Das umstrittene Assoziationsabkommen der EU mit der Ukraine stand am Anfang der Eskalation der politischen Konflikte um die und in der Ukraine. Das Werkstatt-Blatt fragte Joachim Becker, a.o. Professor für Volkswirtschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien, zu den Hintergründen.
Werkstatt-Blatt: Welche Ziele verfolgt die EU mit dem Assoziationsabkommen mit der Ukraine und wie fügt sich dieses in die breitere EU-Strategie gegenüber den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ein?
Joachim Becker: Das Assoziationsabkommen mit der Ukraine ist das Kernstück der sogenannten Partnerschaftspolitik gegenüber Nachfolgestaaten der Sowjetunion. Diese Politik zielt nicht nur auf die Ukraine, sondern auch auf Belarus, Moldawien, Georgien, Armenien und Aserbaidschan. Von diesen Ländern ist die Ukraine ökonomisch und politisch bei weitem am wichtigsten. Kernelement dieser Partnerschaftspolitik ist die Unterzeichnung von Assoziationsabkommen, welche die osteuropäischen Länder auf eine Freihandelspolitik und zur Übernahme einiger Kernnormen der EU-Wirtschaftsgesetzgebung verpflichten. Damit sind diese Abkommen auf eine untergeordnete Eingliederung dieser Staaten in die EU-Einfluss-Sphäre gerichtet. Mit diesen Abkommen konkurriert die EU mit dem russischen Projekt einer Eurasischen Union.
Bei zwei dieser Länder ist die EU nicht weit gekommen: Belarus und Aserbaidschan. Die Beziehungen der EU zu Belarus sind wegen der etatistischen Wirtschaftspolitik und des autoritären Charakters der Regierung Lukaschenko gespannt. Aserbaidschan exportiert fast ausschließlich Öl in die EU und verfügt über hohe Öleinnahmen – ihr Interesse an einem Assoziationsabkommen ist entsprechend gering. Armenien, das politisch und ökonomisch eng mit Russland verbunden ist, ging im Spätherbst 2013 ebenfalls auf Distanz zu einem Assoziationsabkommen, so dass im Vorfeld des Gipfels in Vilnius nur Moldawien, Georgien und die Ukraine als potenzielle Kandidaten für ein solches Abkommen übrigblieben. Dann sagte auch die Regierung Janukowytsch ab, was erhebliche Proteste in der Ukraine auslöste.
Gerade an der ukrainischen Unterschrift war der EU aus geopolitischen Gründen gelegen. Der politische Charakter des geplanten Abkommens wird daran deutlich, dass auch eine Kooperation in der Militär- und Außenpolitik vorgesehen ist. Dieser Teil des Abkommens wurde nach dem Regierungswechsel in Kiew am 21. März 2014 dann auch tatsächlich unterschrieben. Der ökonomische Teil soll allerdings erst nach den ukrainischen Wahlen, die für den 25. Mai vorgesehen sind, in Kraft treten. Dieser Teil beinhaltet vor allem eine Freihandelspolitik. Die Ukraine würde wesentliche industriepolitische Optionen verlieren. Als einziges der Assoziationsabkommen beinhaltet der Text des ukrainischen Abkommens ein Kapitel zur Energiepolitik, das die Ukraine u.a. zu einer Übernahme wesentlicher Teile der EU-Regelungen und zum Abbau von Energiesubventionen zwingen würde. Das schafft innen- und außenpolitisches Konfliktpotenzial. Die stark verarmte ukrainische Bevölkerung würde von höheren Energiepreisen stark getroffen, und die Regelungen im Transit schaffen Konfliktpotential mit Russland, woher das Gas letztlich geliefert wird.
Werkstatt-Blatt: Welche Ziele verfolgt die EU mit dem Assoziationsabkommen mit der Ukraine und wie fügt sich dieses in die breitere EU-Strategie gegenüber den Nachfolgestaaten der Sowjetunion ein? Warum hat die Regierung Janukowytsch das Abkommen angesichts der absehbaren Konflikte überhaupt ausgehandelt?
Joachim Becker: Die ostukrainische Schwerindustrie, die hinter Janukowytschs Partei der Regionen stand, war an einer weiteren Expansion in der EU interessiert. Das scheint das vorrangige Interesse gewesen zu sein. Eine Diskussion über die ökonomischen Implikationen des Abkommens hat es in der Ukraine kaum gegeben. Erst relativ kurz vor der geplanten Unterschrift äußerten sich Gewerkschaften und auch manche Unternehmerinteressen kritisch zum Abkommen. Tatsächlich würde das Abkommen für Teile der ukrainischen Industrie existenzbedrohend sein. Der kapitalistische Transformationsprozess hat in der Ukraine zu einem starken wirtschaftlichen Niedergang und zu einer massiven De-Industrialisierung geführt. Das BIP beläuft sich real nur auf etwa 70% des Niveaus von 1990. Zu Kaufkraftparitäten gerechnet erreichte das ukrainische BIP pro Kopf 2012 gerade einmal 23% des EU-Niveaus.
