„15 Stunden am Montag, 14 Stunden am Dienstag, 15 Stunden am Mittwoch, 16 Stunden am Donnerstag und 17 Stunden am Freitag: Milans Stundenlisten lesen sich wie aus seiner anderen Zeit. Er liefert im Auftrag eines Subunternehmes des Paketdienstleisters DPD in der Steiermark Pakete aus. Laut seinen Aufzeichnungen arbeitete er im April 2022 im Schnitt 15 Stunden pro Tag, bis zu 370 Kilometer legte er täglich zurück, für einen Nettolohn von rund 5,20 Euro pro Stunde. In den Monaten davor und danach sieht es nicht viel besser aus.“

So beginnt das Buch „Ausbeutung auf Bestellung“ von Johannes Greß. Es schildert anhand von vier ausgewählten Sparten – Paketzustellung, Essenauslieferung, Plattformreinigung und Forstarbeit – wie die Rechtlosigkeit, Sprachlosigkeit und Machtlosigkeit von MigrantInnen für ein höchst profitables Geschäftsmodell ausgenutzt wird.

Paketauslieferung: Nur die Spitze der Pyramide profitiert

Extreme Ausbeutung ist nicht vom Himmel gefallen, sondern Folge politischer Entscheidungen. So war etwa die Paketauslieferung ein Monopol des Universaldienstleisters Post AG. Die Liberalisierung des Postmarktes erfolgte durch eine Richtlinie der EU, die ab 2011 den Postmarkt für private Anbieter wie DPD, GLS, Amazon etc. öffnete. Um Kosten zu sparen und um konkurrenzfähig zu bleiben, verteilen diese Konzerne Aufträge an Sub-, Subsub- oder Leiharbeitsfirmen. Wer Aufträge an Subunternehmen auslagert, spart sich Kosten, da beispielsweise keine Transporter angeschafft werden oder Sozialversicherungsbeiträge bezahlt werden müssen. Die Sub- und Subsub-AuftragnehmerInnen stehen in brutaler Konkurrenz zueinander und unterbieten sich gegenseitig. Davon profitieren nur die Konzerne an der Spitze der Pyramide. Eine Preisliste von DPD zeigt: Der Schillingpreis aus den 1990er-Jahren entspricht ziemlich genau dem Paketpreis vom Mai 2023. Rausgequetscht werden die Profite aus der Hierarchie darunter, an deren unterstem Ende die Paketauslieferer sind, die 12 Stunden und mehr pro Tag schuften und dafür einen Hungerlohn kassieren.

 Essenszustellung: 3,20 Euro pro Bestellung

Ähnlich geht es bei Essenauslieferern wie Mjam bzw. Foodora zu, die zu 90 Prozent ihre Rider als freie Dienstnehmer arbeiten lassen. Für eine 50-Stunden-Woche, jeweils Montag bis Freitag von 11 bis 23 Uhr, verdient Elyer aus Iran (abzüglich Sprit) rund 1.000 Euro im Monat. Siar aus Afghanistan erzählt von 1.000 bis 1.200 Euro im Monat für eine 40-Stunden-Woche. Bei 3,20 Euro pro Bestellung bleibt nicht viel übrig. An Tagen, an denen er krank ist, bekommt er nichts. Beim Foodora-Konkurrenten Lieferando gibt es einen Kollektivvertrag – immerhin. 1.730 Euro im Monat, knapp über der Armutsgrenze verdienen sie dafür, dass sie bei jedem Wetter für die rasche Zustellung von Pizza und Burger in die Pedale treten – Schritt und Tritt per App überwacht. Und das Einkommen schwankt stark, weil ein Algorithmus ein Ranking erstellt. Und wer zu viele Pausen macht oder Wochenenddienste ablehnt, steigt im Ranking ab, sodass er/sie nicht genug Aufträge hat, um eine 40-Stunden-Woche zu füllen. 

