ImageAuf Druck der deutschen Machthaber und der EU-Kommission haben sich die EU-Staatschefs beim EU-Gipfel Ende Oktober geeinigt, den Stabilitätspakt massiv zu verschärfen. Unter anderem soll Brüssel mit Hilfe von Sanktionen direkten Druck zur Senkung von Löhnen und Sozialleistungen ausüben können. Strafzahlungen für sog. „Defizitsünder“  werden ausgeweitet und automatisiert. Die deutsche Kanzlerin Merkel freut sich über diese "Revolution in der EU".


Vom Neoliberalismus…
 

Neoliberalismus zielt auf die Entfesselung der Konkurrenz durch Marktliberalisierung, Privatisierung und Sozialabbau. Die Entfesselung der Konkurrenz bedeutet letztlich die Durchsetzung des Rechts des Stärkeren. Vom Neoliberalismus zum Neokolonialismus ist es nur ein kurzer Schritt: Der Stärkere unterwirft den Schwächeren und diktiert ihm seine Regeln. Das können wir auf globaler Ebene sehen, wo Freihandel Hand in Hand geht mit Militarisierung, Besatzungsdiktaten und Gewalt. Dieselben Prozesse laufen nun auch mit großer Geschwindigkeit innerhalb der EU ab. Die Grundlagenverträge legen die EU als Konkurrenzregime fest, das alle EU-Staaten zu Freihandel und „offener Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ verpflichtet. Die Enthemmung der Konkurrenz in der EU durch Binnenmarkt und Währungsunion hat keineswegs zu einer wachsenden Integration und sozialen Ausgleich geführt. Im Gegenteil: Die sozialen und wirtschaftlichen Gräben sind größer geworden – sowohl innerhalb der EU-Länder als auch zwischen ihnen. Die Lohnquoten, also der Anteil der ArbeitnehmerInnen am Sozialprodukt, sinken ebenso, wie die Leistungsbilanzungleichgewichte zwischen den Staaten wachsen.

Zwischen beiden Prozessen gibt es einen klaren Zusammenhang: Diejenigen, die die Lohnquoten ihrer ArbeitnehmerInnen am stärksten drücken, sind in der Lage, ihre EU-„Partner“ am erfolgreichsten niederzukonkurrieren. Musterbeispiel Deutschland: Nirgends wurde die Lohnquote seit Einführung der Währungsunion so massiv gesenkt wie in der  BRD, nirgendwo sonst kletterten die Leistungsbilanzüberschüsse seither so raketenhaft nach oben. Zwei Drittel der deutschen Exportüberschüsse wurden auf Kosten von EU-Staaten erwirtschaftet, die gleichzeitig immer tiefer in die Leistungsbilanzdefizite – und damit einhergehend – die Verschuldung der öffentlichen und privaten Haushalte hineinschlitterten. (Siehe dazu auch Interview mit Joachim Becker, Professor an der WU-Wien, zum Fall Griechenland)

…zum Neokolonialismus 

Nun gehen die deutschen Machteliten mit Hilfe der EU daran, ihre wirtschaftliche Überlegenheit zum politischen Diktat zu nutzen. Wir erleben einen voranschreitenden Prozess der inneren Kolonialisierung des Kontinents. Besonders augenscheinlich wurde das bereits beim Diktat gegenüber den notleidenden Griechen. Dieser Staat kann heute kaum mehr als souveräner Staaten gesehen werden, wo das Parlamente über relevanten Einfluss auf das politische Geschehen im Land verfügt. De facto wurde ein Großteil der Macht von der EU-Kommission und dem IWF übernommen, die einen brachialen Sozialabbau- und Privatisierungskurs vorgeben und vom  Parlament absegnen lassen. Ähnliches gilt mittlerweile für andere Mittelmeerstaaten. EU-Kommissionspräsident Barroso hat den Gewerkschaftern Griechenlands, Spaniens und Portugals bereits unmissverständlich gedroht, dass „Umstürze“ und „Militärdiktaturen“ drohen könnten, „wenn diese Länder die Sparpakete nicht ausführen.“ (sh. guernica 2_2010) 

