Die geplanten 500-Milliarden des EU-Corona-Wiederaufbaufonds, die als Zuschüsse ausbezahlt werden sollen, erregen Aufsehen und Streit. Es gehe um europäische Solidarität meinen die einen, es gehe darum, eine Schuldenunion zu verhindern, meinen die anderen. Beides liegt daneben.

Die Regierungschefs Merkel und Macron haben vorgelegt, EU-Kommissionspräsidentin Van der Leyen ist nachgetrippelt: 500 Milliarden sollen von der Kommission an Anleihen aufgenommen werden, um dann anschließend im Rahmen des EU-Budgets 2021-2027 an die Corona-geplagten EU-Staaten in Form von Zuschüssen verteilt zu werden. Dieser sog. „Wiederaufbaufonds“ erregt derzeit großes Aufsehen und Streit. Eine halbe Billion ist schließlich kein Klacks.

Gewinner und Verlierer der Währungsunion

Schaut man etwas ins Detail, relativiert sich diese Zahl gewaltig. Sie ist bestenfalls ein Feigenblatt für die Wunden, die in etlichen EU-Staaten durch die Einführung der Währungsunion geschlagen wurden. Es gibt eine Studie aus dem Jahr 2019 über Gewinner und Verlierer der Währungsunion, über die bei uns so gut wie nicht berichtet wird, obwohl (oder weil) sie politischen Sprengstoff enthält. Diese Studie stammt von Centrum für Europäischen Politik, einem mainstreamigen Think Tank, in dessen Kuratorium sich u.a. der ehemalige EU-Kommissar Frits Bolkestein oder der (mittlerweile verstorbene) deutsche Präsident Roman Herzog befinden bzw. befanden. Die Studie „20 Jahre Euro – Gewinner und Verlierer“ (1) kommt zu einem eindeutigen Ergebnis: Deutschland hat im Zeitraum 1999 bis 2017 enorm gewonnen: Fast 1,9 Billionen Euro zusätzliches Bruttoinlandsprodukt (BIP) errechneten das CEP akkumuliert über diesen Zeitraum für die BRD. Auch die Niederlande steigen mit über 1,1 Billionen Euro deutlich positiv aus. Auf der anderen Seite erlitten andere Länder horrende Verluste: Italien minus 4,3 Billionen Euro, Frankreich fast minus 3,6 Billionen Euro, Spanien über 200 Millionen, Portugal über 400 Millionen Euro (sh. Tabelle, Spalte [1]).

Wiederaufbaufonds

Die Ursachen für diese wachsenden Ungleichgewichte: Wenn der Schutzmantel der Wechselkurse wegfällt, können die durch Lohndumping "wettbewerbsfähigeren“ Nationen die anderen niederkonkurrieren. Die rot-grüne Regierung Fischer/Schröder hat mit Hartz IV den Niedriglohnsektor massiv ausgeweitet und seit Einführung der Währungsunion damit einen explodierenden Handelsbilanzüberschuss auf Kosten anderer Euro-Staaten erzielt. Gewinner sind damit auch in Ländern wie Deutschland keineswegs alle, viele sind dort aufgrund Reallohnsenkungen und Verschlechterung der Sozialleistungen massive Verlierer, Hauptprofiteur ist die deutsche Exportindustrie – und im Schlepptau auch die niederländische bzw. österreichische (2).

