Die aktuellen Pläne und Maßnahmen zur Verschärfung des Neoliberalismus in der EU
1. Das „Europäische Semester“
In einem sog. „Europäischen Semester“ soll die Budgetpolitik den nationalen Parlamenten von EU-Kommission und Rat „präventiv“ vorgegeben werden. Von März bis September eines Jahres wird die Budgetpolitik im Wechselspiel zwischen EU-Kommission, Rat und Regierungen vorgekaut, ehe das jeweilige Parlament dann seinen Sanktus dazu geben darf. Die Vorgaben haben zwar zunächst den Charakter von „Empfehlungen“, de facto handelt es sich aber um harte Vorgaben, da der Strafkatalog erheblich ausgeweitet und verschärft wird (sh. im folgenden). Das „Europ. Semester“ ist bereits ab 2011 in Kraft. Die österreichische Regierung hat die Belastungsbudgets 2011 – 2014 bereits als „Vorgriff auf das Europäische Semester“ (Pröll) gelobt. Im Verbund mit den folgenden Maßnahmen kann mE davon gesprochen werden, dass das Budgetrecht der Parlamente – im 19. Jahrhundert mühsam errungen - substantiell ausgehebelt wird.
2. Die Verschärfung des Stabilitätspaktes
a) Die 1/20-Regelung zur Senkung der Gesamtverschuldung
Der sog. „Stabilitätspakt“ soll erheblich verschärft werden. Sanktionen sollen nicht erst – wie bisher – bei Überschreitung eines Defizits von 3% des BIP möglich werden, sondern bereits darunter, wenn das Land „erheblich vom Anpassungspfad abweicht und diese Abweichung nicht korrigiert“. Verstärktes Augenmerk soll dabei auf die Einhaltung der gesamten Staatsverschuldung von nicht mehr als 60% des BIP gelegt werden. Die Differenz zwischen dem tatsächlichen Schuldenstand und dem Referenzwert muss nach der 1:20-Formel reduziert werden. Damit schwebt ein Damoklesschwert über vielen EU-Staaten, mehr als die Hälfte hat derzeit eine Staatsverschuldung von über 60% des BIP. Durch neue EU-Vorschriften werden nun auch ausgelagerte Bereiche (z.B. Schulden von ÖBB, Landeskrankenanstalten) in die Gesamtverschuldung eingerechnet. Dadurch steigt der Schuldenstand Österreichs von 69,2 auf 72,3% des BIP.
Für Österreich könnte die neue Zwanzigstel-Regel bedeuten, dass selbst bei Einhaltung des 3%-Defizitkriteriums pro Jahr rd. 2 bis 2,5 Milliarden zusätzlich an Einsparungen bzw. Belastungen verordnet werden. Die Strafen sollen 0,2% des BIP ausmachen. Bereits bei Einleitung eines Defizitverfahrens muss das gemahnte Land 0,2% des BIP als unverzinsliche Einlage hinterlegen (Zur Orientierung: Im Falles Österreichs wären das fast 600 Millionen Euro). Wenn der Staat nicht den „Empfehlungen“ folgt, wird diese Einlage als Strafe unwiederbringlich einbehalten und dem EMF (sh. unten) zugewiesen.
b) Die Deckelung der öffentlichen Ausgaben
Vollkommen neu ist, dass nicht nur das Haushaltsdefizit (also der Saldo zwischen Ausgaben und Einnahmen) kontrolliert wird, sondern auch die öffentlichen Ausgaben alleine. Diese dürfen nämlich nicht stärker wachsen als das durchschnittliche mittelfristige Bruttoinlandsprodukt. Auch Abweichungen von diesem Grundsatz können Sanktionen unterworfen werden. Damit soll eine expansive staatliche Budgetpolitik, die nicht durch Schulden sondern durch entsprechende Steuereinnahmen gedeckt ist, verunmöglicht werden. Einem Ausbau des Sozialstaates wird dadurch von vornherein ein Riegel vorgeschoben.
c) „Mangelnden Wettbewerbsfähigkeit“ wird Straftatbestand
Neben Defizit, Verschuldung und Ausgaben der Staatshaushalte sollen auch „makroökonomische Ungleichgewichte“ in Hinkunft Strafen durch die EU auslösen können. So soll die EU-Kommission eingreifen, wenn ein Land mangelnde „Wettbewerbsfähigkeit“ bzw. defizitäre Leistungsbilanz aufweist. Damit sichert sich die EU erstmals den direkten Zugriff auf die Lohn- und Sozialpolitik der Länder. Denn klarerweise sind Löhne und Sozialleistungen die ersten und rascheste Schrauben, an der (nach unten) gedreht werden kann, um dem goldenen Kalb „Wettbewerbsfähigkeit“ Opfer zu bringen. Folgt ein Staat nicht den entsprechenden „Empfehlungen“ der EU-Kommission (die wiederum nur durch eine qualifizierte Mehrheit der Staaten aufgehalten werden können), sind Strafen in der Höhe von 0,1% des BIP vorgesehen.
d) Schnellere Strafen - Macht der Kommission und der großen Staaten steigt
Die Strafen sollen rascher und automatischer als bisher erfolgen, da diese Strafen in Hinkunft nach dem Prinzip der umgekehrten Mehrheit gefällt werden sollen. Bisher musste eine qualifizierte Mehrheit der Staaten für den Strafvorschlag der EU-Kommission sein, nun kann das Strafkarussell nur mehr angehalten werden, wenn sich eine qualifizierte Mehrheit innerhalb von 10 Tagen dagegen findet. Damit steigt natürlich die Macht der EU-Kommission enorm, aber auch die Macht der großen EU-Staaten. Denn einige wenige Große können damit mit ihrem (durch den Lissabon-Vertrag) aufgewerteten Stimmgewichten eine Abwehr der Sanktionsvorschläge der Kommission unterlaufen und damit das Sanktionskarussell in Gang bringen.
