Während die türkis-blaue Regierung vorerst vorbei ist, bleiben die neoliberalen EU-Vorgaben. Die „Empfehlungen“ (1) der EU-Kommission für Österreich, die vor kurzem veröffentlicht wurde, haben eine klare Botschaft: Aufs Gaspedal bei der Anhebung des Pensionsantrittsalter, auf die Bremse bei den Ausgaben für Gesundheit und Pflege. Und eine Steuerreform, die die Einnahmen für den Sozialstaat austrocknen.

In manchen Kreisen löste das Ende der türkis-blauen Regierung und die Aussicht auf Neuwahlen geradezu Euphorie aus. Doch bereits wenige Tage nach der Einsetzung der Übergangsregierung erinnert die EU mit ihrem Länderbericht 2019 für Österreich daran, dass Wahlen in EU-Europa zwar dazu dienen, das politische Personal auszutauschen, nicht aber die Politik. Denn diese ist durch EU-Primärrecht, EU-Verträge und –Verordnungen in wesentlichen Bereichen neoliberal einzementiert und wird von einer supranationalen Technokratie exekutiert, die der demokratischen Kontrolle entzogen ist. Dieser Technokratie stehen mit dem EU-Fiskalpakt und diversen EU-Budgetverordnungen ein ausgefeiltes Instrumentarium zur Verfügung, um die gewählten Nationalrats-Abgeordneten zu StatistInnen gerade in jenem Bereich zu machen, der gerne als das „Königsrecht“ des Parlaments bezeichnet wird: in der Budgetpolitik. So kann die EU-Kommission bzw. der EU-Rat im Zuge des sog. „Europäisches Semesters“ von Jänner bis November 11 Monate lang das Budget der Folgejahre zurechttrimmen, bevor im Dezember die Parlamentarier den von EU-Kommission und EU-Rat approbierten Budgetentwurf abnicken dürfen. Halten sie sich nicht daran, drohen Defizitverfahren und Sanktionen.

EU-Lob für den türkis-blauen Angriff auf die Sozialversicherung

Im Zuge dieses „Europäisches Semesters“ hat nun die EU-Kommission Österreich ausgerichtet, was von dieser und jeder zukünftigen Regierung erwartet wird. Im Vorspann des Berichts werden zunächst die vergangenen Regierungen dafür gelobt, in wesentlichen Bereichen den EU-Vorgaben bereits Folge geleistet zu haben: Die SP-VP-Regierung unter Kanzler Kern erhält Lob für die Verschärfung der Deckelung der Gesundheitsausgaben, die VP-FP-Regierung unter Kanzler Kurz für das „Sozialversicherungs-Organisationsgesetz“, das die Selbstverwaltung in der Sozialversicherung zerstört und die Gesundheitskassen zentralisiert. Explizit getadelt wird jedoch die Abschaffung des Pflegeregresses, weil „das die öffentlichen Ausgaben eher steigert als eindämmt“.

EU attackiert Ausgaben für Pensionen, Gesundheit, Pflege

Nach diesem Rückblick kommen die „Empfehlungen“ für 2019/20. Etwas verknappt könnte man diese folgendermaßen zusammenfassen: Aufs Gaspedal bei der Anhebung des Pensionsantrittsalter, auf die Bremse bei den Ausgaben für Gesundheit und Pflege. Denn: „Für Österreich bestehen langfristig mittlere Risiken für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen. Diese Risiken sind auf den vorausberechneten Anstieg der öffentlichen Ausgaben für Gesundheit, Langzeitpflege und Pensionen zurückzuführen.“ Das Pensionsantrittsalter sollte am besten „mit der Einführung einer automatischen Koppelung des gesetzlichen Pensionsantrittsalters an die künftig steigende Lebenserwartung“ angehoben werden – damit erspart man sich in Zukunft die lästigen demokratischen Debatten über die Anhebung des Pensionsantrittsalters und lässt diese einfach durch „Experten“ ausrechnen. Hinsichtlich der öffentlichen Gesundheitsausgaben drohe – so der EU-Länderbericht – eine Steigerung von derzeit 7% auf 8,3% des Bruttoinlandsprodukts (BIP) bis zum Jahr 2070. Ja, Sie haben richtig gelesen: bis zum Jahr 2070! Potzblitz eine Steigerung von 1,3 Prozentpunkten in 50 Jahren! Das löst zum Einen Verwunderung aus, in welche Kristallkugel die EU-Kommissare da geblickt haben, um die Entwicklung im nächsten halben Jahrhundert so präzise zu prognostizieren. Zum Anderen möchte man herausschreien: Wo bitte ist das Problem? Die Gesundheit ist eines unserer wichtigsten Güter, warum sollte man die wachsende wirtschaftliche Produktivität nicht gerade in diesen Sektor lenken, um den Trend in Richtung Zwei-Klassen-Medizin zu stoppen und unsere Lebensqualität und die unserer Kinder und Kindeskinder zu erhöhen.