Verschärfung des Stabilitätspaktes 

Der sog. „Rettungsschirm“ der EU für die hochverschuldeten EU-Staaten rettet nicht die Menschen in diesen Ländern, im Gegenteil: dieser werden immer tiefer in die Armut hineingetrieben, er rettet die Profite der Gläubigerbanken, er sichert den überlegenen Exportindustrien die Absatzmärkte innerhalb der EU, er soll einen stahlharten Euro in der Weltmachtskonkurrenz sichern. Und er sichert Berlin und Brüssel die Kontrolle über die Politik Athens, Madrids, Lissabons usw. Das EU-Konkurrenzregime wird zum wirtschaftspolitischen Kolonialregime. Der Anlassfall Griechenland wird nun dazu genutzt, dieses Kolonialregime rechtlich einzuzementieren. Darüber haben sich Ende Oktober 2010 die EU-Staatschefs in den Grundzügen geeinigt. In einem neuen EU-Vertrag soll die Kontrolle über die Wirtschafts- und Sozialpolitik der Mitgliedsstaaten erheblich verschärft werden. Die wesentlichsten Punkte sind: 


1. In einem sog. „Europäischen Semester“ soll die Budgetpolitik den nationalen Parlamenten von EU-Kommission und Rat „präventiv“ vorgegeben werden. Diese haben zwar zunächst den Charakter von „Empfehlungen“, de facto handelt es sich aber um Diktate, da der Strafkatalog erheblich ausgeweitet und verschärft wird.


2. Der sog. „Stabilitätspakt“ soll erheblich verschärft werden. Sanktion sollen nicht erst – wie bisher – bei Überschreitung eines Defizits von 3% des BIP erlassen werden , sondern bereits darunter, wenn das Land „erheblich vom Anpassungspfad abweicht und diese Abweichung nicht korrigiert“. Damit schwebt ein Damoklesschwert über vielen EU-Staaten, mehr als die Hälfte hat derzeit eine Staatsverschuldung von über 60% des BIP.

 

3. Diese Strafen sollen rascher und automatischer als bisher erfolgen:

    • Bereits bei einem Defizit von unter 3% soll es nach einer Frühwarnung zu finanziellen Sanktionen kommen: Das gemahnte Land muss 0,2% seiner Wirtschaftsleistung als verzinsliche Einlage bei der EU-Kommission hinterlegen (Zur Orientierung: Im Falles Österreichs wären das fast 600 Millionen Euro).
    • Nach Einleitung eines offiziellen Defizitverfahrens würde diese in eine unverzinsliche Einlage verwandelt, die – wenn keine Korrekturen erfolgen – schließlich unwiederbringlich eingezogen auf die anderen EU-Staaten aufgeteilt wird.
    • Bei fortgesetzter Verletzung des Stabilitätspaktes können schließlich weitere und höhere Strafzahlungen verhängt werden.
    • Die Macht der Kommission steigt, da alle Strafen – mit Ausnahme der letzten Stufe – nach dem Prinzip der umgekehrten Mehrheit gefällt werden sollen. Bisher musste eine qualifizierte Mehrheit der Staaten dafür sein, nun kann das Strafkarussell nur mehr angehalten werden, wenn sich eine qualifizierte Mehrheit dagegen findet.
    • Dies Strafen sollen von den Mitgliedern des Euro-Raums auf alle EU-Staaten ausgeweitet werden, indem in Hinkunft auch Zahlungen aus EU-Töpfen an Defizitsünder eingeschränkt bzw. gestrichen werden können.
    • Auch weitere Strafmaßnahmen, wie etwa der Stimmrechtsentzug für Defizitsünder sollen „geprüft“ werden.

4. Neben Defizit und Verschuldung der Staatshaushalte sollen weitere wirtschaftspolitische Kriterien unter die Kontrolle der EU kommen. Der Überwachung und letztlich auch den Sanktionen der EU sollen in Hinkunft auch Staaten liegen, die eine mangelnde „Wettbewerbsfähigkeit“ bzw. defizitäre Leistungsbilanz aufweisen. Damit sichert sich die EU erstmals den direkten Zugriff auf die Lohn- und Sozialpolitik der Länder. Denn klarerweise sind Löhne und Sozialleistungen die ersten und rascheste Schrauben, an der (nach unten) gedreht werden kann, um dem goldenen Kalb „Wettbewerbsfähigkeit“ Opfer zu bringen.


