Die konzernkritische NGO „Corporate Europe Observatory“ enthüllt in einem Bericht, wie Big Business bei der EU-Kommission heimlich für die Schaffung einer Paralleljustiz lobbyiert, die die Konzerninteressen privilegiert. Die EU-Kommission könnte schon im Herbst einen Vorstoß in diese Richtung starten. Hier die Übersetzung der Einleitung zu diesem Bericht.

Die Europäische Kommission bereitet derzeit einen Vorschlag zum Schutz grenzüberschreitender Investitionen in der EU vor, der im Herbst 2021 veröffentlicht werden soll. Lobbygruppen der großen Unternehmen haben darauf gedrängt. Infolgedessen könnte ein neues EU-Gericht ausschließlich für Unternehmen die europäischen Regierungen zwingen, riesige Summen an Großunternehmen als Entschädigung für Vorschriften zum Schutz von Arbeitnehmern, Verbrauchern und der Umwelt zu zahlen. Ein solches Gericht würde enormen finanziellen Risiken auslösen, erhebliche Summen an die Konzerne zahlen zu müssen. Das könnte Regierungen letztendlich davon abhalten, im öffentlichen Interesse zu regulieren.

Die anhaltende Kampagne der Unternehmenslobby für neue rechtliche Privilegien begann nach einem wegweisenden Urteil des Gerichtshofs der EU (EuGH) im März 2018. Das Gericht beendete Dutzende von bilateralen Investitionsabkommen (BITs), die EU-Mitgliedstaaten gegenseitig unterzeichnet hatten. Diese Verträge ermöglichten es Investoren, nationale Gerichte zu umgehen, wenn staatliche Entscheidungen ihre Investitionen behinderten, und stattdessen Mitgliedstaaten vor Gerichten zu verklagen, die von drei Privatanwälten entschieden wurden. Der EuGH entschied, dass diese Art der Streitbeilegung (bekannt als Investor-Staat-Streitbeilegung oder ISDS) illegal ist, da er EU-Gerichte an den Rand drängte. Infolgedessen werden nun etwa 130 Intra-EU-BITs gekündigt.

Das Urteil des Gerichts löste Schockwellen durch die Wirtschaft und die Rechtswelt aus, da diese die beträchtlichen Gewinne, die sie mit ISDS-Prozessen erzielt hatten, bedroht sahen. Unternehmenslobbygruppen mobilisierten schnell und begannen, Lobbyarbeit bei der Europäischen Kommission zu machen, um ein neues paralleles Justizsystem zu schaffen, das den alten Intra-EU-BITs ähnelt, aber mit dem EU-Recht vereinbar ist. Der neue Bericht des Corporate Europe Observatory deckt ihre versteckte Lobbykampagne auf.

Big Business schlägt zurück

In den Jahren 2019 und 2020 hielten Unternehmenslobbyisten mindestens ein Dutzend Treffen mit der zuständigen Abteilung der Europäischen Kommission, der GD FISMA (Generaldirektion für Finanzstabilität, Finanzdienstleistungen und Kapitalmarktunion), ab, wie aus internen Dokumenten hervorgeht, die über die EU-Vorschriften zur Informationsfreiheit veröffentlicht wurden. Große Unternehmen überfluteten auch die Posteingänge der Kommission mit Briefen und Positionspapieren, in denen ein neues Gesellschaftsgericht gefordert wurde. Auf hochkarätigen Veranstaltungen wiederholten Konzernchefs die Botschaft, dass es nun in der EU für Unternehmen keinen ausreichenden Rechtsschutz gäbe.

Großbanken (wie Deutschlands zweitgrößte Bank Commerzbank), Finanzverbände (darunter die European Banking Federation und die Aktionärslobby Deutsches Aktieninstitut) und andere berüchtigte Lobbygruppen der Großunternehmen (wie BusinessEurope und der Verband französischer Großunternehmen – AFEP) waren besonders aktiv in der Lobby-Kampagne. Auch Unternehmensanwälte und in jüngerer Zeit Lobby-Beratungen engagierten sich.

Die Botschaft der Großunternehmen und ihrer Lobbyisten war immer die gleiche: Die Beendigung der Intra-EU-BITs würde die Investoren im EU-Binnenmarkt „ohne angemessenen Rechtsschutz zurückbleiben“ (wie deutsche Wirtschaftslobbys in einem Schreiben an die Kommission vom Juni 2019 schrieben). Darauf folgte eine Drohung. „Dieser fehlende Schutz kann EU-Unternehmen dazu veranlassen, außerhalb der EU zu investieren“, mit dem Resultat „reduzierter Kapitalzuflüssen in die EU und sinkender Steuereinnahmen“ (Positionspapier der European Banking Federation vom Juli 2019). Diese Kampagne war so gebieterisch, dass die Kommission sich rasch daran machte, einen neuen Rechtsrahmen zum Schutz der EU-Konzerne zu schaffen.

Mit der Behauptung, dass das Ende der Intra-EU-BITs Investoren ohne angemessenen Rechtsschutz zurücklassen würde, schlägt die Industrie blinden Alarm. Im EU-Binnenmarkt können sich Anleger auf eine lange Liste von Rechten und Schutzmaßnahmen verlassen, darunter das Recht auf Eigentum, Nichtdiskriminierung, Anhörung vor einer Behörde sowie auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein faires Verfahren. Auch der EU-Justizbarometer – das zentrale Dateninstrument zur Überwachung der Qualität der EU-Justizsysteme – zeigt keine Hinweise auf einen systematischen Missbrauch ausländischer Investoren in EU-Mitgliedstaaten. Aufgrund dieses Mangels an Beweisen wäre es sehr schwierig, einen besonderen Rechtsschutz für Unternehmen (im Gegensatz zu beispielsweise Journalisten oder Menschenrechtsverteidigern) zu rechtfertigen.

