Die größte Wirtschaftskrise seit den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts ist letztlich das Resultat der seit zwei Jahrzehnten wachsenden sozialen Ungleichheit, der zunehmenden handelspolitischen Ungleichgewichte und der entfesselten Finanzmärkte. Mit der Vorherrschaft neoliberaler Wirtschaftspolitik wurden die sozialen Errungenschaften zurückgedrängt, der Anteil der der Löhne und Gehälter am Volkseinkommen gesenkt und die öffentlichen Haushalte ausgehungert, während die Gewinne explodierten. Eine Zeitlang konnte der Rückgang der Massenkaufkraft und der staatlichen Nachfrage durch Kredite und Spekulationsblasen hinausgezögert werden, doch auf Dauer konnte das nicht gelingen. Irgendwann mussten die Kreditrückzahlungen ins Stocken geraten, die Blasen an den Kapitalmärkten platzen und sich das Auseinanderklaffen von Angebot und Nachfrage in einer gewaltigen Finanz- und Wirtschaftskrise entladen.
Die Verschärfung der Ungleichheit sieht man auch in Österreich: Seit dem EU-Beitritt 1995 ist hier die Lohnquote von 62% auf 55% (2008) der Bruttowertschöpfung zurückgegangen. Regelrecht abgestürzt sind die unteren Gruppen der ArbeiterInnen und Angestellten. Die Realeinkommen des untersten Einkommensviertels (25% verdienen weniger, 75% verdienen mehr) sind zwischen 1997 und 2006 um 12% gesunken.
„Strikter Sparkurs“
Diese neoliberale Wirtschaftspolitik ist in der Jahrhundertkrise seit 2008 so spektakulär gescheitert, dass endlich die Zeit gekommen schien, den Weg aus dieser Sackgasse zu beschreiten. Tatsächlich wurden auch innerhalb der EU zunächst gewaltige öffentlichen Mittel mobilisiert, um den totalen Absturz der Wirtschaft zu verhindern. Doch diese Mittel gingen zum größten Teil in die Rettung der Banken und nur zu einem bescheidenen Teil in die Stimulierung der realen Nachfrage. Während in etwa 22% des EU-Bruttoinlandsprodukts (BIP) für die Rekapitalisierung der Banken und für Garantien von Bankverbindlichkeiten von der öffentlichen Hand zur Verfügung gestellt wurden, verwendete man gerade einmal rd. 1 Prozent zur Belebung der Konjunktur. Die EU blieb damit weit hinter den anderen großen Wirtschaftsräumen zurück. Zum Vergleich: Die USA gaben 5,8% des BIP, China gar 7% des BIP zur Wiederankurbelung der Wirtschaft aus.
Umso ambitionierter aber ermahnen jetzt - nach der Überwindung des ersten Schocks - EU-Kommission und Europäische Zentralbank (EZB) die EU-Staaten zu einem scharfen Austeritätskurs. Obwohl die Arbeitslosigkeit EU-weit explodiert und 20% aller Jugendlichen in der EU ohne Job dastehen, erklärte die EZB bereits im September 2009 „die Rezession für beendet“ und forderte von den Euro-Ländern von nun ab einen „strikten Sparkurs“ (Tagesspiegel, 10.9.2009). Die EU-Kommission stellte anschließend vielen EU-Staaten mit der Eröffnung von Defizitverfahren die Rute ins Fenster; Österreich verordnete sie ein Sparprogramm von sechs Milliarden Euro bis 2013 in den Bereichen Föderalismus, Gesundheit, Pensionen und Bildung. Vor kurzem einigte sich die SP/VP-Regierung nun auf entsprechende „Sparpakete“ bis zum Jahr 2014 – also sogar über die laufende Legislaturperiode hinaus. Diese sollen sich 2011 bis 2014 kumuliert auf über 3,4 Mrd. Euro für den Bund und weitere 2 Milliarden für Länder und Gemeinden belaufen. Auf die Bereiche Soziales, Gesundheit, Pensionen, Arbeit und Bildung/Forschung entfallen fast 70% der rot-schwarzen Kahlschlagspolitik (sh. Grafik Budgeteinsparungen). Deutlich mehr als das Doppelte dessen, was zur Konjunkturbelebung nach Kriseneinbruch 2008/09 ausgegeben werden, soll nun eingespart werden. Hieß es bei Ausbruch der Krise noch von Seiten vieler Wirtschaftsforscher, am schnellsten und effektivsten würden Investitionen der Kommunen wirken, gilt ab jetzt ein absoluter Investitionsstopp auf Gemeindeebene. Diejenigen, die schon vor Ausbruch der Krise zu den Verlierern gezählt haben, sollen jetzt erst recht zur Kasse gebeten werden: ArbeitnehmerInnen, Arbeitslose, PensionistInnen, Menschen in Ausbildung und viele andere.