Wiederaufbaufonds: Feigenblatt für die Wunden der Währungsunion…

Spannend ist es nun, diese akkumulierten Gewinne bzw. Verluste mit den Nettoausschüttungen aus dem Wiederaufbaufonds ins Verhältnis zu setzen. Das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung in Mannheim hat versucht, diese Nettoausschüttungen – anhand verschiedener Parameter zu entwickeln (3). Das ist sicherlich mit Unsicherheiten behaftet, gibt aber doch einen ersten Einblick in bestimmte Größenordnungen. Angenommen wurde, dass die Ausschüttungen an die Krisenländern v.a. aufgrund des Einbruchs beim BIP erfolgt (4), die Refinanzierung anhand des Anteils am gesamt EU-BIP. Das relativiert die Umverteilungswirkung des Wiederaufbaufonds bereits erheblich. Zwar sind Länder wie Deutschland oder die Niederlande Nettozahler - 23 Milliarden (0,7% am BIP) respektive 2 Milliarden (0,25% am BIP) – gestreckt über einen langen Rückzahlungszeitraum sind das aber keine atemberaubenden Beträge. Umgekehrt sind Italien (25,8 Mrd.), Spanien (13,7 Mrd.), Frankreich (10,7 Mrd.) und Portugal (0,1 Mrd.) Netto-Empfänger, doch auch hier sind die Beträge gemessen am BIP überaus bescheiden (sh. Tabelle, Spalten [2] bis [5]). Diese Zahlen ermöglichen, die jeweiligen Netto-Ausgaben bzw. Einnahmen des „Wiederaufbaufonds“ mit den bisherigen Gewinnen und Verlusten aus der Währungsunion zu vergleichen. Deutschlands Belastung beträgt gerade einmal 1,24% der Gewinne aus der Währungsunion, für die Niederlande sind es 0,18%. Und umgekehrt: Italien erhält 0,6% von dem zurück, was man vorher durch den Euro verloren hat, Frankreich 0,3%, Portugal 0,02%. Nur bei Spanien ist es mit 6,1% etwas mehr, aber eben auch nur ein gutes Zwanzigstel dessen, was das Land durch die Währungsunion eingebüßt hat (sh. Spalte [6]).

Das alles zeigt wieder einmal die völlig unhaltbare Konstruktion von EU und Euro auf: als eines Konkurrenzregimes, das systematisch Umverteilung von unten nach oben produziert, zwischen den Staaten und innerhalb dieser. Denn wo die äußere Abwertung als Puffer zwischen ungleichen Ökonomien nicht mehr zur Verfügung steht, bleibt nur mehr die innere Abwertung durch Lohn- und Sozialabbau.

… und Trojanisches Pferd

Dazu kommt, dass letztlich die EU-Kommission die Entscheidung darüber trifft, wofür und unter welchen Bedingungen die 500 Milliarden an die EU-Staaten ausgeschüttet werden. Die EU-Kommission hat angekündigt, dass man das klar mit dem „Empfehlungen“ im Rahmen des „Europäischen Semesters“ junktimieren werde. Was das heißt, zeigt eine Analyse der „Europäischen Semester“ im Zeitraum 2011 bis 2018. In diesem Zeitraum hat die EU-Kommission von den EU-Staaten
- 109-Mal Verschlechterungen bei den Pensionen
- 63-Mal gefordert, im Gesundheitsbereich zu kürzen bzw. zu privatisieren
- 50-Mal, das Lohnwachstum einzuschränken
- 39-Mal, Kündigungsschutz und Gewerkschaftsrechte zu beschneiden
- 35-Mal, Ausgaben für Arbeitslose und Menschen mit Behinderungen zu kürzen (5).

D.h. die 500 Milliarden verschaffen der EU-Kommission zusätzliche Macht, ihre Forderungen gegenüber den EU-Staaten durchzusetzen. Die Kommission hat bereits angekündigt, von diesem Druckmittel Gebrauch zu machen: EU-Kommissar für Soziales Valdis Dombrovski: „Der Konjunkturfonds wird ein zusätzliches Instrument sein, um sicherzustellen, dass die nationalen Regierungen ihre Empfehlungen umsetzen.“ EU-Wirtschafts-Kommissar Paolo Gentilonie ergänzt: „Ich bin sicher, dass die Mitgliedsstaaten, wenn man bedenkt, was auf dem Spiel steht, diesen Empfehlungen Beachtung schenken werden.“ (6) Finanziert wird diese Erpressungsmacht letztlich aus unseren Steuermitteln. 

