ImageSolidarwerkstatt und DIDF veranstalteten am 3. März 2012 eine Protestaktion und rufen nun gemeinsam zur Bildung einer Menschenkette am 12. Mai 2012 auf. Das Ziel: Eine Volksabstimmung über den EU-Fiskalpakt, der - so der Chef der Europäischen Zentralbank - "das Ende des Sozialstaats" einläuten soll. Boris Lechthaler im Gespräch über die Hintergründe.



Werkstatt-Rundbrief: Die Solidarwerkstatt hat gemeinsam mit DIDF am Samstag, 3. März 2012 eine Straßenaktion unter dem Motto: Volksabstimmung für Selbstbestimmung! durchgeführt. Wie beurteilst Du die Aktion?

Boris Lechthaler: Um darauf eine Antwort geben zu können, müssen die Bedeutung von  Belastungspaket und EU-Fiskalpakt verstanden werden. Im EU-Rahmen erleben wir eine Radikalisierung des Neoliberalismus. Wurde bislang nationales Recht durch EU-Recht gebrochen, zeigt der jüngst im EU-Rat beschlossene Fiskalpakt, dass auch EU-Recht gebrochen wird, wenn es darum geht, den Sozialstaat auslaufen zu lassen. Der Wille der Eliten zur Durchsetzung einer einheitlichen Produktivitätspeitsche im ganzen EU-Raum hierarchisiert die EU. Mit dem Fiskalpakt bekommt diese Hierarchisierung eine eiserne politische Zwangsjacke. Es ist von großer Bedeutung, dass entschiedene Opposition artikuliert wird. Eine demokratische und solidarische Wende ist im Rahmen dieses Fiskalpakts völlig ausgeschlossen. Die Botschaft kann daher nur lauten, dass ohne Volksabstimmung, dieser Fiskalpakt keine Rechtsbindung entfalten kann. Schon gar nicht für einen Solidarstaat Österreich . Mit der Aktion am 3. März haben die Solidarwerkstatt und DIDF diese Botschaft zum ersten Mal auf der Straße artikuliert.

ImageWerkstatt-Rundbrief: Welche Möglichkeiten für die Entfaltung einer breiten Bewegung für eine Volksabstimmung siehst Du?

Boris Lechthaler: Ein Wiener Freund der Solidarwerkstatt sagte, es habe ihn gefreut, so "mutige" Leute kennengelernt zu haben. Es fragt sich, was so mutig ist, wenn man auf die Straße geht und das Selbstverständlichste verlangt: eine Volksabstimmung über etwas, das laut Merkel "bindend und ewig" gelten soll. Von den PassantInnen erhielten wir viel Aufmerksamkeit, vielfach auch offene Sympathie. Der Zusammenhang ist argumentierbar und die meisten Menschen verstehen ihn. Sie wissen, dass es den Eliten darum geht, sie zu entmündigen. Wenn einige beginnen das auszusprechen, werden andere folgen. Beinahe fassungslos beobachten wir das weitgehende Schweigen der Interessensorganisationen und fast des ganzen Spektrums politischer Organisationen. Das Schauspiel wird uns bereits im Rahmen des Belastungspakets vorgeführt. Dieselben Gewerkschaftsfunktionäre, die gestern noch eine offensive Lohnpolitik argumentierten, erklären jetzt Gehaltsverzicht im öffentlichen Dienst für sozial ausgewogen. Dieselben Pensionistenvertreter, die sich gestern noch über den Pensionistenpreisindex echauffierten, der über dem VPI liege, kommentieren jetzt den Verzicht auf den vollen Inflationsausgleich für hunderttausende PensionistInnen als ihren Beitrag zur Sanierung des Staatshaushalts. Was ist in sie gefahren? Welchen Krampus hat ihnen die Regierung gezeigt? Ist es das drohende Downgrading, das alle auf die Knie gehen läßt? Die Ratifikation des Fiskalpakts ist eine klare machtpolitische Ansage: der Zugang zu ESM-Mitteln wird unmittelbar von der Ratifikation abhängig gemacht. Wer nicht spurt wird quasi den Finanzmärkten ausgeliefert. Das ganze Gebilde wird immer stärker von den Entscheidungen Deutschlands abhängig. Das ist keine Frage des guten oder bösen Willens, sondern liegt in der Dynamik des Prozesses. Ich denke, viele Menschen, die Funktionen im System bekleiden, spüren den scharfen Wind, der da weht und werden vorsichtig. Aber ich glaube nicht, dass es dem Establishment gelingen wird, den Ball niedrig zu halten. In Irland wird es eine bindende Volksabstimmung geben. Viele Menschen werden sich fragen, warum dürfen die IrInnen etwas, was wir nicht dürfen.

Werkstatt-Rundbrief: Es gibt aber Gerüchte, die Regierung wolle den Vertrag mit einfacher Stimmenmehrheit ratifizieren?

