Italiens Gewerkschaften streiken gegen die Haushaltspolitik Melonis. Die Austeritätspolitik der neofaschistischen Regierung liegt ganz auf der Linie Brüssels.
Rekordverdächtige 622 Streiks fanden 2024 in Italien statt. Sie richteten sich vor allem gegen die Sparpläne der rechtsgerichteten Regierung unter Führung der neofaschistischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Höhepunkt war der Generalstreik Ende November 2024. Betroffen waren vor allem Behörden und Staatsbetriebe, aber auch private Unternehmen. Schwerpunkt der Streiks waren Schulen, Krankenhäuser, der Bahn- und Nahverkehr, die Post. Zudem gingen Zehntausende in italienischen Städten zu Kundgebungen auf die Straße und forderten höhere Löhne und Renten sowie mehr Geld für Gesundheit, Bildung und den öffentlichen Dienst insgesamt. Die EU hatte 2024 die Fiskalregeln wieder – in adaptierter Form – in Kraft gesetzt und gegen acht EU-Mitgliedsstaaten, darunter Italien, ein Verfahren „wegen übermäßigen Defizit“ eröffnet, um das Defizit rasch wieder unter die ominösen drei Prozent des Bruttoinlandsprodukts zu senken.
Universalistisches Gesundheitssystem „unwiederbringlich gefährdet“
Seit die rechten Parteien in der Regierung sind, ist die EU-kritische Rhetorik de facto einer Unterwerfung unter Brüssel gewichen. Die Regierung Meloni hat ein 30 Milliarden Euro umfassendes Paket geschnürt, um bis 2026 mit dem Defizit unter die drei Prozent-Marke zu gelangen. Die Rechnung dafür bezahlen die sozial benachteiligten Gruppen der Gesellschaft, da sie in erster Linie von der Sparpolitik, von den linearen Kürzungen quer durch alle Ministerien – mit Ausnahme des Verteidigungsministeriums (sh. Kasten) - betroffen sind. Mehr als 14 Milliarden Euro werden in den drei Jahren von 2025 bis 2027 bei den Ministerien, dem Bildungswesen, der Forschung, den Regionen und den lokalen Gebietskörperschaften gekürzt. Besonders hart betroffen ist der Gesundheitsbereich, der in Italien seit langem im Niedergang begriffen ist.
Seit den 90er Jahren hat sich die Zahl der Krankenhausbetten je 1000 EinwohnerInnen von 6,5 auf knapp drei halbiert. Seit 2000 wurde die Zahl der Spitalsbetten von 268.000 auf 184.000 reduziert (ein Minus von über 30 Prozent), die Zahl der Krankhäuser ist seit 2000 von 1320 auf 990 zurückgegangen (ein Minus von 25 Prozent) - trotz wachsender Bevölkerung. Nicht zuletzt aufgrund dieser Misere im Gesundheitswesen hat die Corona-Krise Italien mit fast 200.000 Toten besonders hart getroffen. Mit der Verschlechterung des öffentlichen Gesundheitswesens boomt der private Gesundheitsmarkt. 46 Milliarden geben die ItalienerInnen, die es sich leisten können, für private Gesundheitsleistungen aus. 4,6 Millionen müssen aufgrund mangelnden öffentlichen Angebots und mangels privater Kaufkraft auf eine Gesundheitsbehandlung verzichten.
Trotz dieser katastrophalen Erfahrung geht die Sparpolitik unter der Regierung Meloni unvermindert weiter. Die Regionen haben wiederholt angeprangert, dass das universalistische Gesundheitssystem in Italien „unwiederbringlich gefährdet“ sei, wenn nicht rasch gegengesteuert wird. Im April 2024 veröffentlichten 14 führende italienische Wissenschaftler, darunter der Nobelpreisträger Giorgio Parisi und der Präsident des Obersten Gesundheitsrates Franco Locatelli, einen öffentlichen Appell, in dem sie warnten, dass „Italien vor einem Zusammenbruch des lebenswichtigen universellen Gesundheitssystems steht“, und forderten eine angemessene öffentliche Gesundheitsfinanzierung, um zumindest den europäischen Durchschnitt von 8 Prozent öffentliche Gesundheitsausgaben gemessen am BIP zu erreichen. Der Anteil der öffentlichen Gesundheitsausgaben Italiens am BIP ist von 6,8 (2023) auf 6,3 Prozent (2024) gesunken. Die Regierung Meloni plant, diesen Anteil 2025 auf 6,04, 2027 auf 5,91 Prozent und 2030 auf 5,6 Prozent zu senken – ein negativer Spitzenwert.
Alleine durch die Absenkung des relativen Anteils am BIP entgehen dem italienischen öffentlichen Gesundheitswesen rund 20 bis 30 Milliarden Euro jährlich! Melonis Ankündigung, dass „Gesundheit eine unserer Prioritäten ist“, entbehrt angesichts dieser Zahlen nicht eines gewissen Zynismus. Ohne eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen und einer Beendigung der chronischen Unterfinanzierung geht dem italienischen Gesundheitssektor immer mehr Fachpersonal verloren. Zehntausende ÄrztInnen sind in den vergangenen Jahren ins Ausland abgewandert. Aufgrund des Personalmangels und der schlechten Arbeitsbedingungen kündigen täglich sieben Ärztinnen und Ärzte ihren Job im Krankenhaus. Die Gewerkschaft schätzt, dass dem italienischen Gesundheitswesen 30.000 ÄrztInnen und 300.000 PflegerInnen fehlen.