Reinigungsplattformen: eklatantes Machtungleichgewicht

Ein besonderes Geschäftsmodell sind Internet-Plattformen, die vorwiegend migrantische Reinigungskräfte an Haushalte vermitteln. Eine „win-win-lose“-Situation wie Johannes Greß meint: „Plattformbetreiber verdienten gutes Geld damit, dass sich Besserbetuchte für ein paar Euro pro Stunde das Porzellan polieren lassen, während MigrantInnen zu prekären Bedingungen schuften.“ Eine Recherche auf den Plattformen hat einen durchschnittlichen Stundenlohn von 14,23 Euro ergeben, für die Reinigungskräfte ihre Arbeitskraft feilbieten. Der tatsächliche Stundenlohn liegt weit darunter: Anreise- und Rückreisezeit, Leerzeiten zwischen  den Aufträgen werden nicht vergütet, zumeist wird schwarz bezahlt, die Arbeitsverhältnisse sind also mit keinem sozialen Sicherungsnetz verbunden. Eine schlechte Bewertung durch KundInnen, weil nicht schnell genug auf eine Anfrage geantwortet oder ein Termin krankheitsbedingt abgesagt wird, kann existenzgefährdend sein. Sie sind Ausdruck eines eklatanten Machtungleichgewichts zwischen den KundInnen und den Reinigungskräften, die in unmittelbarer Konkurrenz zueinanderstehen und leicht gegeneinander ausgespielt werden können.

Forstarbeit: „Pro 100.000 Festmeter Holz ein Toter“

Während Reinigungsarbeit nahezu ausschließlich weiblich ist, ist ein anderer Bereich, in dem migrantische Arbeit zu Billigstlöhnen ausgebeutet wird, nahezu ausschließlich männlich: Forstarbeit in Österreichs Wäldern. Sie ist hart und gefährlich. Zwischen 2017 und Jänner 2024 verunglückten in Österreich insgesamt fast 200 Menschen bei Forstarbeiten, jährlich werden rund 1.600 schwer verletzt ins Krankenhaus eingeliefert. Branchenintern kursiert eine zynische Formel: „Pro 100.000 Festmeter Holz ein Toter.“ Auffallend oft sind die Opfer rumänischer Herkunft. Die Branche gilt als undurchsichtig und verschwiegen. Als Leg Baciu aus dem Bezirk Bistrita-Nasaud in Rumänien in einen Bus nach Salzburg einstieg, wurden ihm neben Unterkunft und Essen bis zu 1.800 Euro monatlich versprochen, für acht bis neun Stunden pro Tag. Die Realität sah anders aus: In der Unterkunft funktionierte weder Gas noch Strom, es gab weder Warmwasser noch etwas zu essen. Der Chef kommt am nächsten Tag mit einem Stapel Papieren auf Deutsch, niemand hätte gewusst, was sie unterschreiben. Gearbeitet hat er und seine Kollegen laut Aufzeichnungen von Montag bis Samstag je 10 Stunden, teilweise auch sonntags. Statt 1.800 erhielt er im ersten Monat 950 Euro – das sind 4,50 Euro pro Stunde. Als sich Baciu beschwert, wird er gekündigt und verliert auch seine Unterkunft.

Wie Baciu geht es vielen, die der Armut in Rumänien entfliehen wollen. Einer der Gründe für diese Praktiken ist der verstärkte wirtschaftliche Druck, der auf der Branche lastet. Infolge des EU-Beitritts wurden die Österreichischen Bundesforste (ÖBF) 1997 in eine Aktiengesellschaft umgewandelt. Eine Kostensenkung konnte erzielt werden, indem die Zahl der direkt bei den ÖBF Angestellten von 6.000 auf 965 im Jahr 2022 gesenkt wurde. Die Arbeit wurde kostengünstig auf externe Privatfirmen ausgelagert, die ihrerseits bei den Löhnen, Sozial- und Sicherheitsstandards sparten - auf Kosten migrantischer Arbeiter, die sich kaum wehren konnten.

36 Prozent sind armuts- und ausgrenzungsgefährdet

Die Ausbeutung migrantischer Arbeitskraft hält in vielen Bereichen Österreich am Laufen, von der 24-Stunden-Pflege bis zum Bausektor, von Zustelldiensten bis zur Fleischverarbeitung, von der Ernte- bis zur Sexarbeit. 1,7 Millionen, das sind 19 Prozent der österreichischen Bevölkerung haben einen Geburtsort außerhalb Österreichs. Im Schnitt verdienen sie 23 Prozent weniger als Menschen mit österreichischer Staatsbürgerschaft; Staatsbürger der neuen EU-Mitgliedstaaten verdienten 31 Prozent, türkische Arbeitskräfte 32,4 Prozent und Drittstaatsangehörige 40,7 Prozent weniger. 36 Prozent der „Nicht-ÖsterreicherInnen“ sind armuts- und ausgrenzungsgefährdet im Vergleich zu 13 Prozent der inländischen Bevölkerung. Ihre Stimmen zählen nicht, weil sie oft keine Staatsbürger - und damit nicht wahlberechtigt - sind, obwohl sie oft schon Jahrzehnte hier leben und arbeiten. In Wien ist schon ein Drittel der Menschen nicht wahlberechtigt. 

