„Die Gewerkschaften werden fallen wie die Berliner Mauer", dieser Ausspruch wird von einer spanischen Ministerin kolportiert, nachdem unter dem Druck der EU dort ein Abbau von gewerkschaftlichen Errungenschaften durchgesetzt worden war, "den sich Arbeitgeber und rechtsgerichtete Regierungen zuvor nicht einmal zu fordern trauten“ (Guglielmo Meardi). Auch in Österreich nehmen vor dem Hintergrund neuer EU-Verordungen und -Verträge die Angriffe auf Kollektivverträge zu. Ein Grund mehr, am 18. Mai unter der Losung "SolidarstaAt statt EU-Konkurrenzregime!" auf die Straße zu gehen.


Die Generaldirektion Wirtschaft und Finanzen der EU-Kommission hat im „Labour Market Development“-Bericht 2012 publiziert, was ihre Vorstellungen von „beschäftigungsfreundlichen Reformen“ sind: 

- Absenken der Sozialversicherungsbeiträge (das bedeutet: Reduzierung der Budgets für Gesundheit und Altersversorgung)
- Reduktion der Arbeitslosenunterstützung
- Lockerung des Kündigungsschutzes, Ausweitung von Probezeiten, Flexibilisierung der Arbeitszeit, Reduktion von Überstundenzuschlägen
- Senkung von Mindestlöhnen
- Abbau von kollektivvertraglichen Regelungen zugunsten „dezentralisierter“ Lohnfindung
- Deklariertes Ziel: „Reduktion der gewerkschaftlichen Verhandlungsmacht“ (1) 

Diese Vorstellungen der Kommission sind keine Papiertiger, im Gegenteil: Dort wo die Kommission direkten Zugriff hat, also vor allem bei jenen Ländern, die das EU-Konkurrenzregime unter die „Rettungsschirme“ der sog. „Troika“ (EU-Kommission, EZB, IWF) getrieben hat, wird diese Politik brutal durchgesetzt.

Vier Stroßrichtungen sind dabei erkennbar: 

Erstens: Beendigung oder Abschaffung von Tarifverträgen auf nationaler Ebene. In Griechenland etwa wurde auf Druck der „Troika“ gleich der nationale Kollektivvertrag außer Kraft gesetzt und eine 22% Reduktion der Mindestlöhne, bei Beschäftigten bis 25 Jahre sogar eine Kürzung von 31 Prozent dekretiert. Auch in Irland und Rumänien wurden unter EU-Druck die nationalen Kollektivverträge ausgehebelt. 

Zweitens: Erweiterung betrieblicher Abweichungsmöglichkeiten von sektoralen Flächentarifverträgen. In Spanien und Italien etwas wurde das sog. „Günstigkeitsprinzip“ abgeschafft, sodass nunmehr betriebliche Vereinbarungen unbeschränkten Vorrang vor kollektivvertraglichen haben.  

Drittens: Verschärfung der Voraussetzungen für die Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) von Tarifverträgen. So wurden z.B. in Portugal auf Druck der Troika hohe Hürden für eine AVE eingeführt, so dass in Zukunft nur noch wenige Tarifverträge allgemeinverbindlich erklärt werden dürften. Die Bindekraft kollektiver Aushandlungen sinkt damit dramatisch. 

Viertens: Auflösung des gewerkschaftlichen Verhandlungsmonopols, indem nicht-gewerkschaftlichen Arbeitnehmergruppen das Recht zu betrieblichen Tarifvereinbarungen erhalten. In Ländern wie Spanien, Griechenland und Portugal wurde auch nicht-gewerkschaftlichen ArbeitnehmerInnen das Verhandlungsrecht eingeräumt, um betriebliche Abweichungen von Kollektivverträgen auch dort durchzusetzen, wo es keine gewerkschaftlichen Verhandlungspartner auf betrieblicher Ebene gibt. 

„Die Gewerkschaften werden fallen wie die Berliner Mauer“ 

Das gewerkschaftliche Debattenmagazin des DGB „Gegenblende“ kommt zu einem alarmierenden Befund: „Die Folgen der durch die Troika propagierten Strategie der radikalen Dezentralisierung sind bereits heute unübersehbar. Ehemals starke Flächentarifvertragssysteme werden systematisch ausgehöhlt und zerstört. Mehr noch: Der Tarifvertrag selbst – als Instrument einer kollektiven Regelung der Lohn- und Arbeitsbedingungen – verliert deutlich an Bedeutung. So hat sich z.B. in Spanien die Anzahl der im Jahr 2012 gültigen Tarifverträge in nur zwei Jahren gegenüber dem Jahr 2010 fast halbiert. In vielen Ländern mündet der Umbau der Tarifvertragssysteme in einen dramatischen Rückgang der Tarifbindung. Schließlich kommt es auch zu einem massiven Machtverlust der Gewerkschaften, die vor dem Hintergrund des krisenbedingten Anstiegs der Massenarbeitslosigkeit nicht mehr in der Lage sind, erhebliche Kürzungen der (Real-)Löhne zu verhindern.“ (2) 

Auch die Europäische Zentralbank macht den Ankauf von Staatsanleihen angeschlagener EU-Staaten von der Durchführung neoliberaler Arbeitsmarktreformen abhängig. Guglielmo Meardi, Professor für industrielle Arbeitsbeziehungen an der Universität Warwick kommt daher zum Schluss, dass in Spanien und Italien, „die Reformen von 2011-12 ohne die direkte institutionelle Intervention der EU nicht denkbar gewesen wären. In wenigen Monaten haben die Europäische Kommission und die Europäische Zentralbank das erreicht, was sich die spanischen und italienischen Arbeitgeber und rechtsgerichtete Regierungen nicht einmal zu fordern trauten“. (3) Von einer spanischen Ministerin wird in diesem Zusammenhang die Kampfansage kolportiert: „Die Gewerkschaften werden fallen wie die Berliner Mauer.“ (4) 

