ImageZu diesem Resümee kam ein großes internationales Forum linker Anti-EU-Kräfte in Athen Ende Juni 2015. Hier ein Interview mit Boris Lechthaler von der Solidarwerkstatt, der an diesem Treffen teilgenommen hat.

Boris, du warst Ende Juni in Athen bei einem Anti-EU-Forum. Was kannst Du von dieser Veranstaltung berichten?

Das Anti- EU Forum hat von 26. bis 28. Juni 2015 in Athen stattgefunden. Ausgerichtet wurde es von „MARS“, einem linken, außerparlamentarischen Bündnis in Griechenland. Bemerkenswert war zum einen die große Teilnehmerzahl. Teilweise waren weit über 500 Menschen anwesend. Vor allem viele junge Leute, was bei einer Jugendarbeitslosigkeit von über 60% auch nicht verwundert. Beachtenswert war auch die breite internationale Beteiligung. Ich hörte ReferentInnen aus Italien, Spanien, Frankreich, Deutschland, Österreich, auch aus Russland und der Ukraine.

Über welche Themen wurde bei diesem Forum debattiert?

Von der EU-Politik im Nahen Osten und der Ukraine bis zu Fragen der wachsenden Gefahr neofaschistischer Strömungen in Europa. Im Mittelpunkt standen aber doch die Entwicklungen in Griechenland, der Euro und die Konsequenzen, die sich für uns daraus ergeben. Die Vorträge und Diskussionen waren von einer klaren Sicht auf die EU als imperiales Elitenprojekt gekennzeichnet.

Copyright: Johanna WeichselbaumerDas Forum fand in einer Zeit turbulenter Entwicklungen in Griechenland statt. Welche Rolle haben diese bei diesem Forum gespielt?

An diesem Wochenende wurde die Entscheidung der Syriza-Regierung bekannt, über die Forderungen der Gläubiger ein Referendum abzuhalten. Das hat zu einer spürbaren Belebung der Diskussionen geführt. Wobei sofort klar war, dass für ein OXI, ein Nein beim Referendum mobilisiert wird. Ein derartig klares Ergebnis von 62% konnte damals jedoch nicht vorausgesehen werden.

Wie sind die Menschen in Griechenland mit der Situation umgegangen?

Zunächst muss ich sagen, dass ich in einem Land mit einer voll funktionstüchtigen Gesellschaft angekommen bin. Ich hatte nicht den Eindruck völlig desolater Zustände. Auch die Menschen sind nach meinem Eindruck sehr gefasst und gelassen auf die Ereignisse zugegangen. Hysterie wurde mir erst wieder in Österreich in den Medien vermittelt. Ich muss aber dazu sagen, dass dies in der Zeit des Beginns der Unterbrechung der Liquiditätsversorgung war. Dennoch glaube ich, dass bewusst europaweit hysterisiert wurde, damit die Menschen ja nicht auf die Idee kommen, EU und Euro in Frage zu stellen.

Eine Woche später hat das Referendum stattgefunden, zwei Wochen später Tsipras waterboarding in Brüssel. Hat Ende Juni in Athen jemand diese Entwicklung vorausgesehen?

Ich glaube schon, dass es bewusste politische Kräfte in Griechenland gab und gibt, die das kommen sahen. Diese konnten sich aber wahrscheinlich nicht Gehör verschaffen. Teilweise gab es bei der Konferenz die Hoffnung ein OXI würde einen mehr oder weniger geordneten Ausstieg Griechenlands aus der Eurozone einleiten. Ich sah das nicht. Denn es war zu dieser Zeit schon offenkundig, dass die Institutionen die griechische Regierung mit den ELA-Krediten völlig in der Hand haben. Mir war klar, dass, wenn das Referendum mit einem Nein ausgeht, sie an Griechenland ein Exempel statuieren werden. Allerdings habe ich mit einem monatelangen waterboarding gerechnet, quasi, dass jedes Mal, wenn die griechische Regierung nur eine Andeutung macht, nicht mitzuspielen, am Liquiditätsstrick gezogen wird. Dass bereits nach dem ersten Erstickungsanfall die Sache entschieden ist, damit habe ich nicht gerechnet. Wir sollten uns davor hüten, dafür charakterliche Eigenschaften des Regierungschefs oder anderer zentraler Akteure verantwortlich zu machen. Uns muss klar sein, dass ein Ausstieg aus dem Euro-Regime einer Kriegserklärung an das Imperium gleich kommt. Das ist nicht die Entscheidung zwischen der einen oder anderen politischen Maßnahme. Dafür braucht es eine tiefe Verankerung in der Gesellschaft mit einer entschlossenen, entscheidungs- und handlungsfähigen Führung.

Sind die weiteren Entwicklungen nicht Anlass für eine große Frustration der fortschrittlichen Kräfte in Europa? 

Dass eine linke Regierung in der EU nunmehr gezwungen ist, eine knallharte neoliberale Agenda umzusetzen, ist sicherlich eine historische Niederlage der Eurolinken, jener Kräfte, die uns ständig etwas von einer solidarischen, friedlichen, usw. EU vorschwärmen. Anders aber als die deutsche Wiedervereinigung oder der Beitritt Österreichs zur EU können diese Ereignisse auch zum Markstein für die Herausbildung einer neuen emanzipativen Kraft werden.

ImageInwiefern Markstein?

Insofern Markstein, weil eine Grenze der Vernebelung, der Halluzinationen erreicht wurde. Klarsicht ist nicht mehr nur analytisch möglich, sondern durch die einfache Betrachtung der wirklichen Vorgänge.