Um die Krümel streiten

Prekär zu arbeiten hat viele soziale, physische und psychische Folgen für die Betroffenen. „Prekarisierung erhöht das Risiko von Stress, Depressionen und Diabetes“, es führt zu „gesellschaftlicher Isolation, sexuellen Problemen, Ehekonflikten und einem Teufelskreis aus Verzweiflung“, schreibt der Arbeitsökonom Guy Standing. Doch betroffen ist die ganze Gesellschaft. Sie trägt die Lasten prekärer Arbeit in Form von entgangenen Steuern und Sozialversicherungsleistungen. Johannes Greß beschreibt die wirklichen Gewinner - und wie mit Hilfe des Rassismus davon abgelenkt wird: „Von den prekären Arbeitsbedingungen profitiert in erster Linie das Kapital. … Wenn ich möglichst unbemerkt die meisten Kuchenstücke für mich haben will, sorge ich dafür, dass sich die anderen um die Krümel streiten. Im Rahmen der bereits beschriebenen Arbeitsverhältnisse geht‘s um die Verschiebung eines sozialen (vertikalen) Konfliktes (zwischen Kapital und Arbeit) hin zu einem kulturellen oder ethnischen (horizontalen) Konflikt (zwischen In – und AusländerInnen).“ 

Mit den Regelungen der EU zur grenzüberschreitenden Arbeitsmigration wurden „ideale Bedingungen für Unternehmen geschaffen, sich das Lohngefälle innerhalb der EU zunutze zu machen.“ In Österreich hat der EuGH mitgeholfen, das europaweit strengste Lohn- und Sozialdumping-Bekämpfungsgesetz auszuhebeln. Die schwarz-grüne Regierung schaffte 2021 das Kumulationsprinzip ab (Bestrafung nach geschädigtem Lohnabhängigen statt pauschal), nachdem der EuGH befunden hatte, dass durch die Strafen des Anti-Dumpinggesetzes „der freie Dienstleistungsverkehr in der EU beschränkt“ werde.

Organisationsmacht und institutionelle Macht stärken

Im letzten Kapitel liefert Johannes Greß eine Reihe wertvoller Hinweise, wie Gewerkschaftsarbeit sich erneuern kann, um Organisationsmacht zu gewinnen. Im Zentrum muss dabei stehen, prekär arbeitende MigrantInnen als politische Subjekte anzuerkennen, sie zu ermächtigen und mit ihnen zu kämpfen. „Social Movement Unionism“ begreift Gewerkschaften als Teil einer sozialen Bewegung, die kapitalistische Ausbeutung und Unterdrückung in sämtlichen Lebensbereichen bekämpft – in der Arbeitswelt, beim Wohnen, bei der Verkehrspolitik im Stadtteil. Interessenspolitik für den „ganzen Menschen“ braucht eine kluge Bündnispolitik, die Kämpfe in der Arbeitswelt mit ökologischen und antirassistischen Kämpfen verbindet, um ethnische und kulturelle Bruchlinien zu überwinden. Die Gewerkschaftsarbeit muss zur Konfrontation bereit sein und zugleich die Unterstützung einer breiten Bevölkerung gewinnen.

Diese Organisationsmacht muss übersetzt werden in institutionelle Macht, die die Rechte in Kollektivverträgen und Gesetzen absichert. 

Dazu zählen z.B.:

  • Direktanstellungsgebot, Verbot der Vergabe von Aufträgen an Subunternehmen
  • Mehr Ressourcen für Kontrollbehörden
  • Änderung des Arbeitsverfassungsgesetzes, um die „Schutzbedürftigkeit“ von Freien DienstnehmerInnen und Selbstständigen zu verankern
  • Erleichterter Zugang zu Staatsbürgerschaft und Wahlrecht

Abschließend ruft Johannes Greß auf :

Dazu gehört freilich auch, den Ausstieg aus einer Verfassung im Auge zu behalten, die „(EU-Vertrag) zum heiligen Gral erklärt. Mit dieser persönlichen Anmerkung sei dieses Buch wärmstens zum Lesen empfohlen.