Abbau von Spitalsbetten, Pflegenotstand, viel zu große Kindergruppen in Kindergärten, Pensionsverschlechterungen, Kürzungen bei der Mindestsicherung, mangelnder sozialer Wohnbau, marode öffentliche Infrastrukturen … was haben alle diese Missstände gemeinsam? Es ist etwas, worüber in unseren Medien kaum ein Wort verloren wird: der EU-Fiskalpakt.

Dieses Regelwerk, das 2012 in Form eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen den Euro-Mitgliedsstaaten beschlossen wurde, hatte weitreichende Auswirkungen auf die Budgetpolitik der betroffenen Staaten. In ein komplexes technokratisches Regelwerk ist eine hochpolitische Agenda verpackt, die der damalige EZB-Chef Mario Draghi in einem Interview mit dem Wallstreet-Journal schnörkellos ausgeplaudert hat: Es gehe darum, „das Modell des europäischen Sozialstaats zu einem Auslaufmodell zu machen.“

„Auslaufmodell Sozialstaat“

Es gibt einige Hebel in diesem Pakt, um diese neoliberale Agenda durchzuboxen: So darf das „strukturelle Defizit“ des Staatshaushalts nicht größer als 0,5% des BIP sein. Was als „strukturelles Defizit“ gilt, ist höchst dehnbar. Die Definitionsmacht darüber hat die EU-Kommission. Wer in ihren Augen gegen diese Regel verstößt, muss sich einem „Strukturanpassungsprogramm“ unterwerfen, das zumeist aus einer Kombination von Sozialabbau, arbeitnehmerfeindlichen Arbeitsmarktreformen und Privatisierungen besteht. Ansonsten drohen dem „Defizitsünder“ hohe Strafzahlungen bis zu 0,5% des BIPs. Der Fiskalpakt hebelt also das Königsrecht jedes demokratischen Parlaments aus: nämlich die Entscheidung über die Einnahmen und Ausgaben des Staates. Der gewerkschaftsnahe Wirtschaftswissenschaftler Stephan Schulmeister warnte deshalb seinerzeit eindringlich davor, dass der Fiskalpakt dazu führen werden, „die Budgethoheit auf die EU-Kommission übergehen zu lassen“ und „den Sozialstaat zu strangulieren“. (Frankfurter Rundschau, 28.5.2012).

Austerität auf Jahrzehnte?

Über eine weitere Regel im EU-Fiskalpakt kann die Austeritätspolitik auf Jahrzehnte einzementiert werden: die sogenannte Zwanzigstel-Regel. Diese besagt, dass jener Teil der Gesamtverschuldung des Haushalts, der 60% des BIPs übersteigt, jedes Jahr um ein Zwanzigstel reduziert werden muss. Was hieße das für Österreich derzeit konkret? Österreichs Gesamtverschuldung liegt derzeit aufgrund der Coronakrise bei über 80% des BIPs. D.h. in den nächsten 20 Jahren müsste alleine aufgrund dieser Zwanzigstel-Regel Jahr für Jahr ein Prozent des BIPs an Schulden abgebaut werden. Das könnte – je nach BIP- bzw. Zinsentwicklung – massive Einschnitte in den öffentlichen Haushalten bedeuten. Ein Prozent des BIPs sind in Österreich immerhin vier Milliarden Euro. Eine gravierende Sozialabbaupolitik könnte die Folge sein, die sich selbst verstärkt, weil eine sinkende öffentlichen Nachfrage auch das BIP nach unten zieht.

Teile und Herrsche

Aufgrund der Corona-Krise wurden die Regeln des Fiskalpakts vorübergehend ausgesetzt. Ab 2023 sollen sie jedoch wieder voll in Kraft treten. Die EU-Kommission hat bereits im September 2020 den EU-Staaten in einer „technischen Note“ Ratschläge erteilt, wie Widerstände in der Bevölkerung gegen die Austeritätspolitik gebrochen werden können. Die Tipps sind nicht originell: Unpopuläre Maßnahmen sollten unmittelbar nach den Wahlen durchgezogen werden, man soll sie durch vorgeblich unabhängige Wissenschaftler verkaufen lassen und die Betroffenen sollten durch eine geschickte Teile-und-Herrsche-Strategie so auseinanderdividiert werden, dass kein gemeinsamer Widerstand entsteht. Denn betroffen seien schließlich viele. Das Kommissionpapier listet auf: „Arbeiter, Rentner, Beschäftigte im öffentlichen Dienst, Kranke und Familien mit Kindern.“ Kurzum: die Mehrheit der Bevölkerung (siehe hier).

Widerstand „der BürgerInnen erste Pflicht“

Wir werden uns wehren müssen, wenn wir nicht ab kommendem Jahr wieder in das neoliberale Räderwerk des Fiskalpakts geraten wollen. Denn wenn eines die verschiedenen Krisen der letzten Jahre – Wirtschafts-, Klima-, Pandemiekrise – gezeigt haben: Die neoliberale Kahlschlagspolitik ist krachend gegen die Wand gefahren. Wir brauchen eine nachhaltige Ausweitung der öffentlichen Budgets für Gesundheit, Pflege, Soziales, Bildung, öffentlichen Verkehr, Umweltschutz uvm., um eine sozial gerechte, klimafreundliche und friedliche Entwicklung zu gewährleisten. Stephan Schulmeister meinte 2012, als die Einführung des EU-Fiskalpakts vor der Tür stand, der Widerstand dagegen sei „der BürgerInnen erste Pflicht“. Angesichts der drohenden Wiederinkraftsetzung dieses Pakts gilt das nicht weniger.

(Werkstatt April 2022)