ImageJoachim Guilliard, Friedensaktivist und Journalist aus Heidelberg (BRD), referierte bei Veranstaltungen der Solidar-Werkstatt am 22.11. in Wien und am 23.11.2012 in Linz zum Thema "Syrien: Die Gewaltspirale durchbrechen!". Das WERKTATT-Blatt führte mit ihm das folgende Gespräch.


WERKSTATT-Blatt: Der Deutsche Bundestag hat die Entsendung von Patriot-Raketen an die türkisch-syrische Grenze beschlossen. Wie bewertest Du diesen Beschluss?

Joachim: Die Entsendung der NATO-Raketen ist selbstverständlich ein neuer Eskalationsschritt, ein weiterer Schritt hin zu einer direkteren, militärischen Intervention. Selbst wenn die offizielle Begründung stimmen würde, die Stationierung diene allein dem Schutz vor syrischen Angriffen, so wäre sie keineswegs defensiv. Da die FSA im türkischen Grenzgebiet ihre wichtigsten Basen hat und von hier aus syrische Stellungen angreift, sind sie automatisch Teil der von hier aus ausgehenden Aggression.

Da aber niemand ernsthaft annimmt, die syrische Regierung könne so blöd sein und Angriffe gegen die Türkei fliegen, stecken vermutlich viel gefährlichere Absichten dahinter. Zum einen trägt sich die NATO schon lange mit Plänen, sogenannte „Sicherer Häfen“ auf syrischem Territorium einzurichten. d.h. syrisches Territorium jenseits der Grenze zu erobern und zu sichern. Offiziell sollen so Zufluchtsorte für Flüchtlinge geschaffen werden, faktisch wären dies jedoch Brückenköpfe für die verbündeten syrischen Freischärlerverbände. Patriot-Raketen könnten dann eine wichtige Rolle bei der Abwehr von syrischen Luftangriffen auf diese Brückenköpfe spielen. Sie könnten aber auch für die Durchsetzung einer Flugverbotszone über nördlichen Teilen Syriens dienen, um FSA-Milizen zu helfen, aus eigener Kraft dauerhaft größere Gebiete unter Kontrolle zu bringen.

Der vom Bundestag, mit den Stimmen aller Parteien – mit Ausnahme der Linkspartei – abgesegnete Beschluss, deutsche Truppen in die Nähe der syrischen Grenze zu verlegen, bedeutet, dass die führenden Kreise in Deutschland diesmal entschlossen sind, an vorderster Front mitzumischen.

WERKSTATT-Blatt: Warum drängen die westlichen Großmächte derart vehement auf einem „Regime Change“ in Syrien?


Joachim: Syrien ist der letzte arabische Staat, der noch einen eigenständigen Kurs fährt und der wichtigste Verbündete des Iran. Der Iran wiederum besitzt die drittgrößten Öl- und die zweitgrößten Gasreserven der Welt. Er wurde durch die umfassende Zerstörung des Iraks, seines stärksten Rivalen, massiv gestärkt und stieg zur führenden Regionalmacht auf – aus Sicht der führenden NATO-Mächte wie auch der Golfmonarchen ein inakzeptabler Zustand. Im Kern geht also es um die Vorherrschaft in einer der geostrategisch und wirtschaftlich wichtigsten Regionen, in der der größte Teil der weltweiten Öl- und Gasreserven liegt. Das zielt zunächst vor allem auf den Iran, letztlich geht es aber auch darum, die Konkurrenten Russland und China zurückzudrängen.

WERKSTATT-Blatt: Wie bewertest Du die syrische Opposition?