Konzerne wollen ein paralleles Justizsystem nur für sich

Die Hauptforderung der Großunternehmen ist ein neues System zur Beilegung von Investor-Staat-Streitigkeiten innerhalb der EU, das es der Industrie ermöglicht, die nationalen Gerichte der EU-Mitgliedstaaten zu umgehen. Es werden verschiedene Optionen vorgeschlagen, darunter ein neues EU-Investitionsgericht, das nur Unternehmen zugänglich wäre. Unternehmen machen deutlich, dass sie sich auf finanziellen Druck verlassen, um Regierungen zur Unterwerfung zu erschrecken, und argumentieren, dass nur „das Risiko von Gerichtsverfahren ein Anreiz für die Vertragsstaaten ist, … mit Investoren in Dialog zu treten“ (Deutsche Industrielobbygruppen in einem Brief an die Kommission, Juni 2019).

Die Industrie will das EU-Recht so ändern, dass es den im internationalen Investitionsrecht üblichen materiellen Anlegerschutz mit wüsten spekulativen Schadensberechnungen widerspiegelt. Bestimmungen wie eine faire und gerechte Behandlung sollten laut Commerzbank und Deutschem Aktieninstitut in neuem EU-Recht „kodifiziert, konkretisiert und weiterentwickelt“ werden. Dies würde die Kosten für Regulierungen im öffentlichen Interesse in der EU in die Höhe treiben und es Unternehmen erleichtern, hohe Ausgleichszahlungen aus der öffentlichen Hand sicherzustellen.

Wird die Kommission den Weg für eine neue Machtübernahme durch die Unternehmen ebnen?

Ein Non-Paper der Europäischen Kommission vom September 2020 skizziert besorgniserregende Optionen sowohl für die materiellen Anlegerrechte als auch für das neue System zur Beilegung von innergemeinschaftlichen Investor-Staat-Streitigkeiten, einschließlich der Schaffung eines spezialisierten Investitionsgerichts auf EU-Ebene. Die Kommission scheint auch daran interessiert zu sein, neue Privilegien für Unternehmen zu schaffen, um noch mehr und noch früher in politische Prozesse einzugreifen.

Die Einführung neuer investitionsrechtlicher Standards und eines EU-weiten Systems zu deren Durchsetzung könnten Regierungen letztendlich davon abhalten und verhindern, dass sie im öffentlichen Interesse regulieren, wenn ihre Vorschläge von mächtigen Wirtschaftsakteuren abgelehnt werden. Und genau das will das große Geschäft. Wie EuroChambres, der Verband der europäischen Handelskammern, klarstellte: „Unternehmen sind nicht gegen Maßnahmen, die allgemeine Interessen schützen, die für die Gesellschaft insgesamt wichtig sind, aber sie dürfen den Investitionen der Unternehmen nicht abträglich sein.“

Gewerkschaften, Verbraucher- und Umweltorganisationen wehren sich vehement gegen neue Sonderrechte für ausländische Investoren. Sie argumentieren, dass Rechtsstaatsdefizite in der EU so angegangen werden sollten, dass die Praxis aller Bürger verbessert wird, anstatt zusätzliche rechtliche Privilegien für eine kleine Anzahl bereits sehr mächtiger und geschützter Wirtschaftsakteure zu schaffen. Sie kritisieren auch, wie unterschiedlich die EU-Kommission die Anliegen der Zivilgesellschaft und die der Konzerne behandelt. Wie die Arbeiterkammer Österreich anmerkte: „Während die Kommission die Forderungen der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, soziale Mindeststandards für die EU zu schaffen, lange ignoriert hat... haben die Beschwerden der Konzerne über fehlenden Investorenschutz sofort Beratungen zu diesem Thema ausgelöst.“

Obwohl sie zuvor besiegt wurden, scheint es, dass die Superrechte der ISDS-Investoren wieder mit aller Macht zurückkommen. Wenn die Kampagne der Unternehmenslobby erfolgreich ist, könnte ein neues EU-weites System von Konzernprivilegien die langfristige Strategie des Big Business ankurbeln, die Demokratie zugunsten von Konzernprofiten auszuhebeln – mit gravierenden Kosten für die Öffentlichkeit.

Wenn dieser Vorschlag jedoch abgelehnt wird, könnte dies das Ende dafür einläuten, dass Großunternehmen ihr eigenes paralleles Justizsystem verwenden, um Regierungen zu verklagen, weil sie die Kühnheit besitzen, Gesetze im öffentlichen Interesse zu erlassen.

Wenn dieser Vorschlag jedoch abgelehnt wird, könnte dies das Ende dafür einläuten, dass Großunternehmen ihr eigenes paralleles Justizsystem verwenden, um Regierungen zu verklagen, weil sie die Kühnheit besitzen, Gesetze im öffentlichen Interesse zu erlassen.
(Juni 2021)

Hier zum Bericht in Englisch https://corporateeurope.org/en/2021/06/conquering-eu-courts