5. Schließlich soll die Politik, die der Internationalen Währungsfonds gegenüber verschuldeten Entwicklungsländern - mit oft verheerenden Wirkungen für die betroffenen Ländern - praktiziert hat, nun innerhalb der EU Nachahmung erfahren. So soll ein permanenter „EU-Schutzschirm“ eingerichtet werden, der – falls die Währungsunion in Gefahr gerät - an überschuldete Staaten, Kredite vergibt und diese an „äußerst strikte Auflagen“ knüpft. Am Beispiel Griechenlands sehen wir, was damit gemeint ist. (Siehe Anmerkungen (1) und (2))

„Land X, Zurückhaltung in der Lohnentwicklung!“ 

Deutsche Industriekonzerne und Banken profitieren ökonomisch am meisten von diesem neokolonialen EU-Regime.  Entsprechend resümiert die Presse über den EU-Gipfel Ende Oktober: „Die deutsche Kanzlerin hat beim Europäischen Rat an allen Fronten gewonnen.“ (Die Presse, 29.10.2010) Vor allem „das neue Disziplinarverfahren gegen mangelnde Wettbewerbsfähigkeit“ ist nach Ansicht Merkels „für die EU ein revolutionärer Schritt.“ (Wirtschafts-Blatt, 29.10.2010) Freilich können die deutschen Machthaben an den Interessenlage der jeweiligen nationalen Eliten anknüpfen. Diese werden in Hinkunft mit Verweis auf drohende EU-Sanktionen viel offener und brutaler in ihren Ländern Sozial- und Lohndumping betreiben können. Der österreichische Finanzminister Pröll hat diese Linie unzweideutig zum Ausdruck gebracht. Frage an Pröll: „Soll die Kommission sagen können: Bitte, Land X, Zurückhaltung in der Lohnentwicklung.“ Antwort Pröll: „Da sage ich klar Ja.“ (Standard, 07.05.2010).

Politische Demenz des Kanzlers

Diese Veränderungen soll im EU-Grundlagenvertrag verankert werden. Und zwar bereits im Frühjahr 2011, mit Hilfe eines sog. „beschleunigten Verfahrens“, das es den Staatschefs ermöglicht lästige demokratische Prozeduren abzukürzen. Der österreichische Kanzler Faymann hat bereits angekündigt, dass er nicht daran denke, die Bevölkerung über eine solche Vertragsänderung abstimmen zu lassen. Zwar hatte er vor zwei Jahren in einem öffentlichen Brief an eine große Zeitung gelobt, Vertragsänderungen in Hinkunft Volksabstimmungen zu unterwerfen, aber was kümmert einen Bundeskanzler und SPÖ-Vorsitzenden sein Geschwätz von gestern. "Niemand wird von mir verlangen können, dass ich die Leute frage, ob sie dafür sind, dass es so bleibt“, bekennt sich Faymann ungeniert zu seiner politischen Demenz. (Standard, 30./31.10.2010) 

Für jene in seiner Partei, in den Gewerkschaften und den verschiedenen sozialen Bewegungen, die noch immer die Hoffnung gehegt haben, dass mit der EU ein soziales Europa errichtet werden könnte, zerplatzen zunehmend die letzten Illusionen. Die Solidar-Werkstatt fordert die Nationalratsabgeordneten auf, diese Verschärfung des EU-Stabilitätspaktes, die zu weiterem Druck auf den Sozialstaat führt, nicht zu ratifizieren. Die EU-Oberen antworten auf die Jahrhundertkrise, in die die neoliberale Wirtschaftspolitik geführt hat, mit der Radikalisierung des Neoliberalismus und der inneren Kolonialisierung der EU. Die Solidar-Werkstatt arbeitet dafür, dass wir darauf mit dem Austritt Österreichs aus dieser Union antworten.

Gerald Oberansmayr

Anmerkungen:

(1)    EU-Arbeitsgruppe „Wirtschaftspolitische Steuerung“ siehe http://www.consilium.europa.eu/uedocs/cms_data/docs/pressdata/de/ec/117429.pdf
(2
)    Schlussfolgerungen des Europäischen Rates, 28./29.10.2010, Brüssel, http://europa.eu/rapid/pressReleasesAction.do?reference=DOC/10/4&format=HTML&aged=0&language=DE&guiLanguage=en