Em. Univ. Prof. Dr. Emmerich Talos (Universität Wien), Proponent des Volksbegehrens "Arbeitslosengeld rauf!", spannt in diesem Beitrag einen Bogen über 100 Jahre Geschichte der Arbeitslosenversicherung von 1920 bis 2020.

Wenn wir einen Blick auf den österreichischen Sozialstaat werfen, so ist konstatierbar: Der österreichische Sozialstaat ist ein zentraler und unverzichtbarer Faktor in unserer Gesellschaft. Jenes Ausmaß von Teilhabechancen, das heute Erwerbstätigen und ihren Familien, aber auch Bedürftigen zukommt, wäre weder allein durch den Markt, geschweige denn allein durch familiäre und caritative Unterstützung erreichbar. Der Sozialstaat fiel nicht vom Himmel. Er ist seit seinen Anfängen Ergebnis politischer und gesellschaftlicher Auseinandersetzungen.

1. Zur Konstituierung

Nach ersten Ansätzen des ös-terreichischen Sozialstaates in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erfolgte unter den veränderten sozialen und politischen Bedingungen in den Jahren nach dem Krieg ein beträchtlicher Ausbau. Zu den her-ausragenden Errungenschaften vom Beginn der Ersten Republik zählte neben dem Achtstundentag und der Einführung der Betriebsräte die definitive Regelung der Arbeitslosenversicherung im Jahr 1920. Wichtig dabei war zum einen der politische Konsens, dass Arbeitslosigkeit kein individuell verursachtes Problem, sondern Konsequenz der Arbeitsmarkt- und Wirtschaftsentwicklung sei. Zum anderen der Konsens, dass die Arbeitslosenversicherung keine materielle Alternative zu bezahlter Arbeit ist und neben bereits geleisteter Erwerbsarbeit auch Arbeitsfähigkeit und Arbeitswilligkeit zur Voraussetzung hat.

Trotz dieses Konsenses zählte die Arbeitslosenversicherung zu jenen sozialpolitischen Materien, um die sich in der Folgezeit heftigste Auseinandersetzungen und Ablehnung seitens bürgerlicher Parteien und Unternehmerorganisationen rankten. So erfolgten beispielsweise im Austrofaschismus weitreichende Einschnitte in das System der Arbeitslosenversicherung: Das Leistungsniveau wurde gesenkt, große Teile der Arbeitslosen wurden ausgegrenzt und ausgesteuert.

Ebenso wie andere sozialpolitische Einrichtungen wurde nach dem „Anschluss“ 1938 das in Deutschland bestehende Arbeitslosenversicherungsgesetz mit dem Inkrafttreten des deutschen Rechts (1.1.1939) auf Österreich übertragen. Allerdings hat der Nationalsozialismus dann die Arbeitslosenversicherung durch die Verordnung über die Arbeitslosenhilfe faktisch beseitigt. Damit wurde das Versicherungsprinzip durch das Fürsorgeprinzip der Arbeitslosenfürsorge ersetzt: Deren Gewährung setzte bloß eine Bedürftigkeitsprüfung und Arbeitseinsatzunfähigkeit voraus.

2. Arbeitslosenversicherung in der Zweiten Republik

Die sozialpolitische Entwicklung war ab 1945 zum einen durch die Anknüpfung an die Tradition der Ersten Republik und an das in der Ersten Republik erreichte sozialpolitische Niveau geprägt. Zum anderen ging es vorerst auch um die Beseitigung verschiedener sozialpolitischer Bestimmungen, die im Austrofaschismus und Nationalsozialismus getroffen worden waren – was auch für die Arbeitslosenversicherung galt.

Am 15. Mai 1946 wurde das Arbeitslosenfürsorgegesetz als vorläufige Regelung der Arbeits-losenunterstützung auf versicherungsmäßiger Grundlage beschlossen. Als Anspruchsvoraussetzungen galten wie bereits 1920 Arbeitsfähigkeit, Arbeitswilligkeit und Arbeitslosigkeit. Die endgültige umfassende Neuregelung erfolgte mit dem am 22. Juli 1949 beschlossenen Arbeitslosenversicherungs-gesetz. Der Kreis der Pflichtversicherten wurde durch Einbeziehung der landwirtschaftlichen ArbeiterInnen erweitert. Das Arbeitslosengeld wurde nach Dauer der Beschäftigung abgestuft berechnet. Einen ganz wichtigen Punkt stellt die mit dem Gesetz aus 1949 ein-geführte Krankenversicherung der Arbeitslosen während des Bezugs der Leistungen aus der Arbeitslo-senversicherung dar. Anders waren die Bedingungen für die Anschluss-leistung an das Arbeitslosengeld: die Notstandshilfe. Für diese gilt das Kriterium der Notlage, sie ist zeitlich nicht begrenzt.

In der Folgezeit erfuhr die Arbeitslosenversicherung eine Reihe von Verbesserungen: hinsichtlich der Anwartschaft bzw. der Anrechnung von Einkünften auf das Arbeitslosengeld. 1969 wurde mit der Einführung der aktiven Arbeitsmarktpolitik eine Trennung von der traditionellen Arbeitslosenversicherung vorgenommen.

