Tomáš Sobotka vom Vienna Institute of Demography schätzt, dass rund 14 Millionen Menschen seit Anfang der 90er Jahre Zentral- und (Süd)Osteuropa Richtung Westen verlassen haben (1). Die Bevölkerung ist seither in diesem Raum um rund 23 Millionen oder mehr als 10 Prozent geschrumpft. Hinter diesen Zahlen versteckt sich eine ungeheure Umverteilung von arm zu reich.

Auslöser für diese Wanderung waren in den 90er Jahren die neoliberalen Schocktherapien des Internationalen Währungsfonds, beschleunigt in den Nullerjahren durch die neoliberalen Schocktherapien der EU mit ihrem marktradikalen Binnenmarktprogramm. Besonders hart betroffen ist z.B. Bulgarien: 1,6 Millionen Menschen sind abgewandert, das entspricht rund einem Drittel der derzeitigen erwerbsfähigen Bevölkerung. Der Anteil der Auswanderer in der Altersgruppe 20 bis 45 Jahre liegt sogar bei über 41% (sh. Tabelle). Besonders intensiviert hat sich dieser Abfluss von Arbeitskräften mit dem EU-Beitritt der Mittel- und Osteuropäischen Staaten, der mit der „Arbeitnehmerfreizügigkeit“ die Arbeitsmärkte neoliberal deregulierte. So sind schätzungsweise 2,2 bis 2,7 Millionen Arbeitskräfte aus Polen seither nach Westeuropa abgewandert. Auch die Baltischen Republiken bluten ökonomisch aus: Rd. 370.000 Litauer zogen seit dem EU-Beitritt in den Westen. Die Bevölkerung Litauens ist seit den 90er Jahren um 22% gesunken, die Lettlands gar um 26%.

Die südliche Peripherie Europas wurde durch die drakonischen Austeritätsprogramme der EU wirtschaftlich devastiert. Immer weniger Menschen finden Arbeitsplatz und Perspektive in diesen Ländern. Rund 450.000 GriechInnen und 695.000 PortugiesInnen haben in den letzten Jahren das Weite gesucht.

Braindrain

Es sind mittlerweile vor allem junge, gut qualifizierte Menschen, die von Ost bzw. Süd nach West bzw. Nord ziehen. Unter dem Begriff „Brain drain“ ist diese Migration in der entwicklungspolitischen Debatte schon lange bekannt. Mit dem neoliberalen EU-Binnenmarktregime ist nun auch der europäische Kontinent voll davon erfasst. Rund 30% der Auswanderer aus Griechenland haben ein Studium absolviert; jede/r dritte Akademiker/in hat Estland verlassen, 9 von 10 Studierende dieser baltischen Republik sitzen bereits auf gepackten Koffern. Vor allem junge ÄrztInnen und Pflegekräfte verlassen scharenweise den Osten und Süden Europas und bringen die Gesundheitssysteme dieser Länder an den Rand des Kollapses. In Bulgarien ging seit 2000 die Zahl der Pflegekräfte von mehr als 600 auf weniger als 450 je 100.000 EinwohnerInnen zurück. Seit dem EU-Beitritt sind 7.000 ÄrztInnen aus Ungarn in den Westen gezogen, gemessen am heutigen Stand ist das jede/r vierte Arzt/Ärztin. Aus Rumänien sind 21.000 ÄrztInnen seit den 90er Jahren abgewandert, alleine 14.000 seit dem EU-Beitritt. Heute gibt es in Rumänien noch rd. 40.000 ÄrztInnen. Jede/r 5. Arzt/Ärztin hat Polen verlassen. Damit beginnt sich ein Teufelskreis zu drehen: 35% der Auswanderungswilligen geben das schlechte Gesundheitssystem in Polen als Motiv für ihre Emigration an.
Das Polen-Magazin bringt die Stimmung vieler im Land zum Ausdruck: „Man liefert dem westlichen Europa gut ausgebildete hoch motivierte Arbeitskräfte, die gute Nettozahler für die dortigen Sozialsysteme sind – und das quasi zum Nulltarif. Auf Dauer kann sich Polen das nicht leisten.“ (2)

