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... geht nicht nur um Daseinsvorsorge
Nachbetrachtung zum Seminar „Sozialstaat und Gemeinwirtschaft in der Perspektive einer Systemtransformation“ mit Dr. phil Horst Müller am 9. April 2011 in Linz.

Die Finanzmärkte sind nervös und reagieren auf geringste Neuigkeiten mit kräftigen Kursausschlägen. Doch auch in den sozialen Bewegungen lösen sich Phasen des Stillstands und Phasen breiter, heftiger Aktionen immer rascher ab. Mit der Krise scheint die gesellschaftliche Auseinandersetzung wieder an den Ausgangspunkt der sozialreaktionären neoliberalen Wende vor 30 Jahren zurückgeworfen: massiven Angriffen der Machteliten auf die öffentlichen Budgets.

Mit der Finanzkrise sind die diesbezüglichen kümmerlichen Erfolge innerhalb weniger Wochen verdampft. Die Staatsschuldenquote liegt heute in Österreich wieder bei 74%, die durch öffentliche Budgets organisierte Wertschöpfung liegt wieder knapp unter 55%. Die Staatsschuldenkrise wurde zum beherrschenden Thema, begleitet von Analysen mit einem Tiefgang eines Fußbads in der Suppenschüssel. Beschreibt die Auseinandersetzung über Höhe, Inhalt und Aufbringung der öffentlichen Mittel mitunter überhaupt die Hauptlinie der aktuellen gesellschaftlichen Konflikte? Dieser Frage systematisch nachzugehen, könnte den emanzipativen Eruptionen Richtung, Dauerhaftigkeit und damit transformatorische, machtpolitische Relevanz geben.

Fast scheint es jedoch, als seien die Kritiker des Neoliberalismus seiner Propaganda selbst auf den Leim gegangen: Freie Märkte, Warenförmigkeit, Kapitalismus an allen Orten und in allen Poren. Als Umstürzler fühlt man sich schon mit der Feststellung, dass man damit nicht glücklich und an die Wand fahren wird. Kaum jemand schaut nach, ob sich die neoliberale Verkündigung im Einklang mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit befindet.

Hyperkritik und Resignation

So springen die sozialen Bewegungen von Hyperkritik zur Resignation und wieder zurück: einmal die Hoffnung auf das ganz Andere, Neue, auch wenn es oft nur neu verkleidetes Altes ist; dann wieder die Resignation, weil nirgends zu greifen ist, wie sich dieses Neue, Andere durchsetzen soll. „Haben sich, wie Marx sagt, ‚im Schoß’ der gesellschaftlichen Wirklichkeit inzwischen reale Ansätze und Potentiale einer alternativen Produktionsweise und Gesellschaftsform herausgebildet? Und worin besteht die alternative Reproduktionsordnung, Systemfunktionalität oder Wirtschaftsverfassung als Grundlage einer ersehnten höheren Zivilisation?“ (Horst Müller in „Von der Systemkritik zur gesellschaftlichen Transformation“, S. 160) Dieser Frage nachzugehen, war gewissermaßen der Arbeitsauftrags des Solidarwerkstattseminars „Sozialstaat und Gemeinwirtschaft in der Perspektive einer Systemtransformation“ mit Dr. Horst Müller (Nürnberg) am 9. April 2011 in Linz.

Der Philosoph Horst Müller betreibt das Internetportal www.praxisphilosophie.de und ist Herausgeber des aktuellen Sammelbandes „Von der Systemkritik zur gesellschaftlichen Transformation“. Die Praxisphilosophie knüpft an die Auseinandersetzung des jungen Marx mit Ludwig Feuerbach an. Die darin angelegte dialektische Aufhebung des Dualismus von Idealismus und Materialismus, objektiv und subjektiv, Determinismus und Willkür, wurde immer wieder aufgegriffen – etwa von Henri Lefebre, Ernst Bloch, Pierre Bourdieu oder auch Herbert Marcuse – blieb aber doch insgesamt an den Rand gedrängt. Begreift man/frau die darin keimende Emanzipationskraft, die Selbstbefähigung zur Überwindung von Zuständen, in denen die von Menschen geschaffenen Verhältnisse diesen selbst fremd gegenübertreten, verwundert dies nicht. Es wird auch verständlich, warum selbst radikal vorgetragene negatorische Kritik zur Affirmation des Bestehenden beiträgt, wenn sie das Objekt der Kritik nicht aus der gesellschaftlichen Praxis – auch der eigenen – begreifbar macht.