Entsprechend asymmetrisch fallen die Handelsbeziehungen aus. Die Ukraine exportiert in die EU vor allem Primärgüter (mineralische Rohstoffe, Agrarprodukte) und bezieht von dort Industriegüter. Dieses problematische Muster würde sich durch das Assoziationsabkommen noch verfestigen. Die EU hat für die Ukraine offenbar eine Rolle als Lieferant billiger Rohstoffe (gerade auch im Agrarbereich) und billiger Arbeitskräfte vorgesehen.
Anspruchsvollere Güter exportiert die Ukraine eher nach Russland. Global gesehen hat der Export in die EU und nach Russland für die Ukraine in etwa dieselbe Bedeutung. Beide nehmen etwa jeweils ein Viertel der ukrainischen Ausfuhr ab. Im Import hat die EU schon jetzt die Nase gegenüber Russland vorn, aber aus Russland kommen die für die ukrainische Wirtschaft unerlässlichen Energieimporte. Und durch gezielte Nadelstiche machte die russische Regierung der Ukraine ihre ökonomische Abhängigkeit vom großen Nachbarn im Norden und Osten auch sehr deutlich.
Angesichts der unmittelbar hohen Kosten des Abkommens, die für die wirtschaftlich klamme Ukraine kaum zu verkauften sind, und der russischen Repressalien, blies die Regierung Janukowytsch die Unterzeichnung des Abkommens mit der EU ab. Zu ernsthaften Kompensationsmaßnahmen für die schwierige Übergangszeit zeigte sich die EU damals nicht bereit. Das Kernproblem für die Ukraine ist, dass sie sowohl mit der EU als auch mit Russland wirtschaftlich relativ eng verbunden ist und eigentlich gute Beziehungen zu beiden Seiten braucht.
Werkstatt-Blatt: Gäbe es eine Alternative zur bisherigen EU-Politik?
Joachim Becker: Potenziell ja. Für eine Stabilisierung der Ukraine müssten sowohl die EU als auch Russland darauf verzichten, die Ukraine exklusiv in ihre Einflusszone zu integrieren. Für die EU würde dies heißen, auf eine Weiterverfolgung des Assoziationsabkommens zu verzichten und andere – der wirtschaftlichen Lage der Ukraine angemessene – Formen der wirtschaftlichen Kooperation zu entwickeln. Vereinzelt scheint es in der EU zumindest Zweifel am bisherigen Kurs zu geben. Dies deutete beispielsweise der deutsche Außenminister Frank-Walter Steinmeier kürzlich gegenüber der Frankfurter Allgemeinen an. Der deutsche Kurs im Ukraine-Konflikt und gegenüber Russland ist weniger konfrontativ als jener der USA oder mancher osteuropäischer Ländern. Insgesamt geht das Verhalten der äußeren Akteure in Richtung Konfrontation, die in der Ukraine die Spannungen und Konflikte weiter verstärkt.
Selbst für den unwahrscheinlichen Fall, dass die externen Akteure doch auf Entspannung setzen sollten, ist fraglich, ob es in der Ukraine überhaupt relevante Akteure gibt, die überhaupt noch eine autonome Politik durchsetzen könnten. Alle Parteien, die überwiegend Clubs von Geschäftsleuten sind, haben nur regional begrenzt eine ernsthafte soziale Basis. Im Rahmen der sozialen Proteste gegen Janukowytsch haben faschistische ukrainische paramilitärische Kräfte eine markante Rolle gespielt. Nach dem politischen Umsturz und der Bildung einer als pro-westlich geltenden neuen Regierung aus nationalliberalen und faschistischen Kräften, die primär das Milieu des west-ukrainischen Nationalismus vertreten, sind dann auch pro-russische para-militärische Gruppen im Osten des Landes aufgetaucht. Die Tendenzen der Para-Militarisierung und der nationalistischen Rhetorik erinnern mich an Jugoslawien. Nach der Abtrennung der Krim und deren Anschluss an Russland ist ein weiterer Desintegrationsprozess der Ukraine nicht auszuschließen.
(3.6.2014)