„Die ausreichende materielle Absicherung von Erwerbsarbeitslosen steigert nicht die Arbeitsunwilligkeit, wie Neoliberale behaupten. Diese verbessert vielmehr die Verhandlungsposition von Arbeitslosen, bewahrt diese davor, zur Sicherung ihres Lebensunterhalts unfaire Arbeits- und Lebensbedingungen zu akzeptieren.“ Interview mit Univ. Prof. i.R. Dr. Emmerich Talos (Universität Wien)


Werkstatt-Blatt: Sie engagieren sich für das Volksbegehren "Arbeitslosengeld rauf!", das die Anhebung des Arbeitslosengeldes auf zumindest 70% des Letztbezugs fordert. Warum halten Sie diese Forderung für so wichtig?

Emmerich Talos: Die Arbeitslosenversicherung ist seit mehr als 100 Jahren ein wichtiger Bestandteil des Leistungssystems des österreichischen Sozialstaates. Die Arbeitsmarktentwicklung, insbesondere auch im Zusammenhang mit der Corona Pandemie, hat allerdings deutlich gemacht, dass das derzeitige Niveau des Arbeitslosengeldes und der Notstandshilfe für viele erwerbsarbeitslose Menschen nicht reicht, um sie vor Verarmung zu schützen.

Verstärkt wird diese Problematik nunmehr auch noch durch die aktuelle Entwicklung von Wohlstandsverlusten in Folge von Preissteigerungen beim Wohnen, von Kostensteigerungen bei Lebensmittel und Energie. Betroffen davon sind über BezieherInnen von Sozialhilfe und Niedrigpensionen hinaus vor allem auch Langzeiterwerbslose mit Notstandshilfebezug.

Die Anhebung der Nettoersatzrate von dem im internationalen Vergleich äußerst niedrigen Niveau von 55% der Nettoersatzrate auf mindestens 70% ist daher ein unumgänglich notwendiger Schritt. Die Forderung der Verbesserung der materiellen Situation vieler erwerbsarbeitsloser Menschen ist einer der Kernpunkte des Volksbegehrens „Arbeitslosengeld Rauf!“

Das Volksbegehren fordert auch, die Zumutbarkeitsbestimmungen zu entschärfen bzw. die Rechtsstellung der Arbeitslosen zu verbessern und die Zuverdienstmöglichkeit aufrechtzuerhalten. Was ist damit gemeint?

Unter den schwarz/türkis/blauen Regierungen wurden die gesetzlichen Vorgaben für den Bezug des Arbeitslosengeldes und der Notstandshilfe beträchtlich verschärft – ablesbar an den Bestimmungen betreffend Arbeitswilligkeit, Einhaltung der Kontrollmeldetermine, Ablehnung von Schulungsmaßnahmen. Nicht zuletzt wurden die Wegzeiten für die Hin- und Rückfahrt vom Arbeitsplatz verlängert. Mitteilungen des AMS traten an Stelle rechtlich begründeter Bescheide.

In den aktuellen Auseinandersetzungen über Änderungen in der Arbeitslosenversicherung wurde von Unternehmervertretungen sogar die Forderung für einen Vermittlungszwang für Arbeitslose in ganz Österreich ventiliert. In Abgrenzung dazu läuft das Volksbegehren auf eine Entschärfung der Zumutbarkeitskriterien hinaus.

Darüberhinaus tritt das Volksbegehren für die Aufrechterhaltung der Zuverdienstmöglichkeit für Erwerbsarbeitslose ein. Dies bietet für die Betroffenen die Möglichkeit der Integration in den Erwerbsarbeitsmarkt.

Die ausreichende materielle Absicherung von Erwerbsarbeitslosen steigert nicht die Arbeitsunwilligkeit, wie Neoliberale behaupten. Diese verbessert vielmehr die Verhandlungsposition von Arbeitslosen, bewahrt diese davor, zur Sicherung ihres Lebensunterhalts unfaire Arbeits- und Lebensbedingungen zu akzeptieren. Sie wirkt zudem der Ausweitung eines Niedriglohnsektors à la Hartz IV entgegen.

Warum wurde das Instrument eines Volksbegehrens gewählt? Was können wir damit bewegen?

Während Parteien und Verbände je spezifische, unterschiedliche partikulare Interessen vertreten, zielen Volksbegehren darauf ab, partei- und verbändeübergreifend für bestimmte Anliegen zu mobilisieren und diesbezüglich übergreifend zusammen zu arbeiten. Sie stellen damit als ein direkt demokratisches Instrument eine wichtige Ergänzung für politische Prozesse dar.

Was wir mit dem Volksbegehren „Arbeitslosengeld Rauf!“ bewegen können, ist eine Sensibilisierung für aktuelle Problemlagen und Herausforderungen. Zugleich kann das Volksbegehren bei einer ausreichenden Unterstützung im Rahmen der Eintragungswoche vom 2. - 9. Mai einen einschlägigen parlamentarischen Prozess befördern und den Anstoß zu einem spezifischen reformpolitischen Gesetzgebungsprozess bilden.

Wirtschaftskreise und Teile der Regierung wollen ein degressives Arbeitslosengeld bei der kommenden Arbeitsmarktreform durchsetzen, das zwar am Anfang höher ist, dann aber mit Dauer der Arbeitslosigkeit immer stärker absinkt. Was halten Sie davon?

Dieses Modell basiert auf neoliberalen sozialstaatlichen Kürzungsvorstellungen mit dem angeblichen Ziel, Anreize für die Betroffenen zu schaffen. Allerdings geht es bei diesem Modell nicht um eine Verbesserung der Bedingungen von Arbeitslosen, sondern um Druck auf diese, um Druck auf Annahme schlechter Jobs. Es läuft nicht auf eine Verbesserung ihrer sozialen und materiellen Situation hinaus, sondern letztlich auf eine Verschärfung des Armutsrisikos. Das Volksbegehren zielt darauf ab, derartigen Kürzungsoptionen gegenzusteuern.

Eine Losung des Volksbegehrens lautet "Arbeitslosigkeit bekämpfen, nicht Arbeitslose". Was sind Ihre Vorschläge, um die nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit zu bekämpfen?

Der Ausbau der Instrumente der aktiven Arbeitsmarktpolitik und die staatliche Förderung von Arbeitsplätzen (z.B Aktion 20.000, Beschäftigungsbonus unter SPÖ/ÖVP) wären m.E. ebenso wichtig wie die Verkürzung der Arbeitszeit und eine adäquate soziale und materielle Absicherung atypisch Beschäftigter.

aus: Werkstatt-Blatt 1/2022 (Zeitung der Solidarwerkstatt Österreich)

HINWEIS:
Von 2. bis 9. Mai 2022 kann das Volksbegehren ARBEITSLOSENGELD RAUF! auf jedem Gemeinde-, Bezirksamt bzw. Magistrat oder online mit Handisignatur bzw. Bürgerkarte unterschrieben werden!