 

Joachim: Die „syrische Opposition“ gibt es natürlich nur in der Phantasie westlicher Medien. Wie überall reicht das Spektrum der Regierungsgegner von erzreaktionären über neoliberale bis zu linken Kräften. Am stärksten und am besten organisiert sind in Syrien die von Katar und Saudi Arabien unterstützen islamistischen Gruppierungen, allen voran der syrischen Ableger der Muslimbruderschaft. Sie dominieren auch die FSA und den „Syrischen Nationalrat“. Letzerer von der NATO, nach dem Vorbild des libyschen „Übergangsrat“ kreiert, besteht überwiegend aus der prowestlichen Auslandsopposition. Er wurde im Westen bis vor kurzem noch als der Repräsentant der gesamten Opposition behandeln. Da das Bild nicht länger haltbar war, wurde er durch die neu gebastelte „Nationale Koalition“ ersetzt. Die neuen Führungsfiguren sind reichlich unbekannt, dafür aber noch unbelastet – ansonsten ist es dasselbe in grün.

Daneben gibt es die breitgefächerten, innersyrische Bewegung für mehr Demokratie etc. die hierzulande das Bild bestimmen. Diese zerfällt im Wesentlichen in zwei Lager. Die Gruppen des ersten Lagers sprechen sich zwar gegen Gewalt und ausländische Intervention aus und an sich auch für eine politische Lösung, weigern sich aber mit der amtierenden Regierung zu verhandeln. Sie bestehen nachwievor kompromisslos auf deren Abgang als Vorbedingung für jeglichen Dialog. Und trotz der verheerenden Folgen der bewaffneter Angriffe und des offensichtlich terroristischen Charakters vieler Aufständischer, behandeln sie die FSA als Verbündete. Damit setzen sie faktisch auf eine Fortsetzung des Krieges. (siehe Syrien – aus der Opposition keine Rettung in Sicht)Leider sind es genau diese Gruppen, die von linken und links-liberalen Sympathisanten einer „Syrischen Revolution“ unterstützt werden.

Dabei gibt es durchaus zahlreiche oppositionelle Parteien und Organisationen die sich bereits seit Monaten für Verhandlungen einsetzen, ohne unhaltbare Vorbedingungen zu stellen. Vermutlich ist dies das größere Lager. Zu diesen gehören beispielsweise die Bewegung „Den Syrischen Staat aufbauen“ um Louay Hussein und Mouna Ghanem und die „Volksfront für Wandel und Befreiung“ mit Kadri Jamil und Ali Haidar an der Spitze. Letztere nahm auch an den Wahlen im Mai teil, ihre beiden Vorsitzende sind seither in der Regierung – der marxistische Ökonom Jamil als Minister für Verbraucherschutz, Haidar als Minister für Nationale Versöhnung. (siehe Eine weitere Oppositionskonferenz in Damaskus: für Frieden und daher ignoriert)

Von diesen Organisationen hört und liest man, sieht man von der jungen Welt und dem Neuen Deutschland ab, hierzulande nichts.

WERKSTATT-Blatt: In Syrien ist es unter dem Eindruck der Massenproteste zu einigen politischen Veränderungen gekommen, z.B. Referendum über eine neue Verfassung, Wahlen mit mehr Parteien, Freilassung von Gefangenen. Sind das nur kosmetische Veränderungen oder doch substantielle Ergebnisse?  

Joachim: Eine faire Beurteilung ist unter den Bürgerkriegsbedingungen kaum möglich. Es gibt durchaus substantielle Veränderungen, wie die Staatsbürgerschaft für Kurden und liberale Medien-  und Parteiengesetze. Auch die Aufhebung des Ausnahmezustandes, der jahrzehntelang herrschte, war sicherlich ein bedeutender Schritt. Anderseits ist davon aktuell vermutlich in den Zentren der Auseinandersetzungen wenig zu spüren. Im Bemühen, die Bedingungen für Verhandlungen zu schaffen, wurden jedoch bereits die meisten politischen Gefangenen freigelassen. Vor allem der erwähnte Ali Haidar setzt sich hier wohl sehr stark und auch erfolgreich ein.

