Heuer begehen die politischen Eliten, die Publizisten und medialen Meinungsmacher des Establishments ihr großes Jubiläumsfest. Vor 30 Jahren trat Österreich der Europäischen Union bei. Wahrlich, es ist nur ihr Fest und sie feiern sich selbst. Für uns, jene die der EU und ihrer Politik seit je her kritisch bis ablehnend gegenübergestanden sind und mehr denn je gegenüberstehen, ist dieses Jubiläum nichts zu feiern, sondern einmal mehr Anlass, nüchtern-kritisch bisheriges Fazit zu ziehen.


Es gibt viele Politikfelder, wo man sich mit der EU kritisch auseinandersetzen soll und muss. Sei es nun die Frage einer undemokratischen Konstitution, die Kriegs- und Aufrüstungspolitik, die aggressiv-neoliberalen Außenhandelspolitik gegenüber Dritten oder auch eine völlig gescheiterte Migrationspolitik. Ein ganz wesentlicher Aspekt kommt jedoch in der kritischen Auseinandersetzung mit der EU meistens zu kurz: Die politische Ökonomie. Vor allem, wie diese die recht spezifische politische Ökonomie Österreichs durch den Anschluss an die EU verändert hat.

Dazu gibt es durchaus einschlägige Literatur. Ein sehr lesenswertes Werk stellt dabei das Buch „Politische Ökonomie Österreichs - Kontinuitäten und Veränderungen seit dem EU-Beitritt“, herausgegeben von BEIGEWUM, Mandelbaum Verlag 2015, dar.

Das Buch sammelt Beiträge von unterschiedlichen Autorinnen und Autoren und führt gut strukturiert durch folgende Aspekte:

  • Veränderungen im Akkumulations- und Entwicklungsmodell Österreichs: Die Makroperspektive und die Sektoren
  • Veränderung des politischen Modells und der Politikfelder
  • Wer sind die GewinnerInnen und VerliererInnen

Da das Buch bereits 2015 herausgegeben wurde, sind die Entwicklungen der letzten 10 Jahre klarerweise nicht darin abgebildet. Dennoch gibt es einen sehr guten Überblick über die gewaltige Zäsur, die der EU-Beitritt für das ökonomische, soziale und politische Modell Österreichs darstellte und welche Weichenstellungen seither durchgeführt wurden.

Vor dem EU-Beitritt bzw. dessen nötigen politischen und wirtschaftlichen Vorleistungen war Österreich eine nur mäßig offene Ökonomie mit einem verhältnismäßig starken öffentlichen Sektor bzw. einer teilverstaatlichten Industrie, dominanten Gewerkschaften im Rahmen der Sozialpartnerschaft und einer Sozialdemokratie, die sich bis Mitte der 1980er Jahre EG/EU-skeptisch zeigte und einen sozialsouveränen national-keynesianistischen Weg inklusive EFTA-Orientierung einer Integration in ein supranationales Konstrukt bevorzugte. Die Autoren zeichnen sehr schön nach, dass der interne Druck, sich der EU anzuschließen, in erster Linie von den großen privaten Kapitalfraktionen, institutionalisiert in der Industriellenvereinigung, ausging. Selbst in der ÖVP gab es Skepsis z.B. im Wirtschaftsbund, wo die Benachteiligung kleinerer österreichischer Unternehmen in einem Konkurrenzregime gegenüber großen u.a. deutschen Monopolen und transatlantisch organisierten Konzernen befürchtet wurde. Ähnliche kritische Stimmen kamen aus der kleinstrukturierten Bauernschaft und der Umweltbewegung hinsichtlich der zu erwarteten Steigerung des LKW Transits.