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Grundriss der sozialwirtschaftlichen Konstellation

Falsche Totalisierung und Übergangsperiode

Lässt sich eine Gesellschaft, in der regelmäßig mehr als die Hälfte des Sozialprodukts über öffentliche Kassen und damit in der Reinform über institutionelle Organe des Gemeinwesens organisiert werden, mit Begriffen wie Kapitalismus, Marktwirtschaft oder kapitalistische Marktwirtschaft auf den Punkt bringen? Horst Müller erkennt darin eine falsche Totalisierung. Diese missachtet die formationellen Wandlungen vom Industrie- zum Sozialkapitalismus und öffnet damit auch nicht den Blick für die „sozialwirtschaftliche Latenz im gegenwärtigen finalisierenden Stadium der Kapitalwirtschaft.“ (Horst Müller)

Dabei hat dieser nüchterne und engagierte Blick auf diese formationellen Wandlungen auch nichts zu tun mit versöhnlichen Legitimationstheorien unterschiedlichster Provenienz, sondern schärft erst den Sinn für die Widersprüchlichkeit der kapitalwirtschaftlichen Entwicklung und der damit verbundenen gesellschaftlichen Kämpfe. (In der gegenwärtigen Periode eröffnet sich damit erst der sozialreaktionäre Kern der neoliberalen Wende, als Anstrengung zur Behauptung gesellschaftlicher Hegemonie alter industriekapitalistischer Eliten. Gesellschaftlicher Fort- schritt kristallisiert sich nicht in der so genannten neoliberalen Globalisierung, sondern im damit in Widerstreit sich weiter ausdehnenden Bedeutung sozialwirtschaftlicher Dienste, Anm.: B.L.)

Mit den „sozialwirtschaftlichen Diensten“ konstatiert Horst Müller neben dem Konsum- und
 Produktionsgütersektor eine neue Hauptabteilung im Reproduktionskreislauf der Gesellschaft. Dabei geht es nicht bloß, wie heute oft gesagt wird, um „Daseinsvorsorge“, sondern um die „gemeinschaftlichen Existenzbedingungen“, um das „sozial-zivilisatorische Gehäuse“ für unsere Lebensentfaltung. Charakteristisch ist die Organisation dieser Dienste über öffentliche Kassen und damit eben ihre Nichtwarenförmigkeit. Unter den gegenwärtigen Bedingungen bleiben sie jedoch in einer marginalisierten, reprimierten Stellung gegenüber der Kapitalwirtschaft. (Augenfällig wird dies u. a., wenn im herrschaftlichen Diskurs ständig von Kostenexplosion bei Bildung, Pflege, Gesundheit gesprochen wird, während bei Autos, Flachbildschirmen u. a. der Nutzen in den Vordergrund gerückt wird., Anm.: B.L) 

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... geht um gemeinw. Existenzbedingungen
Die Auseinandersetzung um die „paritätische Inwertsetzung der sozialwirtschaftlichen Dienste“ bildet damit den Hauptinhalt der gesellschaftlichen Kämpfe in der Übergangsperiode. Während quasi die kapitalwirtschaftliche Profitlogik derzeit noch den Rahmen vorgibt, in dem die sozialwirtschaftlichen Dienste organisiert werden müssen,  muss eine Reproduktionsordnung durchgesetzt werden, in der die sozialwirtschaftlichen Dienste den Rahmen für vielfältige weitere wirtschaftliche Organisationsformen bilden.

Wissenschaftliche und praktisch - politische Herausforderung

Horst Müller erkennt in der werttheoretischen Grundlegung der Transformation zu einer Ökonomie des Gemeinwesens eine wichtige, ja notwendige wissenschaftliche Aufgabe. Ebenso wenig systematisch untersucht ist die Frage nach den sozialen und politischen Trägern eines Übergangs. Bedeutsam erscheint dabei die Fragestellung, inwieweit der Übergang zu einer demokratischen Gesellschaft auf sozialwirtschaftlicher Grundlage im Unterschied zu vergangenen Transformationen eine neue Qualität gesellschaftlicher Bewusstheit und damit demokratischer Steuerung zur Voraussetzung hat. Die traditionelle Frage nach der gesamtgesellschaftlichen Steuerung der Akkumulation wird durch die Frage nach der Relation zwischen individuellem Güterkonsum und dem Niveau der Bereitstellung und Nutzung gemeinschaftlicher Leistungen ergänzt, wenn nicht überlagert.

„Dagegen läuft die Entwicklung der EU auf die verstärkte Konstitutionalisierung einer neoliberalen Wirtschaftsverfassung hinaus, welche die nationale Souveränität unterminiert und demokratische Prozesse sabotiert, den Sozialstaat und die sozialwirtschaftlichen Dienste ihrem Diktat unterwirft und die notwendige wirtschaftliche und gesellschaftliche Transformation systematisch verhindert.“ (Horst Müller)

R. Boris Lechthaler-Zuljevic