ImageEine Gesellschaft, in der jede/r Güter und Leistungen entsprechend seinen Bedürfnissen erhält, wenn jede/r nach seiner Leistungsfähigkeit seinen Beitrag leistet, ist keine Vision. Ihre Durchsetzung drängt unmittelbar auf die Agenda. Freilich, der EU-Rahmen muss dafür gesprengt werden. Ein Kommentar von Boris Lechthaler-Zuljevic



„Italien vor Nullwachstum – Wirtschaft stagniert, Inlandskonsum weiter rückläufig. ... Auch wenn noch nicht von Rezession gesprochen werden kann, herrscht doch Stagnation. ... Die Arbeitslosenrate verharrt knapp über acht Prozent. Die Jugendarbeitslosigkeit in Italien ist mit 27,8 Prozent die dritthöchste in der EU. Grund für die Stagnation ist der weiterhin rückläufige Inlandskonsum. Experten erwarten im zweiten Halbjahr auch eine Exportabschwächung.“
(Der Standard, 22.8.2011)

„Athen warnt EU vor Minus bei Steueraufkommen. ... Aufgrund der schrumpfenden Wirtschaft gingen die (Staats-)Einnahmen in den ersten sieben Monaten um 1,9 Mrd. Euro im Vergleich zum Vorjahr zurück, während die Ausgaben um 2,7 Mrd. Euro anstiegen.“( Der Standard, 22.8.2011)
„Die griechische Wirtschaft wird laut offiziellen Schätzungen heuer um fünf bis 5,5% schrumpfen. Im Vorjahr gab es bereits ein Minus von 4,5%."
(Die Presse, 22.8.2011)

„Tatsache ist, dass die Reallöhne heuer um 0,8 Prozent zurückgegangen sind.“ (WIFO-Chef Aiginger, Der Standard, 22.August 2011).

„Das Rezessionsgespenst geht wieder um... Laut dem Chefökonomen von Morgan Stanley liegt das Risiko einer Rezession in Europa bei 50 Prozent. Auch in den USA sehen Experten die niedrigen Renditen der Staatsanleihen als Indikator für einen Abschwung.“ (Die Presse, 22.8.2011)

Vor wenigen Monaten wurde noch das Ende der Krise gefeiert. Die Kurse an den Aktienmärkten stiegen kontinuierlich. Regierungen und Notenbanken sahen sich mit ihren Maßnahmen der Liquiditätsversorgung, Banken- und Konzernrettungen und Konjunkturspritzen als Retter in der Not bestätigt. Aufräumarbeiten waren angesagt. Mit der Krise waren Jahre, ja Jahrzehnte der neoliberalen Politik des schlanken Staates innerhalb von Wochen verdampft. Die Staatsausgabenquote (Anteil öffentlicher Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt) liegt in Österreich wieder nahe 55%. Die im Herbst 2008 verabreichte Beruhigungskur löst in der Zwischenzeit bei den Eliten Panikattacken aus. Es heißt die Finanzkrise sei über die Wirtschaftskrise zur Staatsschuldenkrise geworden. Wir können das getrost als neoliberales Märchen nehmen. Den Staatsschulden müssen ebensolche Vermögenswerte gegenüberstehen. Werden erstere in Relation zur wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft als zu hoch eingeschätzt, müssen zweitere entwertet werden. Die Instrumente dafür sind bekannt und vorhanden. Das Gezeter über die zu hohen Staatsschulden rührt aus der Panik über die Höhe der öffentlichen Ausgaben. „Ab sofort sollen Strafzahlungen nicht nur bei Überschreiten des 3% Defizitikriteriums erfolgen, sondern auch wenn die Gesamtverschuldung über 60% des BIP ausmacht. Dann müssen nach einer sogenannten Zwanzigstelregelung Jahr für Jahr Sparpakete geschnürt werden. Für Österreich, das bei einer Gesamtverschuldung knapp über 70% liegt, hieße dass, dass die nächsten 20 Jahre jedes Jahr milliardenschwere Spar- bzw. Belastungspakete ins Haus stehen.“ (Werkstatt-Blatt 1-2011)