Boris Lechthaler: Das wäre ein Staatsstreich. Man kann es nicht anders bezeichnen. Das zeigt die Entschlossenheit, aber auch die Kopflosigkeit des Establishments. Wir müssen beachten: Der Eindruck, mit dem vorliegenden Belastungspaket sei mit einmaliger, kurzer Entschlossenheit alles wieder ins Lot gebracht worden, ist eine Fata Morgana. Die Rezession in der Euro-Zone wird sich vertiefen, Einkommen wird vernichtet, Haftungen schlagend werden. Wesentliche Teile des Belastungspakets bestehen nur aus Überschriften, insbesondere die einnahmenseitigen Maßnahmen. Mit der Gefügigkeit der großen Interessensorganisationen kommen die Begehrlichkeiten der Eliten ins Wuchern. Es stehen uns große Angriffe auf das Sozialversicherungssystem, insbesondere die Pensionen, die Flächentarifverträge und die kommunalen Budgets bevor. Alle Loyalitäten und Abhängigkeiten werden großen Belastungen ausgesetzt werden. Eine solidarische und demokratische Wende wird jedoch nur dann stattfinden, wenn sich in diesen Auseinandersetzungen gesellschaftliche Kräfte organisieren, die den machtpolitischen Zusammenhang auf die Agenda setzen. Der EU-Fiskalpakt ist illegal. Es ist wichtig, dass dies ausgesprochen wird.

Werkstatt-Rundbrief: Manche konzentrieren sich jetzt darauf, die Einführung einer europäischen Finanztransaktionssteuer zu fordern oder die Gründung einer europäischen Ratingagentur?

Boris Lechthaler: Damit wird einmal mehr vermittelt, die EU sei auf dem richtigen Weg, es gehe bloß noch um Ausgewogenheit, die Ausgestaltung im Detail. So wird das Lied der Opposition noch zum Wasser auf den Mühlen der Eliten. Es dürfen Überschriften benannt werden, mit denen zentrale EU-Institutionen gestärkt werden, über deren konkrete Praxis dann Deutschland entscheidet. Diesen Vorgang konnten wir schon im Rahmen des EU-six-packs beobachten. Eines der Kriterien für das Monitoring der nationalen Budgetpläne durch die EU-Komission bilden die außenwirtschaftlichen Ungleichgewichte. Geahndet werden jedoch nicht die Lohndrückerei in den exportstarken Ländern, sondern Mindestlöhne und Standards in den schwachen Ländern. Finanztransaktionssteuern, Vermögenssteuern mögen ihre Berechtigung haben. Sich jetzt darauf zu beschränken, heißt nichts anderes, als sich wie ein Esel mit jeder Karotte im Kreis führen zu lassen.

Werkstatt-Rundbrief: Siehst Du eine europäische Perspektive für eine solidarische und demokratische Wende?

Boris Lechthaler: Der Präsident der EZB, Mario Draghi, meint, es ist Zeit sich vom Sozialstaat zu verabschieden. Das zeigt nicht nur, dass der EU-Integrationsprozess ein Marsch in die Vergangenheit ist. Auch wenn sich die EU mit allen möglichen Adjektiva schmückt. Sie ist eigentlich ein antieuropäisches Projekt. Einzig den großen europäischen Konzernen in ihrem Kampf um globale Vorherrschaft verpflichtet, wird das Wohl der Menschen in Europa selbst bedeutungslos. Umgekehrt ist der Kampf um die Durchsetzung einer Volksabstimmung über den EU-Fiskalpakt, ja auch weitergehend die Forderung nach Austritt aus der EU auch ein Akt europäischer Solidarität. Gerade für Österreich stellt sich die Frage zugespitzt. Wenn wir so wie bisher einfach brav mitmarschieren, werden wir wieder einmal zum Juniorpartner eines aggressiven Großmachtsprojekts unter deutscher Führung. Aus dieser Kumpanei müssen wir ausbrechen! Österreich hat sich bislang eine Scheinautonomie vermittels eines überdehnten Finanzsektors vorgegaukelt. Das fällt uns jetzt auf den Kopf und bringt uns erst recht in Abhängigkeit. Eine solidarische und demokratische Wende ist nur durchsetzbar, wenn das EU-Regime in Frage gestellt wird. Ein Solidarstaat würde mit Sicherheit zum Katalysator eines derartigen Prozesses auch in anderen Ländern.

Werkstatt-Rundbrief: Welche weiteren Schritte sind geplant?

Boris Lechthaler: Das Wissen rund um die EU-Entscheidungen ist nach wie vor minimal. Die nächsten Wochen müssen intensiv dafür genutzt werden, zu informieren. Dafür kann jede/r im Rahmen seiner/ihrer Möglichkeiten einen Beitrag leisten. Die Solidarwerkstatt und DIDF werden am Samstag, 12. Mai 2012 einen Umzug vom Haus der EU zum österreichischen Parlament veranstalten. Toll wäre es, würde es uns gelingen eine Menschenkette rund ums Parlament zu bilden. Dafür braucht es noch mehr Menschen, die sich einklinken. Insbesondere ersuchen wir BetriebsrätInnen und GemeinderätInnen aktiv zu werden. Es geht um die Interessen ihrer Leute. Es würde uns freuen, wenn noch andere Initiativen und Organisationen aktiv würden.


Weitere Informationen zum EU-Fiskalpakt
Video von der Aktions von Solidarwerkstatt und DIDF am 3. März in Wien "Volksabstimmung für Selbstbestimmung!"
Zum Unterstützen:

Online-Aktion
für einen Volksabstimmung über Schuldenbremse und neue EU-Budgetdiktate

Zum Nachhören:

Radio-Sendung der Solidarwerkstatt zum EU-Fiskalpakt