„Euro und ökonomische Stagnation Hand in Hand“
Die Regierung Meloni und die EU argumentieren mit der Gesamtverschuldung Italiens, die mittlerweile auf 140 Prozent des Bruttoinlandprodukts geklettert ist – 80 Prozentpunkte mehr als die EU-Maastricht-Regeln erlauben. Übersehen wird dabei allerdings das Wesentliche. Italien lebt seit Jahrzehnten nicht über, sondern unter seinen Verhältnissen. Italien hat nämlich eine dramatische Unterbeschäftigungskrise, von der man selten etwas hört. Sie wird auf 20 bis 30 Prozent geschätzt, zählt man zu den offiziell gemeldeten Arbeitslosen auch unterbeschäftigte Teilzeitbeschäftigte und nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehende Erwerbslose in Rechnung. In dieser Situation wäre es die Aufgabe des Staates, durch öffentliche Nachfrage und Investitionen Wirtschaft und Arbeitsmarkt anzukurbeln. Das hat Italien seit dem Beitritt zur EU unter dem Druck der Maastricht-Kriterien nicht getan. Italien hat seit den 90er Jahren in den meisten Jahren – mit Ausnahme der Corona-Zeit – einen positiven staatlichen Finanzierungssaldo, also nach Abzug der Zinsen einen Primärüberschuss.
Gleichzeitig hat die Währungsunion Italien tief getroffen. Stieg bis zur Einführung des Euros um die Jahrtausendwende die italienische Industrieproduktion laufend an, so ist sie seither dramatisch eingebrochen. Mit der Einführung der Währungsunion entfiel der Wechselkurs als Mechanismus, um durch Abwertung der Währung international die Konkurrenzfähigkeit zu erhalten. „Der Euro ist eine darwinistische Währung“, beschrieb der finnische Europaminister Alexander Stubb die Wirkungsweise dieses Konkurrenzmechanismus. Die Währungsunion hat nicht zum Zusammenwachsen Europas geführt, sondern die EU-Staaten in einen brutalen Wirtschaftskrieg hineingetrieben, in dem jene Staaten bzw. deren Industrien sich als Sieger durchsetzen konnten, die am „erfolgreichsten“ die Lohnkosten senken konnten. Während die deutsche Industrieproduktion seit 2000 um rund 20 Prozent gestiegen ist, sank die italienische um 20 Prozent ab und stagniert auf diesem Niveau (sh. Grafik oben).
Da der Wechselkurs als Puffer nicht mehr zur Verfügung steht, um durch Abwertung die Volkswirtschaft zu schützen, steht dem Land nur mehr die „innere Abwertung“ zur Verfügung, das heißt die Senkung von Löhnen und Sozialleistungen. Laut OECD sind die italienischen Reallöhne zwischen 2010 und 2023 um acht Prozent gesunken. „2000 war Italiens durchschnittlicher Lebensstandard in etwa gleich dem Deutschlands. Aber nach der Einführung des Euros im Jahr 1999 fiel das Land hinter Großbritannien (2002) und Frankreich (2005) wieder zurück. 2010 war das italienische Pro-Kopf-Einkommen mehr als 20 Prozent unter dem Deutschlands. Im Fall Italiens gehen die Einführung des Euros und die ökonomische Stagnation Hand in Hand“, resümieren die beiden gewerkschaftsnahe Ökonomen Philipp Heimberger und Nikolaus Kowall (1).
Perspektiven des Kampfes
Auch 2025 geht die Streikbewegung in Italien weiter. Das ist wichtig, auch wenn Erfolge bisher ausgeblieben und rasche Durchbrüche nicht erwartbar sind. Die EU und die rechtsextreme Regierung Italiens ziehen an einem Strang. Die Neofaschistin Georgia Meloni ist zum Darling der EU-Kommission geworden. Neoliberal, gewerkschaftsfeindlich, militaristisch versteht sie die zentralen Anliegen des EU-Regimes in Italien durchzusetzen und den sozialen Protest in Hass gegen Flüchtlinge umzulenken. Gewerkschaftsbewegung und Linke müssen erkennen, dass der Kampf gegen die soziale Misere, die Krise des Gesundheitssystems und den wirtschaftlichen Niedergang eine Perspektive erfordert: den Austritt aus Euro und EU bzw. den damit verbundenen Bedingungen, die eine fortschrittliche Alternative verunmöglichen. Erst mit dieser Perspektive können politischer und gewerkschaftlicher Kampf, soziale und ökologische Frage miteinander verbunden werden und durchsetzungsfähige Allianzen im Kampf gegen Neoliberalismus und Rechtsextremismus geschmiedet werden.
Aber das gilt bekanntlich nicht nur in Italien.
Quellen: (1) https://www.socialeurope.eu/seven-surprising-facts-about-the-italian-economy