Die Gewerkschaften legen derzeit ihre Lohnforderungen für die Kollektivvertragsverhandlungen vor. Diese sind zweistellig – sehr zu Recht. Und wir müssen darum kämpfen, dass auch das Endergebnis zweistellig bleibt. Warum? Sechs Anmerkungen aus Sicht der Solidarwerkstatt Österreich.


Erstens: Gewinne und Dividenden sprudeln

Die Industrie verweist auf eine beginnende Eintrübung der Konjunktur, was sie aber verschweigt: Bei den KV-Verhandlungen geht es darum, auf Basis des vergangenen Jahres dafür zu sorgen, dass die ArbeitnehmerInnen hinsichtlich der Verteilung zwischen Arbeit und Kapital nachziehen können. Und da zeigt sich: Die Unternehmen haben in den vergangenen Jahren gut bis bestens verdient. Die im ATX börsenotierten großen Unternehmen konnten im Zeitraum 2020 bis 2022 ihre Gewinne sprunghaft erhöhen: von 5,2 Milliarden (2020) über 10,3 Milliarden (2021) auf 14,6 Milliarden (2022). Ein Anstieg von 180 Prozent in zwei Jahren (sh. Grafik 1). Allein im Vorjahr einen Gewinnzuwachs von 42 Prozent! Doch auch in der Gesamtwirtschaft stiegen im Vorjahr die Gewinne der Unternehmen laut Nationalbank – um die Corona-Subventionen bereinigt – um 24 Prozent.Auch die Gewinnausschüttungen an die Aktionäre können sich sehen lassen. Zwar gingen die Dividenden von 4,1 Milliarden (2021) auf – immer noch stattliche – 3,5 Milliarden (2022) – leicht zurück. Für 2023 wird aber eine neue Rekordausschüttung von 5,5 Milliarden prognostiziert. Ein Zuwachs von 58% gegenüber dem Vorjahr (sh. Grafik 1). (1)

Grafik 1:

Kollektivvertrag G1


Zweitens: Löhne haben durch Inflation massiv an Kaufkraft verloren

Die Preise sind seit 2019 um mehr als ein Drittel stärker gestiegen als die Löhne. Seither sank die Kaufkraft der Löhne in den Kollektivverträgen um 5,3 Prozent (sh. Grafik 2). So wenig konnten sich Arbeitnehmer:innen zuletzt im Oktober 2012 um ihren Lohn kaufen (sh. Grafik 3). Die Menschen erhalten zwar mehr Einkommen durch ihre Arbeit, aber können sich trotzdem weniger leisten. Die Inflation wurde durch die bisherigen Lohnerhöhungen nicht vollständig abgegolten. Umso unabdingbarer sind angesichts der nach wie hohen Teuerung – die rollierende Inflation der letzten 12 Monate betrug 9,6% - kräftige Lohnerhöhungen unabdingbar. (2)

Grafik 2:

Kollektivvertrag G2

Grafik 3:

Kollektivvertrag G3


Drittens: Mindestlohn 2.400 Euro!

Der Kaufkraftverlust trifft die unteren Einkommen am stärksten. Das bestätigt ein Bericht der Österreichischen Nationalbank: „Jene, die weniger Einkommen haben, sind aufgrund unterschiedlicher Warenkörbe oft mit einer viel stärken Inflation konfrontiert.“ (3) Existenzielle Güter, v.a. Wohnen und Energie, die besonders teuer geworden sind, spielen im Warenkorb unterer Einkommen eine weitaus größere Rolle als bei Wohlhabenden und Reichen. Die Erhebung der Nationalbank zeigt, dass insbesondere bei ArbeiterInnen-Haushalte Teuerung in den letzten drei Jahren besonders zugeschlagen hat. Wir halten es dafür an der Zeit, die Mindestlöhne deutlich stärker zu erhöhen – auf mindestens 2.400 Euro monatlich brutto.

Viertens: Verbesserungen im Rahmenrecht

Derzeit erhalten in der Metallbranche nur Beschäftigte, die 25 Jahre ununterbrochen im selben Betrieb beschäftigt waren, eine sechste Urlaubswoche. Aufgrund der wachsenden Flexibilität und Volatilität des Arbeitslebens ist das immer unrealistischer. Die Metall-Gewerkschaft fordert daher zu Recht einen rascheren Zugang der ArbeitnehmerInnen zur sechsten Urlaubswoche. Insgesamt glauben wir, dass der Kampf um eine sechste Urlaubswoche für alle ArbeitnehmerInnen in allen Branchen auf die gewerkschaftliche Tagesordnung gehört, damit die Arbeitenden angesichts des wachsenden Drucks in der Arbeitswelt ausreichend Zeit für Erholung, Familien- und Sozialleben haben.

Fünftens: Ein kleines Stück internationaler Solidarität

Das Gejammere der Industrie, Lohnerhöhungen würden ihre internationale Wettbewerbsposition unterlaufen, greift nicht. Die Fakten sprechen eine andere Sprache: Die Produktion der heimischen Industrie (Warenherstellung) stieg zwischen dem ersten Quartal 2000 und dem zweiten Quartal 2023 um 79,8 Prozent. Lediglich in Belgien wuchs die Industrieproduktion mit 90,7 Prozent stärker. In anderen Ländern wie Deutschland (+ 24,8 Prozent), Schweden (+ 23,5 Prozent) oder Finnland (+ 26,5 Prozent) fiel der Anstieg deutlich geringer aus. In Frankreich (- 7,7 Prozent), Griechenland (-11,7 Prozent) und Spanien (- 15 Prozent) nahm die Produktion hingegen ab. Den stärksten Rückgang verzeichneten Italien und Portugal mit minus 18,5 Prozent bzw. minus 19,6 Prozent (sh. Grafik 4). Berücksichtigt man nicht nur die Warenherstellung, sondern die gesamte Industrie inklusive der kleineren Bereiche Energie, Bergbau und Wasserwirtschaft, hat Österreich sogar den größten Anstieg bei der Industrieproduktion.