Nulllohnrunden, Aufspaltung der KV-Verhandlungen, 12-Stunden-Tag… 

Die Angriffe auf die Kollektivverträge sind freilich nicht auf jene EU-Länder beschränkt, die unter der direkten Vormundschaft der europäischen „Rettungsschirme“ stehen. Der sog. Euro-Plus-Pakt, der auch von der österreichischen Regierung unterzeichnet worden ist, drängt die Mitgliedsstaaten in Richtung dazu, Tarifverträge in Frage zu stellen und Lohnzurückhaltung, vor allem im öffentlichen Sektor, zu üben. Kaum war Faymanns Tinte unten diesen Pakt trocken, wurden auch schon die Nulllohnrunden im Öffentlichen Dienst verordnet.

Mit neuen EU-Verordnungen stehen der EU-Kommission mittlerweile auch scharfe Werkzeuge zur Verfügung, direkt in die Lohn- und Sozialpolitik der Mitgliedsstaaten zu intervenieren. Es wundert daher wenig, dass die Kapitalseite auch in Österreich Morgenluft wittert, um mit dem Rückwind aus Brüssel Kollektivverträge zu attackieren. Speerspitze dieser Attacken ist offensichtlich die exportorientierte Großindustrie, die etwa die Aufspaltung der KV-Verhandlungen im Metallbereich durchsetzte. Der nächste Angriff auf kollektive Arbeitsbestimmungen läuft derzeit bei der Arbeitszeit. Über Betriebsvereinbarungen bzw. Einzelverträge soll der Weg in den 12-Stundenarbeitstag „gleitend“ geebnet werden. 

Die ArbeitnehmerInnen in Österreich zählen zu den großen VerliererInnen des EU-Beitritts. Nettoreal pro Arbeitnehmer gab es zwischen 1995 und 2012 keine Reallohnerhöhungen mehr, obwohl in diesem Zeitraum die reale Wirtschaftsleistung je Beschäftigten um über 23% gestiegen ist. Die durchschnittlichen Realeinkommen der ArbeiterInnen sanken zwischen 1998 und 2011 um 12% (Rechnungshofbericht 2012, Rechnungshof). Die Arbeitslosigkeit befindet sich auf Rekordhoch. Auch bei ÖGB und AK beginnt die Erkenntnis zu reifen, worin der machtpolitische Kern der EU besteht. Lukas Oberndorfer von der AK-Wien: „Strategisch handelnde Akteure mit entsprechenden Interessen (nationale Staatsapparate [zB Finanzministerien], transnationale Investoren, Geldvermögensbesitzer, die Kommission,…) verschieben u. a. die Wirtschafts‐ und Währungspolitik auf die europäische Ebene, weil sie sich davon eine erleichterte Durchsetzung ihrer Interessen erwarten.“ (4) 

Diese Verschiebung der Macht zugunsten der großen Industrie- und Finanzkonzerne ist auf EU-Ebene im Primärrecht einzementiert. Dazu der Staatsrechtler Andreas Fishan von der Universität Bielefeld: “Die konstitutionellen Grundlagen der Europäischen Union schotten diese gegen eine sozialreformatorische Politik ab, lassen eine Umstellung in Richtung einer solidarischen Ökonomie nicht zu, weil diese mit den normativen Vorgaben des europäischen Primärrechts nicht übereinstimmt […] Die programmatischen Festlegungen des europäischen Primärrechts sind so eng, dass sie Politik nur in einer ganz besonderen, nämlich neoliberalen Weise zulassen“ (5). 

Eine realistische Alternative 

Dazu muss man wissen: Nichts ist so einbetoniert wie EU-Primärrecht. Denn eine Veränderung des EU-Primärrechts ist nur möglich, wenn sich in allen 28 Mitgliedsstaaten Verfassungsmehrheiten bzw. Mehrheiten bei Volksabstimmungen dafür finden - gleichzeitig. Das ist – vor allem für Bewegungen von unten – faktisch unmöglich. Einen realistischeren Weg propagiert die Solidarwerkstatt: den Austritt Österreichs aus der EU, um wieder den Raum aufzumachen für eine solidarische Wirtschafts- und Sozialpolitik. Aber – Hand aufs Herz - auch das wird schwer genug. Setzen wir einen Schritt in diese Richtung bei der Kundgebung „SolidarstaAt statt EU-Konkurrenzregime!“ am 18. Mai beim Umzug vom Haus der EU zum österreichischen Parlament.  

Gerald Oberansmayr
(11.5.2014)

Anmerkungen: 
(1) Europäische Kommission (2012): Labour Market Developments in Europe 2012, European Economy Nr. 5/2012,
2) Thorsten Schulten, in: Gegenblende, 12.5.2013
(3) Meardi, Guglielmo (2012), Employment relations under external pressure: Italian and Spanishreforms in 2010-12. International Labour Process Conference, Stockholm 27-29 March
(4) zit. nach Lukas Oberndorfer, AK-Wien, Autokratische Wende in der EU?, gpa-djp, Juni 2012
(5) Andreas Fishan, Herrschaft im Wandel, in: PapyRossa, Köln