Angst der Eliten vor Bedeutungsgewinn öffentlicher Ausgaben

Folgerichtig hat die EU im Rahmen des beschlossenen „six packs“ nicht mehr nur die Defizitquote im Visier, sondern die Staatsausgabenquote insgesamt. Österreich ist in diesem Zusammenhang wieder Musterschüler:Im sog. Budget-Finanzrahmen 2012-2015 fallen die Ausgaben fuer Bildung, Soziales und Infrastruktur - gemessen am BIP - um 16 Milliarden Euro zurück.“ (Werkstatt-Rundbrief 14-2011) Die Motivation für diese Politik findet sich nicht in der Rücksicht auf wirtschaftliche Vernunft. Sie findet sich in der Angst der Eliten vor der mit dem Bedeutungsgewinn öffentlicher Ausgaben verbundenen Veränderung gesesllschaftlicher Machtverhältnisse. Und führt uns damit zurück in die Gemengelage bei der Durchsetzung  bei der neoliberalen Konterrevolution im Allgemeinen und des EU-Binnenmarktregimes im Besonderen. Freilich unter völlig veränderten Bedingungen.  

Die EU-Integration ist nicht sozialreaktionär, weil sie von neoliberalen Kräften geprägt und gesteuert wird. Ihr sozialreaktionärer Charakter kann deshalb auch nicht überwunden werden, indem sie adjektivisch anders eingefärbt wird. Sie war schlechthin das Instrument der Durchsetzung der neoliberalen Konterrevolution in Europa im Allgemeinen und mit dem Beitritt in Österreich im Besonderen. Ihre Durchsetzungsfähigkeit rührt nicht aus der Funktionstüchtigkeit der elitären Konzepte, sondern aus der Selbstkastration der emanzipativen Kräfte. Das EU-Binnenmarktkonzept ist der Versuch der Wiederingangsetzung eines industriekapitalistischen Hegemonialzyklus zu einem Zeitpunkt, an dem er endgültig begraben werden sollte. Erst die Akzeptanz der dadurch gesetzten Vorgaben, ja ihre Zuschreibung als zeitgemäß und fortschrittlich durch Gewerkschaften und linke Parteien nehmen dem Bedürfnis nach Freiheit und Solidarität jeglichen Atem.

10% des Sozialprodukts zusätzlich für Soziales, Bildung, Infrastruktur

Offensichtlich wird dies in der Debatte um Vermögens- und Finanztransaktionssteuern. Es gibt viele gute Gründe derartige Steuern einzuführen. Ihre Bedeutung liegt offenkundig weitgehend in ihrer Fähigkeit hypertrophe Vermögensbildung und spekulative Aktivitäten zu unterbinden. Zur dauerhaften Finanzierung gemeinschaftlicher Leistungen sind sie völlig ungeeignet. Die Sichtweise Vermögen seien der Quell des „Reichtums der Nationen“ führt uns zurück in vorphysiokratische Vorstellungen (17. Jhdt), nach denen dieser im Edelmetallbestand des Fürsten zu bemessen sei. „Eat the rich!“, klingt radikal und ist doch nichts als der letzte Abklatsch neoliberaler Hegemonie in den Köpfen. Immobilien, Gold, Geld und Aktien kann man nicht essen. 

Laut Berechnungen der Solidarwerkstatt müssen 10% des Sozialprodukts bewegt werden um die notwendigen und sinnstiftenden gemeinschaftlichen Leistungen im Bereich Soziales, Bildung, Infrastruktur zur Verfügung zu stellen. Für Österreich bedeutet dies eine Größenordnung von 20-30 Mrd Euro. Vermögenssteuern bringen selbst unter den gewagtesten Berechnungen maximal ein Zehntel dieses Volumens. Eine Gesellschaft, in der jede/r Güter und Leistungen entsprechend seinen Bedürfnissen erhält, wenn jede/r nach seiner Leistungsfähigkeit seinen Beitrag leistet, ist keine Vision. Ihre Durchsetzung drängt unmittelbar auf die Agenda. Freilich, der EU-Rahmen muss dafür gesprengt werden.