Ähnlich absurd ist die Hysterie des EU-Länderberichts in Bezug auf die (Langzeit-)Pflege. Hier drohe laut EU eine Erhöhung des BIP-Anteils von derzeit 1,9% auf 3,8% bis 2070. Hält man sich die Pflegemisere in Österreich vor Augen, dann fragt man sich unwillkürlich, warum wir bis 2070 warten müssen, bis wir endlich diese dringend notwendige Erhöhung der Pflegeausgaben auf eine Niveau erreichen, das heute schon in Ländern wie Finnland oder Schweden Realität ist.

Die Frage ist zugegebenermaßen polemisch, denn natürlich wissen wir, warum die EU-Kommission höhere öffentliche Ausgaben für Altersversorgung, Pflege und Gesundheit nicht schätzt. Wie soll man den Leuten das neue EU-Privatpensionsprodukt PEPP schmackhaft machen, wie soll man die Geschäfte der privaten Gesundheits- und Versicherungskonzerne ankurbeln, wenn es eine gute öffentliche Alters- und Gesundheitsversorgung für alle gibt? Noch dazu, wo immer mehr Leute begreifen, wie fatal sich die Privatisierung gerade in den Bereichen Altersversorgung und Gesundheit für die große Mehrheit der Bevölkerung auswirkt.

Hui und pfui im EU-Regime

Die Defizit- und Verschuldungsregeln des EU-Fiskalpakts sind nur ein Vorwand, um neoliberale Strukturreformen erzwingen zu können. Dass es der EU keineswegs um die vorgebliche Bekämpfung von öffentlichen Defizit oder Verschuldung geht, erkennt man auch daran, dass gleichzeitig über die sog. „Ständig Strukturierte Zusammenarbeit“ (EU-SSZ/Pesco) auf eine radikale Erhöhung der Militärausgaben gedrängt wird. Mittelfristig – nach Wunsch des EU-Parlaments bis 2030 - laufen diese SSZ-Vorgaben auf eine Verdreifachung der österreichischen Militärausgaben hinaus, d.h. eine Steigerung des Anteils der Militärausgaben von derzeit 0,7% auf 2% des BIP. Man merke: Plus 1,3% Prozentpunkte bis 2030 beim Militär ist hui, plus 1,3% bis 2070 bei der Gesundheit ist dagegen pfui. So tickt das EU-Regime.

Zangenangriff auf den Sozialstaat

Die „Empfehlungen“ der EU-Kommission werden abgerundet durch die Forderung, das österreichische Steuersystem zu reformieren: Im Gegenzug zu höheren Vermögens- und Umweltsteuern sollen die Sozialversicherungsbeiträge bzw. „Steuern auf den Faktor Arbeit“ gesenkt werden. Was vielen vordergründig sinnvoll erscheint, entpuppt sich bei näherem Hinsehen als ein heimtückisches Torpedo gegen den Sozialstaat. Denn Vermögens- und Umweltsteuer sind Lenkungssteuern, die dazu dienen, gesellschaftliche Übel – hypertropher Reichtum weniger bzw. wachsende Umweltzerstörung – zurückzudrängen. Solche Steuern sind sinnvoll, um ökosoziale Investitionen anzukurbeln (z.B. Ausbau des Öffentlichen Verkehr und des sozialen Wohnbaus), jedoch ganz und gar nicht, um die Senkung von Sozialversicherungsbeiträgen auszugleichen. Denn diese dienen zur Finanzierung der laufenden Sozialausgaben (Pensionen, Gesundheit usw.). Und eine stabile Finanzierung des Sozialstaats muss aus Beiträgen bzw. Steuern erfolgen, die sich aus der laufenden wirtschaftlichen Leistungskraft speisen. Statt diese zu senken, müssten sie also vielmehr auf die gesamte wirtschaftliche Wertschöpfung (inkl. Gewinne und Abschreibungen) ausgedehnt werden. Würden dafür jedoch Vermögens- bzw. Umweltsteuern verwendet, hieße die fatale Alternative: Entweder möglichst viel Umweltzerstörung und hohe Vermögenskonzentration bei wenigen, um aus den daraus sprudelnden Einnahmen den Sozialstaat finanzieren zu können. Oder aber der Sozialstaat wird ausgehungert, weil die Einnahmen aus den Umwelt- und Vermögenssteuern zurückgehen, sobald sie die gewünschte Lenkungswirkung entfalten.

Die EU-Vorgaben 2019 sind charakteristisch für den Zangenangriff der Neoliberalen auf den Sozialstaat: Austrocknung der öffentlichen Einnahmen, sodann „Risiken für die Tragfähigkeit der öffentlichen Finanzen“ beschwören, um schließlich die Kürzungen bei Sozialausgaben durchzudrücken. Das entspricht den Interessen des exportorientierten Großkapitals. Das entspricht dem Programm der türkis-blauen Regierung. Diese Regierung ist – vorerst – gegangen. Die EU-Kommission und ihre neoliberalen Vorgaben bleiben. Wer die neoliberale Politik überwinden und nicht bloß das politische Personal, das sie exekutiert, austauschen will, kommt um den Bruch mit dem postdemokratischen EU-Regime nicht umhin.

Gerald Oberansmayr
(12.6.2019)

Quellen:
(1) EU-Kommission, Empfehlungen für eine Empfehlung des Rates zum nationalen Reformprogramm Österreichs 2019 mit einer Stellungnahme des Rates zum Stabilitätsprogramm Österreichs 2019, Brüssel, 5.6.2019