Brain drain tab

 
Ungeheure Umverteilung

Diese neoliberale Arbeitsmigration ist eine ungeheure Umverteilung von relativ armen und zu relativ reichen Ländern. Wie eingangs festgehalten: Schätzungsweise 14 Millionen – großteils junge, vielfach hochqualifizierte – Menschen sind infolge der Marktliberalisierungen von (Süd-)Osteuropa nach Zentraleuropa gezogen. Das ist mehr als die gesamte erwerbstätige Bevölkerung Rumäniens und Ungarns zusammen, die addiert jährlich ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von rund 340 Milliarden Euro erwirtschaften. Man könnte sagen: Hirn- und Muskelschmalz, das 340 Milliarden Wertschöpfung jährlich generiert, ist von Ost nach West abgesaugt worden. Das ist zwar „nur“ knapp 3% des jährlichen BIPs der Euro-Zone, aber rund ein Fünftel (!) der Wirtschaftsleistung des gesamten (süd-)osteuropäischen Raums. Freilich stehen dem Rücküberweisungen von EmigrantInnen gegenüber, aber diese ändern nicht, ja zementieren sogar den peripheren Status der Abwanderungsländer.

Ein Beamter der nordrumänischen Stadt Certeze, die von 90% der arbeitsfähigen Bevölkerung verlassen wurde, zieht bittere Bilanz: „Europa hat uns zerstört.“ (3)

Gerald Oberansmayr


Den neoliberal-rechtsextremen Doppelpass durchkreuzen!

Falle

Das EU-Konkurrenzregime entwickelt eine fatale Dynamik: Durch den Export von Freihandelsregimen und durch eine Kriegspolitik, die oftmals der Durchsetzung solcher Freihandelsregime dient (z.B. am Balkan, Libyen, Ukraine, Syrien), wurden entsetzliche Flüchtlingstragödien ausgelöst. Diesen Menschen, die vor Krieg und Verfolgungen fliehen, setzt die EU zunehmend die brutale Militarisierung der Außengrenzen entgegen.

Gleichzeitig werden innerhalb des EU-Binnenmarktes alle Grenzen niedergerissen, um die Arbeitenden in eine gnadenlose Konkurrenz gegeneinander zu hetzen. Der Osten und Süden Europas blutet ökonomisch aus. Doch auch in den EU-Einwanderungsländern gibt es Gewinner und Verlierer. Es profitieren vor allem jene Unternehmen, die billige und qualifizierte Arbeitskraft bekommen, ohne in deren Ausbildung investieren zu müssen. Verlierer sind jene ArbeitnehmerInnen, die es ohnehin immer schwerer am Arbeitsmarkt haben, weil sie weniger qualifiziert sind und oftmals selbst migrantische Wurzeln haben. Der liberalisierte EU-Arbeitsmarkt stärkt die Kapitalseite dauerhaft, indem diese ständig die Konkurrenzpeitsche schwingen kann, um Druck auf Löhne und Arbeitsbedingungen zu machen.

„Ins Erbe des Heiligen Imperiums eintreten“

Das grausame Doppelspiel von mörderischem Grenzregime an den Außengrenzen und neoliberal enthemmten Arbeitsmärkten im Inneren der EU entfaltet sich im Doppelpass von Neoliberalen und Rechtsextremen. Erinnern wir uns: Die rechtsextreme FPÖ gab – damals (wie heute) in einer Koalition mit der ÖVP - grünes Licht für die EU-Osterweiterung und setzte damit eine zentrale Forderung ihrer großindustriellen Förderer nach grenzenloser Deregulierung der Arbeitsmärkte um. FPÖ-Ideologe Mölzer erläuterte den machtpolitischen – konkret: deutschnationalen – Mehrwert der EU-Osterweiterung: „Die Geschichte des Abendlandes … erfordert diese EU-Osterweiterung genau für jenen Bereich, der einst vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation dominiert war… Erst sie böte die Chance, dass die EU ins Erbe des Heiligen Imperiums eintrete. […] Die Deutschen können in diesem Europa wieder in ihre alte ‚reichische’ Rolle hineinwachsen. … Das ist die Fortführung des alten, traditionellen Auftrags der Deutschen.“ (4)