Akteure

Das Buch beschreibt nachvollziehbar, dass zur Durchsetzung der „Pro-EU-Stimmung“ im allgemein integrationsskeptischen Österreich der Sozialdemokratie und dem ÖGB eine wesentliche Rolle zukamen und der Prozess der Neoliberalisierung Österreichs durch den EU Beitritt, der Schwächung der Sozialpartnerschaft und der Gewerkschaften, der Privatisierung und Liberalisierung und des Sozialabbaus ein sich gegenseitig bedingender, dialektischer war, der sehr wohl auch von nationalen Akteuren und deren Interessen massiv vorangetrieben wurde. Die These „Österreich als Opfer der EU“ ist daher so nicht haltbar. Vielmehr wurde die Arbeiterbewegung und ihre Institutionen geschwächt. „In den westeuropäischen Staaten waren die EU-Strukturen ein privilegierter Weg zur Durchsetzung bzw. Zementierung neoliberaler Politikmuster. Es gibt für die 80er und 90er Jahre auch eine Reihe von Hinweisen dafür, dass sich nationale politische Eliten der europäischen Ebene bedienten, um innenpolitisch schwer oder nicht durchsetzbare Projekte zu implementieren“ (S.13/14).

Schwächung der arbeitenden Mehrheit

Mit dem EU-Beitritt hat sich „die Machtbalance zugunsten des internationalisierten Kapitals verschoben.“ (S.15). Die auf Exportüberschüsse angelegte Logik, die durch die EU-Politik zusätzlich forciert werde, sei für die Aushandlungsmechanismen zunehmend bestimmend und auf betrieblicher Ebene sei eine Erosion gewerkschaftlicher Macht bereits unverkennbar.

Im ökonomischen Kontext der „österreichischen Rolle“ betrachtet, hat sich das Land in den letzten 3 Jahrzehnten über die industrielle Exportproduktion und eine „stark außenorientierte Finanzialisierung“- Aufbau eines umfassenden Netzes von Tochterbanken in Osteuropa und rasch steigende Kreditvergaben- in eine EU-europäische Arbeitsteilung eingefügt. Der industrielle Sektor ist noch stärker als zuvor Zulieferer der deutschen Exportindustrie, was Österreich nun - das wurde 2015 in diesem Buch klarerweise noch nicht bearbeitet - im Zuge der „deutschen Krise“ spürbare Nachteile und Verwerfungen in Industrie und Arbeitsmarkt bringt.

Seit dem EU-Beitritt und der Liberalisierung des Arbeitsmarktes stieg nicht nur Lohn- und Sozialdruck durch die Niederlassungsfreiheit, sondern auch die massive Zunahme prekärer und atypischer Beschäftigungsverhältnisse und Leiharbeit.

Fazit

Dieses Buch stellt eine sehr hilfreiche Sammlung sozialpolitischer und ökonomischer Analysen dar und untermauert in vielen Feldern die Kritik an der EU und deren Charakter, die auch u.a. seitens der Solidarwerkstatt Österreich seit Jahrzehnten formuliert wird. Das Buch stellt eine gute und seriöse Grundlage für eine gründliche EU-Kritik dar. Wie man nun mit dem Konstrukt EU nun umgehen soll und welche politischen Perspektiven es, v.a. bezüglich der kommenden massiven sozioökonomischen Verwerfungen vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges und der Zuspitzung der internationalen EU-Wirtschaftskriege, gibt, lässt dieses Buch offen. Das hat sicher einerseits damit zu tun, dass etliche der Autoren weiter der Idee einer möglichen „sozialen Reformierbarkeit“ der EU anhängen bzw. zum Zeitpunkt des Erscheinens des Buches gewisse zentrale Entwicklungen seither noch nicht klar absehbar waren.

David Stockinger

Umverteilung von unten nach oben

Der EU-Beitritt hat die Kapitalseite enorm gestärkt und eine massive Umverteilung von unten nach oben gebracht. Während vor dem EU-Beitritt eine produktivitätsorientierte Lohnpolitik galt, in der die Löhne und Gehälter mehr oder weniger im Ausmaß der Produktivität wuchs, setzte mit dem EU-Beitritt das Primat der „offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“ ein. Die Grafik zeigt: Die durchschnittlichen ArbeitnehmerInnen-Einkommen pro Kopf werden von der Wirtschaftsleistung (BIP pro Erwerbstätigen) abgekoppelt. Der Allgemeine Einkommensbericht des Rechnungshofes 2024 zeigt auf, dass die inflationsbereinigten mittleren Bruttojahreseinkommen zwischen 1998 und 2023 um zwei Prozent gesunken sind, die Nettojahreseinkommen sind im diesem Bereich stagniert. Daran sollte man sich erinnern, wenn wieder einmal verkündet wird, dass „wir alle vom EU-Beitritt so profitiert haben.“

Verteilung Löhne EU