Ausdrückliche Unterstützung für diese unsoziale Sparpolitik von EU und Regierung kommt von rechtsaußen. Bereits im Frühjahr 2009 brachte die FPÖ einen Antrag in den Nationalrat ein, der ein besonders rabiates Sparprogramm zum Inhalt hatte: Die Rechtsextremen beantragten ein Absenken der Staatsquote um 4% des BIP - das sind rd. 12 Milliarden Euro.
Fatale Währungsunion
Der enthemmte Neoliberalismus hat nicht nur die sozialen Gräben zwischen arm und reich innerhalb der EU-Staaten tief aufgerissen, er hat auch die Ungleichgewichte zwischen einzelnen Staaten enorm verschärft. Als besonders fatal hat sich die Währungsunion erwiesen. Konnten früher wirtschaftlich schwächere Länder ihre Industrien durch eine entsprechende Währungspolitik schützen, so ist das seit der Einführung des Euro nicht mehr möglich. Verschärfend kam hinzu, dass das wirtschaftlich stärkste Land, Deutschland, die massivsten Reallohnkürzungen im gesamten EU-Raum durchsetzen konnte, sodass die Ökonomien von Mittelmeerländern wie Griechenland vom deutschen Exportmotor regelrecht an die Wand gedrückt wurden. Deutschland verdreifachte zwischen 2000 bis 2008 seinen Handelsbilanzüberschuss auf über 170 Mrd. Euro, während Länder wie Griechenland, Spanien, Portugal, Italien und Frankreich immer höhere Handels- und Leistungsbilanzdefizite hinnehmen mussten.
Zwei Drittel seiner Überschüsse erwirtschaftete die deutsche Industrie auf Kosten anderer EU-Staaten. Bezahlt wurden diese Leistungsbilanzdefizite durch eine ausufernde Verschuldung der Mittelmeerstaaten, nicht zuletzt bei deutschen Banken, die auch daran wiederum ganz gut verdienten. Und weiterverdienen sollen. Denn um die Bedienungen dieser Schulden sicherzustellen, in die die Mittelmeerstaaten mit der Einführung der Währungsunion hineingeraten waren, hat die EU nun einen gewaltigen 750 Milliarden „Rettungsschirm“ aufgespannt. Der Preis dafür oder vielleicht besser gesagt das Ziel dieser Aktion ist ein Programm der Radikalisierung des Neoliberalismus: Die EU-Länder an der Peripherie, insbesondere Griechenland, werden quasi unter neokoloniale Verwaltung durch die EU-Kommission gestellt; deren Bevölkerung, die schon jetzt zu den Ärmsten in der EU gehört – in Griechenland lebt jeder Fünfte unter der Armutsgrenze – wird eine bespiellose Politik des Lohndumpings, Sozialabbaus und der Privatisierung verordnet.
Aber auch alle anderen Länder sollen an die Kandare genommen werden. Der Schlüssel dafür ist die zunehmende Entmachtung der Parlamente in den EU-Mitgliedsstaaten, denen eines ihrer Hauptrechte, nämlich die Entscheidung über den öffentlichen Haushalt, de facto entzogen werden soll. In Zukunft sollen der EU-Kommission die nationalen Budgets vorgelegt werden, bevor noch die Parlamente darüber beraten und entscheiden können. Faktisch bedeutet das: Die Haushaltsentwürfe schwacher Staaten werden in Zukunft deutschen Regierungsstäben vorgelegt werden müssen, die ihren neoliberalen Brachialkurs immer unverhohlener über EU-Kommission und EZB diktieren können. Im vorauseilenden Gehorsam hat Finanzminister Pröll kürzlich angekündigt, dass auch Österreich eine „Schuldenbremse“ nach „dem Vorbild Deutschlands“ beschließen werde, wo diese in Verfassungsrang erhoben wurde. Doch damit nicht genug: Pröll will, dass alle EU-Staaten am deutschen Wesen genesen sollen und eine solche „Schuldenbremse“ zu beschließen hätten. Nur so könne man „die Schuldensünder an die Kandare nehmen“, (Krone, 19.5.2010), geriert sich der österreichische Finanzminister als bissiger Pudel von Frau Merkel.