Seit Mitte der 1980er Jahre zeichneten sich im Bereich der Sozialpolitik merkbare Veränderungen ab (siehe Emmerich Tálos/Herbert Obinger: Sozialstaat Österreich (1945 – 2020), Wien 2020). Die Hochblüte des österreichischen Sozialstaates neigte sich ihrem Ende zu. Ambivalent gestaltete sich eben - so wie in anderen Leistungssystemen - der Veränderungsprozess im Bereich der Arbeitslosenversicherung: Bis 1993 sind sowohl Erweiterungen als auch Restriktionen konstatierbar. Zu jenen Maßnahmen, die Verbesserungen des Status quo im Leistungssystem brachten, zählen exemplarisch die Aufhebung der frauendiskriminierenden „Vollverdienstklausel“, die Einführung einer einheitlichen Nettoersatzrate beim Arbeitslosengeld (57,9%), die Einbeziehung von Teilen der AusländerInnen in die Notstandshilfe. Nicht zuletzt sei auch die Verlängerung der Bezugsdauer bei länger dauernder Versicherungszeit gekoppelt mit Lebensalter erwähnt.

Zur gleichen Zeit wurden leistungsbegrenzende Maßnahmen wie die Kürzung des Niveaus der Notstandshilfe (von 95% auf 92%), die Ausweitung der Sperrzeiten, die Anrechnung der Transferleistungen von Angehörigen bei der Berechnung der Notstandshilfe sowie die Ausweitung der erforderlichen Anwartschaftszeit für Jugendliche beschlossen.

Nach 1993 kommt der restriktive Kurs bis Ende des Jahrzehnts durchgängig zum Tragen: die Bedingungen des Arbeitslosengeldbezuges und die Bestimmungen zumutbarer Beschäftigung wurden verschärft, die Nettoersatzrate von 57,9% auf 57% bzw. auf 56% reduziert, die Dauer der Sanktionen bei sog. Arbeitsverweigerung erweitert.

Einschneidender sind die von der erstmaligen schwarz-blauen Koalition ergriffenen und angepeilten Maßnahmen. Diese ist im Jahr 2000 unter anderem mit dem Vorhaben angetreten, den Missbrauch von Sozialleistungen zu verhindern und zu sanktionieren, und verstärkte den restriktiven Kurs der vorangegangenen Jahre. Als Teil des Paketes „Erhöhung der Treffsicherheit“ wurde im Herbst 2000 das Leistungsniveau des Arbeitslosengeldes erneut reduziert (auf 55%), die Anwartschaftszeit bei wiederholter Inanspruchnahme des Arbeitslosen-geldes von 26 auf 28 Wochen verlängert, die Kontrolle und Sanktion bei Arbeitslosengeld-BezieherInnen verschärft sowie der Familienzuschlag vermindert. Ohne Umsetzung blieb die in Anlehnung an Deutschland ventilierte Zusammenlegung der Anschlussleistung an das Arbeitslosengeld, der Notstandshilfe, mit der Sozialhilfe. Kernpunkte einer Novelle des Arbeitslosenversicherungsgesetzes aus 2004 sind die Ablöse des Berufsschutzes (Verhinderung der zwangsweisen Vermittlung in eine andere als erlernte Tätigkeit während des Arbeitslosengeldbezuges) durch den Entgeltschutz (Sicherung von 80% des früheren Entgelts während der ersten 120 Tage) sowie die Berücksichtigung von Betreuungspflichten und Wegzeiten.

Unter der neuerlichen schwarz-blauen Regierungskoalition in den Jahren 2017 – 2019 war in der Arbeitslosenversicherung wie schon unter der Regierung Schüssel ein Paradigmenwechsel geplant: Die Notstandshilfe sollte abgeschafft, deren Aufgabe in die neu geregelte „Sozialhilfe“ verschoben werden. Das vorzeitige Ende der schwarz-blauen Regierung stoppte dieses Vorhaben.

3. Corona-Zeiten

Angesichts der coronabedingten enormen Zunahme der Anzahl und der Dauer der Arbeitslosigkeit wurde auf Basis einer Vereinbarung zwischen den Sozialpartnerorga-nisationen und der türkis-grünen Regierung ein spezifisches Kurzarbeitsbeihilfe-Modell realisiert. Zudem erfolgte ein Beschluss über eine befristete Anhebung der Notstandshilfe auf das Niveau des Arbeitslosengeldes und eine Einmalzahlung zum Arbeitslosengeld (von bisher 900 Euro).

Was Türkis-Grün für die Arbeitsl-senversicherung noch bringen wird, kann zurzeit noch nicht eingeschätzt werden. Insbesondere in der aktuellen Arbeitsmarktsituation von mehr als 530.000 Arbeitslosen (Stand Ende Jänner 2021) und einer wachsenden Zahl von Langzeitarbeitslosen zeigt sich die Wichtigkeit der materiellen Absicherung im Fall der Arbeitslosigkeit, zugleich aber auch deren Reformbedürftigkeit. Denn unübersehbar ist, dass die österreichische Arbeitslosenversicherung für viele Betroffene keine ausreichende Absicherung bietet (siehe z.B. Tamesberger/ Woltran, A&Wblog 16. April 2020). Österreich zählt mit 55% neben Großbritannien, Rumänien, Griechenland und Polen zu den Ländern mit den geringsten Nettoersatzraten in der Arbeitslosenversicherung. Das Niveau der Notstandshilfe ist noch niedriger.

Die von den Gewerkschaften, Arbeiterkammern, der SPÖ und zivilgesellschaftlichen Organisationen (wie z.B. Solidarwerkstatt) geforderte Erhöhung des Arbeitslosengeldes und der Notstandshilfe wird einen wesentlichen Streitpunkt in den gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen der nächsten Zeit bilden. Denn der (trotz Koalition mit den Grünen) zurzeit dominierende gesellschaftspolitische Entscheidungsträger ÖVP und ihr neuer Arbeitsminister sind nach wie vor strikt gegen eine Anhebung der Nettoersatzrate – mit der unzutreffenden Behauptung und Unterstellung, dass dies die Arbeitsunwilligkeit befördern würde.

erschienen in: Werkstatt-Blatt 1/2021

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