EU-Kommission gibt Mitgliedstaaten »Tips« zur Durchsetzung neoliberaler Reformen mit Hilfe des Corona-Wiederaufbaufonds. Von Steffen Stierle (aktiv bei Attac Deutschland und der Initiative Eurexit). Erstveröffentlichung: www.jungewelt.de

Krisen gelten gemeinhin als Momente, in denen weitreichende Veränderungen möglich sind, und somit auch als Chance. Meist ist es jedoch das Kapital, das in Zeiten drastischer Wirtschaftseinbrüche über die Kraft verfügt, die Spielregeln zu seinen Gunsten zu verändern. Zuletzt war das während der Euro-Krise zwischen 2010 und 2015 eindrucksvoll zu beobachten, als die sogenannte Troika in Pleitestaaten wie Griechenland und Portugal wütete. Im Zuge der Coronapandemie gibt die EU ihren Mitgliedstaaten bereits Tipps, wie sich die Gelegenheit am besten nutzen lässt, um der Bevölkerung neue Zumutungen aufzuzwingen – und erläutert, wie Brüssel dabei helfen kann, neoliberale Reformen durchzusetzen.

Politische Kosten

Schließlich lässt es sich kaum durch Faulheit und zu hohe Renten erklären, dass Spanien und Italien von der Pandemie besonders getroffen wurden. Somit ist es auch schwerer, neue Kahlschlagprogramme zu rechtfertigen. In einer „technischen Note“ vom 1. September erläutert die Wirtschaftsabteilung der EU-Kommission den Finanzministern der Euro-Zone, wie es mit dem „Reformieren“ trotzdem klappen kann (1). Das Problem bei der Durchsetzung der gewünschten Maßnahmen, so heißt es da, besteht darin, dass sie häufig „wirtschaftliche, soziale und politische Kosten“ verursachen, die „typischerweise spezifische Gruppen treffen“. Als die Troika ihr Unwesen trieb, zählten zu diesen „spezifischen Gruppen“ unter anderem „Arbeiter, Rentner, Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Kranke und Familien mit Kindern“. Kurzum, die breite Mehrheit der Bevölkerung.

In Brüssel weiß man, dass der Widerstand der „Verlierer einer Reform“ es manchmal erschwert, sie durchzubringen. Hinzu komme, dass mancher Kahlschlag auch von weiteren Teilen der Bevölkerung als „unfair“ empfunden werde. Soweit die Problemanalyse. Doch die „gute Nachricht“ folgt bereits im nächsten Absatz: Die Coronakrise ist für Politiker eine Chance, „eine starke Dynamik für ehrgeizige Reformagenden“ zu entfachen. Man muss aber wissen, wie man es anstellt. In der EU gibt es viel Erfahrung mit der Durchsetzung unbeliebter Maßnahmen. Diese hat die Wirtschaftskommission analysiert und hilft nun den Regierungen mit Informationen, wie es am besten klappt.

Hilfreich war es in der Vergangenheit demnach beispielsweise, so wird den Regierungen der Euro-Länder erklärt, das Parlament frühzeitig und umfassend einzubinden. Sinnvoll sei es auch, die Maßnahmen nicht in Wahlkampfzeiten, sondern möglichst kurz nach der Wahl anzugehen. So weit, so banal. Weiter wird erläutert, dass den „Verlierern“ der Reform besonders dann Aufmerksamkeit geschenkt werden muss, wenn sie gut organisiert sind. Dann können Konsultationsprozesse etc. nützlich sein, um einen Teil einzubinden und den anderen zu schwächen. Nicht umsonst werden auf EU-Ebene ständig Gewerkschafter oder Umweltverbände zu allen möglichen Anhörungen und Diskussionsrunden eingeladen.

Besonders cleveren Reformpolitikern gibt die Kommission den Tipp mit auf den Weg, die unmittelbar Betroffenen – und deshalb gut Organisierten – zu schonen, beispielsweise durch einen vorrübergehenden Mechanismus des finanziellen Ausgleichs oder dadurch, dass die Maßnahmen erst nach und nach in Kraft treten. Oder aber man versteckt die unliebsamen Maßnahmen in einem größeren Reformpaket.

Das habe beispielsweise bei der Arbeitsmarktreform in den Jahren 2014 und 2015 in Italien gut funktioniert. Hilfreich sei zudem natürlich auch, vermeintlich unabhängige Wissenschaftler einzusetzen, die permanent erklären, wie wichtig und vernünftig die Umsetzung der jeweiligen Regierungspläne ist. So habe etwa Estland gute Erfahrungen damit gemacht, Arbeitsmarktliberalisierungen durch „Expertisen“ der eigenen Zentralbank zu legitimieren. Soweit einige Beispiele. Das Papier enthält aber noch zahlreiche weitere Tipps zum undemokratischen Reformieren.

„Hindernisse überwinden“

Doch damit nicht genug: Brüssel will den Reformern in den Mitgliedstaaten auch ganz praktisch „unter die Arme greifen“. Deshalb werde man den 750 Milliarden Euro schweren Wiederaufbaufonds „eng an den Leitlinien des Europäischen Semesters“ ausrichten, in denen die Behörde den Mitgliedstaaten Jahr für Jahr neoliberale Reformempfehlungen mit auf den Weg gibt. In der Regel ist deren Umsetzung freiwillig, doch wenn Geld für den Wiederaufbau fließt, sollen sie verbindlich werden. So biete „die wirtschaftspolitische Steuerung aus Brüssel einen Rahmen für die Priorisierung von Reformmaßnahmen“. Kürzungswillige Politiker können daher von dem „starken Link zwischen Investitionen und Reformen“ profitieren, der mit dem Wiederaufbaufonds gemacht wird, heißt es in der Handreichung an die Euro-Finanzminister. Der Fonds könne den Regierungen somit helfen, „Hindernisse zu überwinden“.

Die Strategie des Apparats ist klar: In der Krise muss viel Geld ausgegeben werden, damit das fragile Konstrukt EU nicht zerbricht. Anschließend aber soll möglichst schnell zur neoliberalen Kahlschlagpolitik der vergangenen Jahre zurückgekehrt werden. Der Pfad dorthin ist in den Maßnahmen zur Bewältigung der Krise bereits angelegt. Die Einhaltung demokratischer Standards ist weiterhin kein Kriterium.

Quelle:
(1) alle Zitate im Folgenden aus: EU-Kommission, Understanding the political economy of reforms: evidence from the EU, Technical note for the Euro-group, 1.9.2020