Unter dem europäischen Durchschnitt liegt hingegen der Anstieg der Lohnstückkosten in der österreichischen Industrie. Sie messen die Lohnkosten pro produziertem Stück. Die Lohnstückkosten legten zwischen 2000 und 2022 um 10,5 Prozent zu. Damit liegt Österreich weit unter dem Durchschnitt der EU-Länder von 30 Prozent zurück. Finnland (+ 7,8 Prozent), Deutschland (6,2 Prozent) und die Niederlande (5,4 Prozent) verzeichneten einen geringeren Anstieg der Lohnstückkosten als Österreich. Alle westeuropäischen Länder mit niedrigeren Lohnstückkosten-Wachstum hatten einen geringeren Anstieg der Produktion als Österreich. (4)

Diese bedenklich wachsende wirtschaftliche Kluft zwischen den EU-Staaten ist nicht zuletzt Ausdruck des EU-Konkurrenzregimes, wie es durch Binnenmarkt und Währungsunion einzementiert wurde. Dadurch dass den Nationalstaaten die wirtschaftspolitischen Instrumente zum Ausgleich unterschiedlicher Produktivitätsniveaus entwunden wurden, existiert ein andauernder Druck in Richtung Lohn- und Sozialdumping. Das verschiebt innerhalb der EU-Staaten die Kräfteverhältnisse zugunsten der Kapitalseite und das vertieft die Ungleichheit und die zentrifugalen Kräfte zwischen diesen Staaten. Starke Lohnerhöhungen in Österreich sind angesichts der – im Vergleich zu anderen EU-Staaten - gestiegenen industriellen Wirtschaftskraft nicht nur leistbar, sie sind auch ein kleines Stück Solidarität mit den ArbeitnehmerInnen jener Länder, die in den letzten beiden Jahrzehnten besonders stark unter die Räder des EU-Konkurrenzregimes gekommen sind.

Grafik 4:

Kollektivvertrag G4


Sechstens: Mehr Brutto vom Netto!

Ja richtig gehört: Denn der umgekehrte Schlachtruf der Neoliberalen „Mehr Netto vom Brutto!“ ist ein unverhohlener Angriff auf die öffentlichen Kassen und damit auf den Sozialstaat. „Mehr Netto vom Brutto“ heißt unter dem Strich: weniger Geld für Soziales, Gesundheit, Pflege, Bildung, sozialen Wohnbau, Kinderbetreuung, kommunale Dienstleistungen usw. Die Folgen: Eine Verschlechterung der öffentlichen Leistungen trifft jene, die wenig haben, am härtesten – gerade unter Bedingungen der hohen Inflation. Für die Reichsten erschließen sich dagegen durch die Privatisierung öffentlicher Leistungen neue Kapitalanlage- und Renditemöglichkeiten. Das freut die Aktionäre und ihre neoliberalen Fürsprecher. Für die Mehrheit der Bevölkerung ist das gar nicht wünschenswert. Wir fordern daher mehr Brutto vom Netto, um nicht nur die Individuallöhne, sondern auch die öffentlichen Gemeinschaftskassen kräftig zu erhöhen, damit wir – unabhängig vom Einkommen - unseren Kindern die beste Bildung zukommen lassen können, den Pflege- und Gesundheitsnotstand endlich überwinden, leistbaren Wohnraum für alle schaffen, den öffentlichen Verkehr attraktivieren können uvm.

Am besten funktioniert mehr Brutto vom Netto, wenn solidarische Abgaben auf die gesamte Wertschöpfung ausgeweitet werden, also auch Gewinne und Abschreibungen einbeziehen, um eine stabile Finanzierungsgrundlage abzusichern und alle entsprechend ihrer Leistungsfähigkeit an der Finanzierung zu beteiligen. So kann der Einstieg in die dringend notwendige sozialökologische Transformation unserer Wirtschaft gelingen: Gestiegene industrielle Produktivität wird nicht mehr für gefährliche Exportschlachten auf den globalen Märkten oder für den Luxuskonsum einer Minderheit verpulvert, sondern finanziert die soziale Sicherheit, gute öffentliche Leistungen für alle und den Ausbau ökologischer Infrastrukturen. Diese Auseinandersetzung geht zwar über den gewerkschaftlichen Kampf hinaus, ist aber auch Teil davon: Denn nur mehr Brutto vom Netto sichert auch, dass die ArbeitnehmerInnen in Pflegeeinrichtungen, Spitälern, Kindergärten, Schule, sozialen Dienstleistungen, Verkehrsunternehmen etc. anständige Löhne und Arbeitsbedingungen durchsetzen können.

Lassen wir uns nicht auseinanderdividieren!

(Oktober 2023)


Quellen:
(1) https://wien.arbeiterkammer.at/service/studien/WirtschaftundPolitik/studien/AK-Dividendenreport_2023.pdf
(2) https://www.momentum-institut.at/news/kaufkraft-der-mindest-loehne-so-niedrig-wie-vor-11-jahren
(3) https://www.momentum-institut.at/news/industrie-anstieg-der-heimischen-produktion
(4) Zit. nach Wiener-Zeitung 29.9.2023