„Macht der Gewerkschaften brechen“

Der neoliberale Wirtschaftsfachmann Marc Faber umreißt die Erwartungen des Großkapitals: „Ich glaube, dass die Eingliederung osteuropäischer Länder für den Euroraum sehr positiv sein wird, weil sie die Macht der Gewerkschaften brechen dürfte“ (5).
Die Heinrich-Böll-Stiftung der deutschen Grünen versteht sich auf die Synthese von Deutschnationalismus und Neoliberalismus. In Bezug auf die wachsende Abwanderung von qualifizierten Arbeitskräften aus Griechenland nach Deutschland heißt es in einer Studie der grünen Stiftung: „Ihre Flucht“ sei zwar für Griechenland „ein großer Verlust“, für Deutschland aber „ein großer Gewinn“: „Deutschland … profitiert vom neugewonnenen dynamischen Humankapital, das schnell und ohne große Investitionskosten in die nationale Industrie und Wirtschaft einbezogen wird“ (6).
Die Neoliberalen wollen offene Grenzen, um billige Arbeitskräfte zu bekommen und die Gewerkschaften in die Knie zu zwingen. Dieses brutale Konkurrenzregime erzeugt massenhaft soziale Existenzängste. Die Rechtsextremen kanalisieren diese Ängste in Hass gegen Flüchtlinge und die Ärmsten der Gesellschaft, um die sozial Benachteiligten gegeneinander auszuspielen und von den systembedingten Ursachen der sozialen Krisen abzulenken. Und die „no border - no nation“-Skandierer sorgen dafür, dass fortschrittliche Kräfte durch diesen neoliberal-rechtsextremen Doppelpass regelmäßig ausgekontert werden.

Ja zum Recht auf Asyl! Nein zu deregulierten Arbeitsmärkten!

Die Solidarwerkstatt ist überzeugt, dass die fortschrittlichen Kräfte diesen neoliberal-rechtsextremen Doppelpass nur mit einem Programm durchkreuzen können, das auf zwei Eckpfeilern beruht:

  1. Fluchtursachen bekämpfen, nicht Flüchtlinge! Also Schluss mit dem Export von Freihandel, Krieg und völkerrechtsverletzender „Regime-Change“-Politik, die Millionen von Menschen zu Flüchtlingen gemacht hat. Und: Eintreten für eine humane Asylpolitik Österreichs, die Schutzsuchenden Zuflucht gewährt, statt die EU-Dublin-Richtlinien zu exekutieren und an der Militarisierung der EU-Außengrenzen mitzuwirken (Frontex, etc.). Nachsatz: Die Forderung nach einem bedingungslosem „Bleiberecht für alle!“ hat nichts mit einer humanen Asylpolitik zu tun, sie bemäntelt neoliberale Arbeitsmigration und globalen braindrain und stellt letztlich das Asylrecht in Frage.
  2. Demokratische Regulierung des Güter-, Dienstleistungs-, Kapital- UND Arbeitskräfteverkehrs statt des neoliberalen EU-Binnenmarkts! Nur so kann eine auf Vollbeschäftigung und soziale Sicherheit orientierte Politik durchgesetzt, eine schrankenlose Konkurrenz auf den Arbeitsmärkten unterbunden und das Ausbluten der europäischen „Peripherie“ verhindert werden.

    Beide Pfeiler erfordern die Rückgewinnung von demokratischer Souveränität auf nationalstaatlicher Ebene. Deshalb kämpfen wir dafür, dass Österreichs aus den neoliberalen EU-Verträgen aussteigt und die Unterordnung unter die EU-Militarisierung beendet.

Veranstaltungshinweis:
Buchpräsentation
"Kritik der Migration"
mit den Autor Hannes Hofbauer
Di, 16. Oktober 2018
19 Uhr, Waltherstraße 15, 4020 Linz
Eine Veranstaltung der Solidarwerkstatt

Nähere Informationen zu dieser Neuerscheinung
https://mediashop.at/buecher/kritik-der-migration-2/