion ging dramatisch zurück. Der Handel mit Russland brach ein, jener mit der EU entwickelten sich in die prognostiziert asymmetrische Richtung. Joachim Becker, Professor an der Wirtschaftsuniversität Wien: „Die EU hat für die Ukraine offenbar eine Rolle als Lieferant billiger Rohstoffe (gerade auch im Agrarbereich) und billiger Arbeitskräfte vorgesehen.“ 4)
In diesem neoliberalen Assoziierungsabkommen liegen auch wichtige wirtschaftliche Gründe für die Abspaltung der Oblaste Donezk und Luhansk. Die in diesen östlichen Regionen konzentrierte Schwerindustrie wäre rasch unter die Räder des neoliberalen EU-Abkommens geraten. Westliche Konzerne hätten sich bestenfalls einzelne Filetstücke herausgepickt. Gerade die Gewerkschaften in diesen Regionen hatten sich gegen das Assoziierungsabkommen ausgesprochen.
Ausverkauf der fruchtbaren Schwarzerdeböden
Eine der größten wirtschaftlichen Schätze der Ukraine sind die fruchtbaren Schwarzerdeböden. Die Ukraine verfügt 32 Millionen Hektar Ackerboden bester Qualität; das entspricht einem Drittel der gesamten Ackerbaufläche der Europäischen Union. Darauf richteten sich die besonders begehrlichen Blicke von Investoren aus EU und USA. Doch die Ukraine hatte nach den katastrophalen Erfahrungen mit der Raubtierprivatisierung Anfang der 90er Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion den Handel mit landwirtschaftlichem Grund und Boden untersagt, da ein Ausverkauf an ausländische Konzerne befürchtet wurde. Das Assoziierungsabkommen mit der EU sah aber vor, dass die Ukraine ihre Landwirtschaft für ausländische Investitionen öffnen soll. Doch noch einige Jahre nach dem prowestlichen „Regime-Change“ wagten es die ukrainischen Regierungen nicht, das Verbot des Ausverkaufs von fruchtbarem Ackerboden anzutasten, da zwei Drittel der Bevölkerung dies ablehnten. Aber der Druck von EU und IWF wurde immer größer. Die 2019 gewählte Regierung Selenskyj erwies sich schließlich als willfährig. Im März 2020 beschloss das ukrainische Parlament, landwirtschaftlichen Boden zum Handelsgut zu machen und für Auslandskapital zu öffnen, das entsprechende Gesetz trat Anfang 2021 in Kraft.
Und tatsächlich rauschte ab 2021, insbesondere ab Beginn des russischen Einmarsches, der Ausverkauf von ukrainischem Ackerland an westliche Investoren rasant in die Höhe (unten).
EU-Freihandelsabkommen als Einfallstor für Kriege
Ohne den russischen Einmarsch in der Ukraine damit im Geringsten zu rechtfertigen, ist es doch wichtig, einen Blick auf das gesamte Bild zu werfen: Die Politik der EU, die „Nachbarschaft“ in Osteuropa bzw. im Mittelmeerraum durch neoliberale Freihandels- und Assoziierungsabkommen an das imperiale Zentrum anzubinden, mündet immer wieder in Gewalt und Krieg. Jugoslawien geriet ins Fadenkreuz westlicher Strategien, als sich dessen Regierung Anfang der 90er Jahre weigerte, die neoliberalen „Strukturanpassungsprogramme“ des Internationalen Währungsfonds umzusetzen. Dasselbe widerfuhr Libyen, als sich Gaddafi einem Freihandelsabkommen mit der EU widersetzte; und Syrien wurde erst ab dem Zeitpunkt als „Schurkenstaat“ geächtet, nachdem ein entsprechendes Abkommen zwischen der EU und Syrien nicht zustande gekommen war.
Eine blutige Diktatur wie Ägypten, in der Folter und Hinrichtung von Oppositionellen auf der Tagesordnung stehen, braucht dagegen nichts zu fürchten. Denn mit Ägypten verhandelt die EU derzeit ein Freihandelsabkommen; die ägyptische Diktatur vergibt Großaufträge an westliche Unternehmen – erst vor kurzem ging ein 8-Milliarden-Auftrag Ägyptens an den deutschen Konzern Siemens, der größte Auftrag in der 175-jährigen Geschichte des Unternehmens. Solange solche Milliarden sprudeln, drücken auch grüne Minister wie Habeck und Baerbock alle Augen zu.
Gerald Oberansmayr
(Werkstatt-Blatt 3/2022, Oktober)
Quellen
(1) Dimitrovova, Bogdana: Imperial re-bordering of Europe: the case of the European Neighbourhood, in: Cambridge Review of International Affairs, Nr. 2/2012, S. 249–267, S. 254.
(2) Oleh Tyahnybok meets with Germany's ambassador; en.svoboda.org.ua 29.04.2013
(3) Extremistische Organisation stürmt Waffenlager, ORF, 20.2.2014
(4) Interview mit ao Univ.Prof.Dr. Joachim Becker, in: Werkstatt-Blatt 3.6.2014
Ackerboden von der Fläche Oberösterreichs an ausländische Investoren verkauft
Zwischen 1.1.2021 und Ende September 2022 wechselten 1,79 Millionen Hektar landwirtschaftliche Fläche den Besitzer. Zwei Drittel davon – das sind 1,15 Millionen Hektar - gingen an ausländische Investoren. Das entspricht fast der gesamten Fläche des Bundeslandes Oberösterreich. So richtig explosionsartig entwickelte sich der Ausverkauf erst mit dem Krieg: 15% der Fläche wurde in den 14 Monaten zwischen Anfang 2021 und Februar 2022 ans Ausland verkauft. 85% in den sieben Monaten des Krieges seither (bis Ende September 2022). Ein Zusammenhang mit den in diesem Zeitraum explodierenden Waffenlieferungen des Westens an die Ukraine darf vermutet werden.
Über 85% der Auslandsunternehmen, die in der Ukraine Grund und Boden aufkaufen, haben ihren Sitz in der Europäischen Union, knapp 13% in den USA, ca. 2% entfallen auf den Rest der Welt.
(Quelle: https://landmatrix.org)