Damit kommen wir wohl zum Kern der Sache: Die 500 Milliarden spielen bei der Bekämpfung der Coronakrise besten Falls die Rolle eines Feigenblatts. Das einzige, was den besonders geplagten Mittelmeerländern strukturell helfen würde, wäre die souveräne Verfügung über Währung und Geldpolitik. Dieser Wideraufbaufonds ist aber nicht nur Feigenblatt, er sich auch ein trojanisches Pferd, um

  • die Macht der EU-Technokratie zu stärken, um neoliberale Strukturreformen durchzusetzen. Freilich geht es auch um Geld für zusätzliche Investitionen. Da wird zwar einiges Gute versprochen – z.B. mehr Geld für Klima- und Umweltschutz. Doch auch hier empfiehlt sich, das Kleingedruckte zu lesen. Macron etwas versteht darunter auch Milliardenhilfen für die Automobil- und Flugzeugbranche (7). Und Van der Leyen will damit nicht zuletzt die „Strategische Autonomie“ der EU stärken (8), eine Chiffre, die oftmals verwendet wird, um den Aufbau strategischer EU-Rüstungskapazitäten euphemistisch zu umschreiben.
  • um die Vorherrschaft der deutschen Machteliten und die Profite der deutschen Exportindustrie zu sichern, die von der Währungsunion enorm profitiert hat – auf Kosten der südeuropäischen Peripherie UND der Arbeitenden im eigenen Land.
„Deutsche Goldgrube – wirtschaftliche Verwüstung der Mittelmeerländer“

Der deutsche Sozialwissenschaftler Wolfgang Streeck resümiert: "Erstens wird die deutsche Regierung Wege finden, damit die EZB weiterhin „alles tun kann, was nötig ist“, um den Euro am Leben zu erhalten. (Ob dies letztendlich erfolgreich sein wird, ist eine andere Frage.) Der Euro ist die ultimative deutsche Goldgrube, und während es bei weitem nicht klar ist, warum Italien, Spanien und Frankreich so eifrig an ihm festhalten, ist er für Deutschland in diesen Zeiten langanhaltender kapitalistischer Stagnation eine Lebensader.

Zweitens, auch wenn die EZB und der Brüsseler Haushalt und die Europäische Investitionsbank und die anderen noch einige Jahre lang die Mittel finden, um die politischen Klassen der im Niedergang begriffenen südlichen Peripherie des Eurolandes durch europäische Geldinjektionen und geschickt inszenierte symbolische deutsche Kapitulationen an der Macht zu halten, wird dies die wirtschaftliche Verwüstung der Mittelmeerländer nicht aufhalten. Diese ist struktureller Art, wurzelt im Verzicht der Mittelmeerländer auf ihre Währungssouveränität und sind so tiefgreifend, dass sie nicht durch Transferleistungen behoben werden können, die deutsche Regierungen sich wirtschaftlich oder politisch leisten könnten.

Das Ergebnis wird wachsende Ungleichheit zwischen den Ländern der Währungsunion und innerhalb der Länder selbst sein, begleitet von noch schneller wachsender internationaler Feindseligkeit. Die Stunde der Wahrheit für die leeren deutschen Versprechungen der Vergangenheit, gemacht in der leichtsinnigen Hoffnung, dass sie niemals eingelöst werden müssen, kommt näher. Die Enttäuschung wird die europäische Politik zutiefst vergiften." (9)

Das strategische Resümee der Solidarwerkstatt Österreich: Raus aus EU und Euro – als Voraussetzung für eine selbstbestimmte österreichische Politik und für ein solidarisches Europa, das diesen Namen verdient.

Gerald Oberansmayr
(Mai 2020)

Anmerkungen:

  1. https://www.cep.eu/fileadmin/user_upload/cep.eu/Studien/20_Jahre_Euro_-_Gewinner_und_Verlierer/cepStudie_20_Jahre_Euro_Verlierer_und_Gewinner.pdf
  2. Österreich wurde in dieser Studie leider nicht untersucht.
  3. http://ftp.zew.de/pub/zew-docs/ZEWKurzexpertisen/EN/ZEW_Shortreport2007.pdf
  4. Ein anderes Szenario nimmt einen Verteilung an die EU-Staaten nach einem Schlüssel an, der sich aus einem Mix von BIP-Rückgang und Erhöhung der Arbeitslosigkeit berechnet.
  5. https://www.dielinke-europa.eu/de/article/12609.neuer-bericht-überwachen-und-strafen-ende-für-den-stabilitäts-und-wachstumspakt.html
  6. EurActive, 21.5.2020
  7. FAZ, 20.5.2020
  8. Wiener Zeitung, 23.4.2020
  9. https://makroskop.eu, 26.5.2020