Die neue Verfassung hat durchaus einige Forderungen der anfänglichen Protestbewegung umgesetzt, insbesondere wurde die bisher in Paragraph 8 festgeschriebene führende Rolle der Baath-Partei durch ein Bekenntnis zum pluralistischen Parlamentarismus ersetzt, sowie Menschenrechtsgarantien und eine klarere Gewaltenteilung aufgenommen. Wie bereits erwähnt, haben bei den folgenden Wahlen einige oppositionelle Parteien teilgenommen und auch Sitze errungen. Die ungleich günstigeren Ausgangsbedingungen der Baath-Partei dabei, wurden jedoch mit der Änderung des Paragraphen 8 natürlich nicht beseitigt.

Auch die Prinzipien der Baath-Partei  „Einheit, Freiheit und Sozialismus“ wurden gestrichen. Oppositionelle kritisieren nun aber, dass nachwievor 50% der Parlamentssitze für Arbeiter und Bauern reserviert bleiben und weiterhin die Rohstoffe und die Rohstoffförderung wie auch kommunale Versorgungsunternehmen öffentliches Eigentum bleiben.

WERKSTATT-Blatt: Derzeit wird in unseren Medien der Eindruck erweckt, Syrien wolle Chemie-Waffen einsetzen? Wird hier an einem Interventionslegitimation á la Irak gebastelt?


Joachim: Eindeutig. Es gibt keine ernstzunehmende Hinweise dafür und abgesehen davon, sind Chemie-Waffen auch absolut ungeeignet für den Kampf gegen Aufständische. Angesichts der fließenden Kampflinien würden dadurch ja nicht nur Gegner sondern auch die loyalen Teile der Bevölkerung getroffen.

Auch viele Experten in den USA und Brüssel warnen vor einer „Hysterie“, die – ähnlich wie vor 10 Jahren gegen den Irak – nur entfacht werde, um eine militärische Intervention rechtfertigen zu können. (siehe Experts skeptical Syria is preparing to use its chemical arsenal, McClatchy Newspapers, 7.12.2012). Selbst ein Sprecher der FSA gab an, die USA und die EU würden die Geschichten über chemische Waffen in Syrien nur „fabrizieren“, um ein Tor für einen Einmarsch ohne UN-Mandat zu schaffen. [1] 

Diese Zweifel entschärfen die „Hysterie“ jedoch nur bedingt, da parallel ja weiterhin auch die Gefahr beschworen wird, dass die Chemiewaffen in die Hände von Aufständischen und letztlich gar von al Qaeda fallen könnten.

So oder so: indem ständig das Gespenst „Chemiewaffen“ an die Wand gemalt wird, wird die Assad-Regierung weiter dämonisiert und die Akzeptanz für direkte Militäreinsätze geschaffen. Eine reale Gefahr besteht daher auch darin, dass Assad-Gegner irgendwelche Formen von Giftgas einsetzen, um eine Intervention anzutriggern. Die entsprechenden Warnungen des syrischen und des russischen Außenministers sind ernst zu nehmen.

WERKSTATT-Blatt: Was kann bzw. muss Deiner Meinung nach die Friedensbewegung hierzulande tun, um einen Beitrag zur Überwindung der Gewaltspirale in Syrien zu leisten?

Joachim: Da der Krieg vor allem von außen angeheizt wird, zu einem erheblichen Teil von den EU-Staaten und den USA, sollten wir hier natürlich auch ansetzen. Wir müssen gegen die offene und verdeckte Unterstützung aufständischer, z.T. eindeutig terroristischer Kräfte protestieren sowie gegen alle Vorbereitungen einer direkten Militärintervention. Wir müssen aufzeigen, wer tatsächlich bisher alle Ansätze für eine politische Lösung, wie der Friedensplan von Kofi Annan oder die Genfer Vereinbarung über die Bildung einer Übergangsregierung torpedierte und welche Interessen tatsächlich dahinter stehen.

Wir sollten auch dafür sorgen, dass die Teile der Opposition, die für eine politische Lösung, für Dialog und Kompromisse sind