Ein bemerkenswertes Dossier im Organ des SPÖ-Parlamentsklubs „kontrast.at“ zeigt die verheerenden Auswirkungen des EU-Binnenmarktregimes auf die ArbeitnehmerInnen in West- und Osteuropa auf.

Die EU-Osterweiterung wurde in Österreich von der damaligen schwarz-blauen Regierung 2003 ratifiziert, doch auch die damalige rot-grüne Opposition war voll des Lobes für dieses „Friedensprojekt“, das zum Ausgleich zwischen West- und Osteuropa führen werde. Es gab nur wenige Gruppen, wie z.B. die Solidarwerkstatt Österreich, die bereits damals vor der Gefahr warnten, dass das neoliberale EU-Binnenmarktregime einen Teufelskreis von Lohndumping im West- und wirtschaftlichem Ausbluten im Osteuropa auslösen werde. Vor kurzem publizierte das Online-Magazin kontrast.at (1), das vom SPÖ-Parlamentsklub herausgegeben wird, ein Dossier mit einer Fülle von Fakten und Analysen, die belegen, wie allzu berechtigt diese Warnungen waren und sind:

„In Polen verdienen Arbeiter ziemlich genau ein Drittel (33,2%) dessen, was Arbeiter in Österreich verdienen. Marginal mehr als noch vor 10 Jahren (30,3%). 3 Prozentpunkte in 10 Jahren – in dem Tempo liegen die Löhne im Jahr 2250 auf demselben Niveau. Mehr Bewegung gibt es woanders: Immer mehr Fabriken wandern in den billigeren Osten ab; immer mehr Arbeitskräfte kommen aus dem Osten. Sie pendeln, wandern aus, oder werden im Heimatland angestellt, mit dem niedrigen ausländischen Lohn bezahlt und nach Österreich entsandt. Statt die Löhne in den neuen EU-Mitgliedstaaten zu erhöhen, steigt der Druck in den alten.“ (1) Im Rahmen dieses EU-Neoliberalismus mit seiner schrankenlosen Kapitalverkehrsfreiheit können Konzerne ihre Macht gegen die Beschäftigten voll ausspielen. Beispiele der jüngeren Zeit: ATB will den Standort in Spielberg aufgeben und nach Polen verlagern. Ebenso die VW-Tochter MAN, die von Steyr nach Polen umziehen will. „Die europäische Ansage zu mehr Gleichheit in Europa ist überhaupt nicht eingetreten”, zieht der SPÖ-Abgeordnete und Gewerkschafter Alois Stöger frustriert Resümee (1).

Gnadenlose Konkurrenz

Das EU-Binnenmarktregime hat die ArbeitnehmerInnen in Ost und West in eine gnadenlose Konkurrenz zueinander gehetzt. Gerade qualifizierte Arbeitskräfte sind in hohem Maß von Ost nach West gewandert und haben die osteuropäischen Länder wirtschaftlich ausbluten lassen. So sind aus Bulgarien mit 1,6 Millionen Menschen rund ein Drittel der erwerbsfähigen Bevölkerung abgewandert. 2,2 bis 2,7 Millionen PolInnen haben das Land Richtung Westen verlassen.

Damit wurde gleichzeitig das Lohndumping im Westen angeheizt. Besonders stark betroffen war Großbritannien, das im Jahr 2004 den Arbeitsmarkt ohne Übergangsfrist öffnete. Seither wuchs die Arbeitsmigration alle vier Jahr um fast eine Million. Das hat Beschäftigte im Niedriglohnsektor am stärksten getroffen, mit jedem Anstieg des Migrationsanteils um ein Prozent in einer Branche sank der Lohn um 0,6 Prozent, wie eine britische Studie von 2013 zeigt. „Die ungebremste Lohnkonkurrenz am britischen Arbeitsmarkt gilt als eine Ursache für den Ausgang der Brexit-Abstimmung in der Arbeiterschaft.“ (1)

Zerschlagung der Kollektivverträge in Osteuropa

Gleichzeitig sorgte nicht zuletzt die EU-Kommission dafür, dass in den osteuropäischen Ländern trotz Arbeitskräfteknappheit das Lohnniveau nicht stieg. Wie? Indem die osteuropäischen Regierungen gedrängt wurden, den Arbeitsmarkt zu liberalisieren und Kollektivverträge zu demontieren. Besonders brutal geschah das in Rumänien, das unter dem Druck der „Troika“ von EU-Kommission, EZB und IWF 2011 die Kollektivverträge auf nationaler Ebene faktisch abschaffte. Daraufhin sank die kollektivvertragliche Abdeckung von 98% auf nur mehr ein Drittel. In Polen sind nur mehr fünfzehn Prozent der Beschäftigten durch Kollektivverträge geschützt, die restlichen Löhne werden überwiegend individuell ausgehandelt. Slowenien war bis Anfang der 2000er Jahre ein sozialpartnerschaftliches System mit hohem Organisationsgrad der Arbeiter, das hat sich 2013 geändert: Heute sind nur mehr 65 Prozent der Beschäftigten von einem Kollektivvertrag geschützt. Auch die gewerkschaftliche Organisation wurde zurückgedrängt: Von 31% der Beschäftigten im Jahr 2000 halbierte sie sich auf 17 Prozent im Jahr 2013. Das hat dazu geführt, dass die Löhne in Polen, der Slowakei, Tschechien und Ungarn langsamer wachsen als das BIP. Die Lohnquote, also der Anteil an Arbeitseinkommen am Gesamteinkommen, ist in den letzten Jahren zurückgegangen – in Polen etwa von 63 Prozent 1992 auf 48 Prozent 2017.

Westliche Konzerne profitieren

Die großen Gewinner sind oftmals westliche Konzerne. Laut dem Ökonomen Thomas Piketty gehört mehr als die Hälfte der produzierenden Firmen in Osteuropa ausländischen Eigentümern, die die Gewinne aus dem Land ziehen. Der tschechische Ministerpräsidenten Andrej Babis kritisierte im Interview mit „Le Monde“ 2018: „Ja, ihr gebt uns Geld, aber auf der anderen Seite haben eure Unternehmen hier investiert und ziehen jedes Jahr mehr als 10 Milliarden als Dividenden ab, und zahlen ein Drittel der französischen Löhne.“ (1)

Der Artikel im Organ des sozialdemokratischen Parlamentsklubs bringt daher das EU-Projekt schon in der Überschrift auf eine prägnante Formel, die in auffallendem Kontrast EU-Schönfärberei der SP-Führung der vergangenen Jahrzehnte steht: „EU: Schlechte Löhne im Osten, Lohndruck im Westen, Konzerne gewinnen.“

Quelle:
(1) https://kontrast.at/gruende-fuer-unterschiedliche-loehne-in-europa/