„Politik der EU gleicht der Zeit unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg“
Wir erleben eine groteske Inszenierung: Nachdem der Neoliberalismus eine die größte Wirtschaftskrise seit 80 Jahren ausgelöst hat, wird als Therapie eine Radikalisierung des Neoliberalismus verordnet: noch mehr Lohnsenkung, noch mehr Sozialabbau und noch mehr Einschränkung bei öffentlichen Investitionen. Joachim Becker, Wirtschaftswissenschafter an der WU-Wien, weist darauf hin, welche Gefahren mit dieser Politik verbunden sind: „In dem Versuch der Wiederbelebung eines überholten Wirtschafts- und Regulationsmodelles gleicht diese Politik der EU der Zeit unmittelbar nach dem 1. Weltkrieg. Damals mündete eine derartige Politik nach kurzer Pseudo-Prosperität in erneuter schwere Wirtschaftskrise, Autoritarismus und Faschismus.“ (Kurswechsel 1/2010)
Wir brauchen daher nicht die Radikalisierung des Neoliberalismus sondern – ganz im Gegenteil - eine solidarische und demokratische Wende, um aus der wirtschaftlichen Misere herauszukommen: Umverteilung von oben nach unten, Arbeitszeitverkürzung, Stärkung öffentlichen Eigentums und die Ankurbelung der öffentlichen Ausgaben insbesondere in den Bereichen Bildung, Forschung, Gesundheit, Pflege, öffentlicher Verkehr und erneuerbare Energien. Nur durch eine solche Politik kann wieder Vollbeschäftigung erreicht werden. Alleine in Österreich waren im Jänner 2010 400.000 Menschen ohne Arbeit. Arbeitslosigkeit bedeutet nicht nur die Demütigung und oft auch die Verarmung der Betroffenen, sie bedeutet auch, dass die gesamte Gesellschaft um die Produkte der Arbeit von hunderttausenden Menschen ärmer wird. Arbeitslosigkeit ist daher eine der größten Verschwendungen, die es gibt - und nicht öffentliche Ausgaben für Gesundheit, Soziales, Bildung und Umwelt.
EU-Austritt endlich enttabuisieren!
Dass wir eine Abkehr vom Neoliberalismus brauchen, ist unter fortschrittlichen Menschen weitgehend unbestritten. Weniger klar ist freilich, dass das im Rahmen der Europäischen Union nicht gehen wird. Denn die EU ist ein politisches Gebilde, das – weltweit ziemlich einzigartig - den Neoliberalismus sogar im Grundlagenrecht einzementiert hat: Das EU-Recht, das über einzelstaatlichem Recht steht, verpflichtet alle EU-Mitgliedsstaaten zu einer Wirtschaftspolitik der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“. Freier Kapitalverkehr und Freihandel nach innen wie außen sind per EU-Recht festgezurrt. Da immer mehr Menschen unter die Räder dieses Wirtschaftssystems geraten, ist es aus Sicht der Politik- und Kapitaleliten konsequent, den EU-Rahmen zu nutzen, um immer mehr Politikbereiche, insbesondere die Wirtschafts- und Währungspolitik, gegenüber der demokratischen Willensbildung abzuschotten und Länder wie Griechenland, wo es starke und kämpferische Gewerkschaften gibt, eine koloniale Aufsicht zu verpassen. Es ist daher hoch an der Zeit, innerhalb der fortschrittlichen Kräfte die Frage des Austritts aus diesem neoliberalen Rahmen zu enttabuisieren.
Gerald Oberansmayr