3. Der „EU-Schutzschirm“ – Neokolonialismus in der EU
Schließlich soll die Politik, die der Internationalen Währungsfonds gegenüber verschuldeten Entwicklungsländern - mit oft verheerenden Wirkungen für die betroffenen Ländern - praktiziert hat, nun innerhalb der EU Nachahmung erfahren. Es soll ein permanenter „EU-Schutzschirm“ (EMF) eingerichtet werden (500 Mrd. Euro), der – falls die Währungsunion in Gefahr gerät - an überschuldete Staaten, Kredite vergibt und diese an „äußerst strikte Auflagen“ knüpft.
Am Beispiel Griechenlands sehen wir, was damit gemeint ist (jüngste Entwicklung: 50 Milliarden Euro-Privatisierungspaket für Griechenland). Die notwendige EU-Vertragsänderung soll bis 2013 vollzogen sein. Österreich wird 2,783 Mrd. Euro dafür einzahlen müssen. Im Grund genommen handelt es sich bei diesem „Schutzschirm“ um ein Instrument zu Kolonialisierung von EU-Staaten zu Lasten der Steuerzahler und zum Nutzen der großen Industrie- und Bankkonzerne.
4. Pakt für den Euro – Selbstverpflichtung zu Lohn- und Sozialdumping
Die EU-Staatschefs haben sich auch auf einen „Pakt für den Euro“ geeinigt. Zentrale Inhalte:
- Restriktive Lohnpolitik („starke und anhaltende Lohnsteigerungen können zur Aushöhlung der Wettbewerbsfähigkeit führen … Sicherstellung, dass Lohnabschlüsse im öffentlichen Sektor den auf Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit gerichteten Anstrengungen im Privatsektor förderlich sind…. Überprüfung des Grads der Zentralisierung im Verhandlungsprozess zur Lohnbildung“)
- Überführung der restriktiven EU-Haushaltsvorschriften in nationale Gesetzgebung (z.B. „Schuldenbremse“ nach deutschem Vorbild)
- Koordinierung der Steuerpolitik (Senkung der „Lohnnebenkosten“) sowie Druck auf die Sozial-, Pensions- und Gesundheitsausgaben (um die von der Kommission ermittelte „Tragfähigkeitslücke“ der Staatsfinanzen abzubauen)
Jedes Jahr wollen sich die „Europ-Pakt plus“-Mitglieder in diesem Sinne selbst ambitionierte Ziele verordnen. Dieser „Pakt für den Euro“ ist zwar noch nicht mit direkten Sanktionsmechanismen versehen; Druck soll durch ein jährliches Monitoring durch die EU-Kommission ausgeübt werden. Über die obigen Mechanismen (Defizit, Gesamtverschuldung, makroökonomische Ungleichgewichte) kann jedoch ohnehin die Lohn- und Sozialpolitik auch in den Strafmechanismus einbezogen werden. Zudem dient der Pakt als probates Instrument der Regierungen, um Ansprüche von Gewerkschaften und sozialen Bewegungen auszubremsen.
5. Neoliberalismus nach außen
Den Neoliberalismus, der nach innen verordnet wird, wollen die EU-Mächtigen auch dem Rest der Welt verordnen. Wovor die Solidarwerkstatt bereits bei der Auseinandersetzung um den EU-Lissabon-Vertrag gewarnt haben, wird nun Realität: Durch diesen EU-Vertrag erhielt die EU die ausschließliche Zuständigkeit „die Beschränkungen bei Ausländischen Direktinvestitionen schrittweise zu beseitigen“ (EU-Vertrag). Die EU-Kommission geht nun daran, diese Zuständigkeit zu nutzen und Verträge auszuhandeln, die noch konzernfreundlicher sind als die bestehenden Bilateralen Investitionsabkommen (BIT). Harter Kern der Liberalisierung des Kapitalverkehrs ist das Klagsrecht von Konzernen gegenüber Staaten, die z.B. mit Sozial-, Umweltgesetzen den Profittransfer schmälern bzw. den Kapitalverkehr regulieren wollen. O-Ton der EU-Kommission über das Ziel der EU-Investitionspolitik: „Ihre Handelspartner (die der EU, Anm GO) müssen sich dazu verpflichten, den ungehinderten Fluss von Investitionen aller Art zu gewährleisten und zu schützen. … Eine umfassende gemeinsame Auslandsinvestitionspolitik muss den Belangen der Investoren von der Planungs- bis zur Gewinnphase oder von der Phase vor der Zulassung bis zur Phase nach der Zulassung stärker Rechnung tragen.“ (KOMM 2010/343)
Abgerundet wird diese Politik der Investitionsliberalisierung durch die EU-Rohstoffinitiative aus dem Jahr 2008, die den „freien Zugang zu den Rohstoffmärkten“ in aller Welt fordert. In Libyen wird derzeit ein Exempel statuiert, wie ein entsprechendes politisches Umfeld herbeigebombt werden kann.
Weiteres zu diesem Thema siehe DOSSIER "Solidarsta.At statt EU-Konkurrenzregime!"