Für Verlauf und Ergebnisse des 16 Stunden Gipfels wird vor allem die deutsche Regierung verantwortlich gemacht, namentlich Merkel und Schäuble. Die KPÖ und die deutsche Linkspartei meinen, es sei an den gesamteuropäischen Kräfteverhältnissen gelegen, dass Syriza mit ihrem Antiausteritätsprogramm gescheitert sei?

Erstens kannte man die Kräfteverhältnisse schon, als sie durch den Syriza-Wahlsieg eine neue Epoche in Europa hereinbrechen sahen. Ich habe schon vor dem linken Debakel in Brüssel vom 13. Juli gesagt, dass sich die Ereignisse selbst dann so entwickeln würden, wenn Tsipras in Berlin und Merkel in Athen regieren würde. Es wurde und wird ja viel über den ökonomischen Unverstand von Merkel und die Bosheit von Schäuble schwadroniert. Das alles lenkt von der wirklich wichtigen Frage ab: Warum ist die deutsche Regierung 25 Jahre nach der Wiedervereinigung so mächtig geworden? Stellt man sich die Frage so, erkennt man, dass die EU-Integration eine Maschinerie zur Entfaltung deutscher industrieller Macht ist. Die griechischen Ereignisse sind ja trotz aller Dramatik dafür ein Nebenschauplatz. Betrachtet man die Sache von der Produktionssphäre aus, so erkennen wir, in Mitteleuropa ist mit Deutschland im Zentrum, eine hochproduktive Kernzone entstanden, die selbst unter der Bedingung einer harten Währung – und nur als harte Währung kann der Euro zu einer Weltreservewährung werden, die den Dollar herausfordern kann – Exportüberschüsse erwirtschaftet. Die Analysen sind viel zu sehr dominiert vom Paradigma einer diffusen Globalisierung. Dabei wird übersehen, dass gerade im Fahrzeug- und Maschinenbau, in der chemischen Industrie, geographische Distanzen nach wie vor eine zentrale Rolle spielen. Die EU-Integration Österreichs, der Beitritt Tschechiens, Polens, der Slowakei, Ungarns, das waren die Voraussetzungen um tiefgestaffelte, hochkompetitive industrielle Wertschöpfungsketten aufzubauen, auf deren Grundlage wieder Herrschaftsanspruch im Weltmaßstab vorangebracht werden kann. Griechenland spielt dafür kaum eine Rolle. Griechenlands Bedeutung rührt eher aus seiner Lage am südöstlichen Rand Europas.

Siehst du die Chance aus den Erfahrungen in Griechenland also vor allem als Gewinn an Klarsicht auf die EU?

Ja schon, damit daraus eine Chance für die emanzipativen Kräfte auch in Österreich wird, muss die Klarsicht aber noch viel tiefer dringen. Es geht darum eine ganze Epoche linker Analyse und Politik zu bilanzieren. Wir müssen verstehen, dass am Beginn der neoliberalen Konterrevolution auch eine tiefe Krise der organisierten fortschrittlichen Kräfte gegeben war. Sie konnten die vielfältigen und mächtigen emanzipativen Impulse der 60’er und 70’er Jahre nicht mehr in konsistente Politik transformieren. Die einen reagierten darauf, indem sie sich in ihre Dogmen flüchteten, bis das ganze wie ein Kartenhaus zusammenbrach, die anderen, indem sie überhaupt aufhörten, die Verknüpfung von Transformation und politischer Macht zu thematisieren. Aus Gramscis wichtigen Beiträgen über Herrschaft und Hegemonie, wurde die Vorstellung einer nebulosen Verallgemeinerung der eigenen emanzipativen Ansprüche, mit dem Ergebnis, dass heute die neoliberale Ideologie schon längst keine Hegemonie mehr in der Gesellschaft hat, selbst aber eine linke Regierung gezwungen ist, neoliberale Politik zu praktizieren.

Welche nächsten Schritte siehst du?

Das Personenkomitee „EuroExit gegen Sozialabbau“ kann einen wichtigen Beitrag dazu leisten, diese notwendigen Auseinandersetzungen bis in die Mitte der Gesellschaft zu tragen. Klar ist auch: auf griechische Probleme gibt es nur griechische Antworten. Für uns in Österreich ist die Situation noch prekärer, weil wir wieder einmal viel tiefer ins Imperium integriert sind. Die drei Pfeiler der Politik der Solidarwerkstatt – eine solidarische Gesellschaft in einem Solidarstaat Österreich – Austritt aus der EU – Selbstermächtigung von unten – sind, denke ich der richtige Ansatzpunkt.


 

Weitere Hinweise zu diesem Thema:


 

 „Bankrott des Links-Europäismus“

Die Lehren aus dem Debakel in Athen ziehen

Veranstaltungshinweis:

Linz: Do, 8. Oktober 2015, 19 Uhr
Die Ereignisse in Griechenland und die Entwicklung einer emanzipativen Anti-EU-Strömung in Europa
Ort: Veranstaltungsraum in der Waltherstraße 15, Linz

Diskussionsabend mit Willi Langthaler (Personenkomitee EuroExit gegen Sozialabbau) und Boris Lechthaler (Solidarwerkstatt). Willi Langthaler und Boris Lechthaler waren von 26.-28. Juni 2015 bei einem europaweiten Anti-EU-Forum in Athen und werden davon und den Entwicklungen danach berichten, sowie die Perspektiven einer emanzipativen Anti-EU-Strömung diskutieren.